Ein Friedenswerk im Völkerringen – Kriegserinnerungen von Dr. Josef Schofer I

Über den Weltkrieg sind schon ziemlich viel Bücher erschienen. Die meisten berichten von dem kriegerischen Geschehen, die einen mehr von der Strategie, die andern mehr von den furchtbaren Opfern. Nur wenige erzählen direkt von der seelischen Welt im Völkerringen. Wo man solchen Versuchen begegnet, hat man da und dort den Eindruck, daß die geschichtliche Wahrheit nicht in allweg zur Geltung gelangt.

Es liegt in der Natur der Sache, daß der Feldgeistliche die seelische Welt zu beobachten besonders in der Lage war. Freilich, auch er war auf einen kleinen Ausschnitt aus dem ganzen angewiesen; allein, die Aussprachen, auch Konferenzen mit anderen erweiterten das Blickfeld und ergänzten und bereicherten die selbstgewonnenen Erkenntnisse. So dürften auch die Kriegserinnerungen eines Feldgeistlichen allgemein einiges Interesse bieten.

Von vielen Kameraden wurde der Wunsch ausgesprochen, ich sollte zur Feder greifen und meine Kriegserinnerungen niederschreiben und vorlegen. Diese Anregungen haben auf mich Eindruck gemacht. So habe ich denn meine Tagebücher und die spärlichen Aktenblätter gemustert und mich entschlossen, meine Kriegserinnerungen in schlichter Form dem Volke zu erzählen. Von der Seelsorge gehe ich aus und der Seelsorge zu nutzen ist eines meiner Ziele.

Nun soll die Erzählung auch einen Namen haben. So will‘s die Ordnung. Gut, dann sollen die schlichten Erinnerungen, die ich meinen Kameraden widmen möchte, die Überschrift haben: Ein Friedenswerk im Völkerringen.

1. Die Schicksalsstunde schlägt.

Die Kunde von der furchtbaren Mordtat in Sarajewo, die mich bei einer Pastorellen Aushilfe an der Liebfrauenkirche in Mannheim traf, ließ den entsetzlichen Ernst der Lage alsbald erkennen. Die Hoffnungen, daß der Friede erhalten bleibe, waren mehr auf dem lockeren Boden der frommen Wünsche, als auf dem Felsenfundament der sicheren Tatsachen aufgebaut. Die Verhandlungen der Staatsmänner führten tatsächlich in den Weltkrieg hinein. Damit war vorab meiner Vereinsarbeit ein jähes Ende bereitet; andere seelsorgerliche Aufgaben drängten dafür bald heran.

Tausende und Tausende folgten dem Ruf des Vaterlandes zu den Waffen. Freiburg war nicht der letzte Sammelplatz. Einquartierungen kamen und gingen. Noch nie sah ich allenthalben eine so hochgehende vaterländische Begeisterung; wohl alle im Volke erblickten in dem Krieg eine Abwehrmaßnahme zur Rettung des Vaterlandes; niemand unter uns dachte an Eroberungen. So stand es im gewöhnlichen Volk.

Die geographische Lage von Baden hatte unser Heimatland dem Krieg gleich zu Beginn unheimlich nahe gebracht. Gegenüber dem Oberelsaß und nur durch den Rhein getrennt von dem Vorstoß der Franzosen von Belfort her, liegt das badische Oberland. Es wäre, wenn ein französischer Übergang über den Rhein gelungen wäre, dem ersten Anprall des feindlichen Einmarsches ausgesetzt gewesen. Ehe aber noch die Stimme des Kriegs grollte über die Hügel, auf denen der Markgräfler wächst, erfolgte in den ersten Tagen der deutschen Mobilmachung von der Schweizergrenze her ein anderer Einmarsch: Der Strom Tausender von Deutschen aus der Schweiz, die in der Grenzstadt Lörrach ihrer militärischen Gestellungspflicht zu genügen hatten, mündete in Oberbaden. Er war so stark, daß er alle Vorkehrungen überstieg. Er brachte die erste große Einquartierung dieses Kriegs, tagelang bis in die Dörfer hinaus. Gleichzeitig kamen die langen Züge mit Reservisten und Landwehrmännern; von Freiwilligen aber gab‘s eine solche Menge, daß viele abgewiesen werden mußten. Sie versuchten ihr Glück dann weiter unten im Land, meist mit dem gleichen Geschick. Wenn sie kamen, war schon alles überfüllt.

