Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften, Episode 1

Heute: Josef Moosers "Ländliche Klassengesellschaft"

Vor sehr, sehr langer Zeit (zumindest kommt es mir so vor) habe ich hier einmal über Klassiker geschrieben – und warum das Lesen von Klassikern mehr ist, als nur einem (eingebildeten oder realen) Kanon hinterher zu hecheln. Auch wenn ich den Text von damals heute in der Form sicher nicht mehr schreiben würde, bleibe ich doch dabei: Klassiker Lesen hat einen Sinn. Es öffnet den Blick auf vergangene Diskussionen und schärft damit auch die Aufmerksamkeit für gegenwärtige Probleme.

Dies ist nun also die erste Folge einer losen Serie, in der ich Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften vorstellen werde. Damit schaffe ich selbst einen „Kanon“, einen Korpus von Texten, die ich für wichtig halte, wenn man sich mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften in der Neuzeit auseinandersetzen will.

Josef Moosers Werk über die „Ländliche Klassengesellschaft“1 ist ganz sicher ein solcher Klassiker. Das Buch wird als Grundwissen über die Sozialgeschichte ländlicher Gesellschaften zumindest in der deutschen Diskussion stillschweigend oder explizit vorausgesetzt. Stefan Brakensiek hat vor einiger Zeit einen sehr lesenswerten Artikel über Rezeption und Aktualität des Werks veröffentlicht, auf den ich verweisen kann.2 Damit bin ich entlastet und kann kurz erklären, welche Punkte für mich in dem Buch wichtig und weiterführend sind:

1. Mooser war einer der ersten, die im deutschsprachigen Raum das Konzept der „peasant society“, das aus der Sozialanthropologie stammt, verwendet haben. Zu dem Konzept selbst schreibe ich noch mal genauer was, hier soll nun das reichen: Die bäuerliche Gesellschaft wird als Teilgesellschaft verstanden, die durch eigene Werte, Regeln und Mechanismen gekennzeichnet ist; durch Herrschaftsverhältnisse („mächtige Außenseiter“ wie Staat und Grundherrschaft) ist die Teilgesellschaft in größere Zusammenhänge eingebunden. Mooser greift das Konzept als heuristisches Werkzeug auf, trotz der Kritik, die er daran grundsätzlich übt (zu stark homogenisierend, Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilgesellschaften werden systematisch unterschätzt). Denn die Idee der „peasant society“ ermöglicht es, die Eigenständigkeit ländlicher Gesellschaften zu analysieren, ohne dabei grundsätzlich von ihrer Rückständigkeit auszugehen – und da sind wir wieder bei der Problematik der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, über die ich neulich schrieb. Das Modell der „peasant society“ ist für Mooser ein Hilfsmittel, diesem Problem zu entkommen. Zwar ist meine Meinung, dass man sich damit mehr Schwierigkeiten einbrockt als vom Hals schafft, aber die Frage bleibt: Wie relationiere ich die ländliche zur „Gesamt“-Gesellschaft, die offenbar nach anderen Regeln spielte?

2. Über weite Strecken handelt es sich bei dem Buch um eine Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft in den zwei untersuchten westfälischen Gebieten (Minden-Ravensberg und Paderborn). Vor allem im letzten Kapitel kommt