Da war ein Junge, der wollte um jeden Preis mit. Er war über seine Jahre körperlich stark, aber noch nicht einmal 16 Jahre alt. Natürlich, er wird zurückgewiesen. Die Eltern verwehren ihm die Meldung. Er brennt ihnen aber heimlich durch. Gelingt‘s ihm nicht zu Land, denkt er, so vielleicht auf dem Wasser. In einem Militärzug kommt er bis an die Nordsee, nach Wilhelmshaven. Von unterwegs meldet er‘s den Seinen. Nach ein paar Tagen kommt er wieder vom Bahnhof zurück. Niedergeschlagen erzählt er, daß sie ihn auch an der Wasserkante nicht genommen. 10000 überzählige Freiwillige hätten sie dort zurückgewiesen! So muß er sich mit den anderen trösten, aber denken wird der Junge an seine Fahrt, sein Leben lang. Er hat von der ernsten Zeit doch etwas miterlebt. Das ist nur ein Beispiel für ungezählte.

Überall in jenen Tagen ein ernster, froher Mut der waffenfähigen Jugend, feste Entschlossenheit der Landwehrmänner. Es sind fast durchweg Familienväter. Sie wissen, wofür sie kämpfen. Trupp für Trupp, mit vaterländischem Sang, zum Bahnhof, um in die Züge verladen zu werden. So ging‘s Tag für Tag. Stark und beruhigend zugleich war der Eindruck, den dieses Vorspiel des gewaltigen Schicksals, das jetzt anhub, in der Bevölkerung zurückließ. Jedes fühlte: Wie reich ist das Vaterland an opferwilligen Menschen! Es weiß fast gar nicht, wohin mit all seinem Überfluß. Und wie entschlossen kommen alle seine Kinder zurück und wollen ihrer Mutter Heimat beistehen in der Stunde der Gefahr. Idealismus und Opfergeist beseelen so ziemlich das ganze Volk ohne Rücksicht auf Partei und Konfession.

Auf den Trubel der Mobilmachungstage folgte Ruhe. Aber es war eine unheimliche Ruhe. Friedevoll lag die schöne Landschaft da im üppigen Kleid eines prangenden Sommers. Aber die Menschen waren voll innerer Unruhe; wie ein schwerer Druck, wie die Last eines harten Schicksals lag‘s auch auf der Schönheit der Natur, auf den Herzen der Menschen. Noch sah man die Wirklichkeit des Krieges nicht, aber man hörte und fühlte ihn. Bald sollte man auch seine Opfer sehen. Die Offensive der Franzosen von Belfort her hatte begonnen. In dumpfen Schlägen kam der Kanonendonner über den Rhein herüber und rollte vom Istein her, wieder hinüber ins Elsaß. Unheimlich, wenn durch die Nächte der Donner grollte. Die gefährliche Nähe ward jedem zum jähen Bewußtsein, als die Nachricht kam: Mülhausen ist von den Franzosen besetzt! Ihre Patrouillen standen wirklich in den Elsässer Orten zunächst der badischen Grenze. Aber trotz der Nähe der Gefahr kann man nicht sagen, daß irgend etwas, wie eine Panik, unsere Bevölkerung ergriffen hätte. Dazu war das Vertrauen in unser Heer und seine Leitung damals viel zu stark. Aber ein begreiflicher Druck und eine unheimliche Spannung lag doch auf den Gemütern. Sie löste sich, als der Sieg der deutschen Truppen bei Mülhausen, ihr Sieg gegen eine Übermacht, nach schweren Stunden des Harrens bekannt wurde. Die Franzosen haben dann ihre Vorstöße im Oberelsaß drüben wiederholt und sind auch wieder vorgedrungen. Aber man könnte nicht sagen, daß sich die Bevölkerung gegenüber im nahen badischen Gebiet irgendwie dadurch allzu stark beunruhigt fühlte. Diese Stimmung der Zuversicht und des Vertrauens ist die ersten schweren Jahre über im allgemeinen geblieben. Kein Ereignis hat sie vorerst wesentlich erschüttern können. Aus dem evangelischen Markgräflerland zeichnete damals eine Feder folgendes religiöse Stimmungsbild:

„In Stadt und Land sind die Kirchen anhaltend überfüllt. Aus den Gemeinden heraus kommt das Verlangen nach mehr Gottesdiensten, Erbauung auch in der Woche. Ganze Schichten, die dem kirchlichen Leben entfremdet waren, nehmen wieder teil. Man wird diese Erscheinung gewiß nicht überschätzen dürfen und wird von vornherein auch mit ihrem Abflauen rechnen müssen. Aber sie wird ihre Frucht darum doch zurücklassen. Der Ernst dieser schweren Zeit wird seinen Segen an manchem Herzen dauernd wirken. Er wird auch äußerlich fester werden. Die religiöse Welle zeigte sich besonders stark auch in der katholischen Bevölkerung. Die Gotteshäuser waren täglich auffallend stark, besucht. Der Sakramentenempfang stieg Tag für Lag. Immer und immer wieder kamen sie, um Rosenkränze und Medaillen weihen zu lassen. Sie sollten den ausziehenden Krieger in den Gefahren seines Dienstes vor dem Feinde begleiten. Mich in den Dienst dieser tiefen Religiosität, in den Dienst der Seelen zu stellen, war mir alsbald ein förmliches Bedürfnis“

Das Wesentliche in diesem Bilde ist einer Korrespondenz aus Baden an die „Neue Züricher Zeitung“ vom 28. August 1914 entnommen. Sie stammt nach allem aus dem Markgräflerland.

Mit dem 2. August 1914 beginnt nun mein erstes Kriegstagebuch. Ich habe es bis zum 12. November 1918 fortgeführt. Daß ich es nicht ausführlicher und sorgfältiger geführt habe, bedauere ich heute über alle Maßen. Auch so enthalten indes diese Blätter aus dem Kriege vieles, was mir heute lieb und wertvoll ist. Die äußeren Kriegsereignisse treten darin zurück, die seelische Welt kommt dafür weit mehr zur Geltung. Vielleicht verdient gerade diese es nicht minder, festgehalten zu werden, wie es verdienen die Siege und Niederlagen, die Erfolge und Mißerfolge der Waffen, die dann zur Umgestaltung der zivilisierten Welt führten und noch führen. Das stille Heldentum verdient oft mehr unsere Bewunderung und Dankbarkeit wie jenes, das vor aller Augen veröffentlicht und auch mit viel Recht gepriesen wird. Die Seelenwunden und der Seelentod, die sittlichen Schlachten haben auch ihre Rechte und Ansprüche.

Man hat den Krieg schon gepriesen als „ein Stahlbad“, in dem sich die sittliche Größe eines Volkes erneuere. Ich teile diese Meinung im allgemeinen nicht. Der Krieg hat viel mehr nur allzu leicht den sittlichen Zerfall im Gefolge, vollends, wenn die vaterländische Begeisterung in den Verdacht umschlägt, daß so oder so die Menschenopfer auf dem Altäre des Mammons dargebracht würden und grad das Unrecht durch die Gewalt zum Siege gelange.

Wer in die Tiefen auch des sittlichen Zerfalls geschaut, wie es dem Seelsorger so oft beschieden war, in zerstörtes Familienglück, in die Abgründe des zerbrochenen Seelenfriedens, in die Ströme von Tränen und Blut, in die zerstörten Städte und Dörfer, in den Zusammenbruch von Disziplin und Ordnung, in den Sturz von Thronen und Kronen, der denkt nicht so sehr an „ein Stahlbad“ zur Gesundung, sondern an eine furchtbare Heimsuchung mit ungeheuerem Niederbruch. Aus ihm emporzusteigen, dazu bedarf‘s der natürlichen und übernatürlichen Lebenskräfte in einem außerordentlichen Ausmaß. Der Aufstieg ist nach dem dreißigjährigen Krieg, er ist nach den napoleonischen Zeiten gelungen, möge er auch nach dem Weltkriege wieder gelingen und gelten das Dichterwort, daß blüht aus den Ruinen neues Leben. Was Gottes Vorsehung gewollt, als sie die Geißel über das kultursrohe und übersättigte Europa kommen ließ, das ist uns im einzelnen verborgen. Eines aber wissen wir: eine Zeitperiode ist abgeschlossen, eine andere hat begonnen: allein auch für sie gelten die ewigen Gesetze Gottes. Auch sie ist an den Scheideweg für oder gegen Gottes Gesetz gestellt. Der Anfang der Weisheit, auch der Staatsweisheit, ist nun einmal die Furcht Gottes! Daran kann auch die neue Zeit-Periode nicht ungestraft vorbei.

(Fortsetzung folgt.)

Schofer, Josef: Ein Friedenswerk im Völkerringen. In: St. Konradsblatt Jg. 14 (1930), Nr. 7, S. 81–82.

Quelle: http://tagebuch.hypotheses.org/347

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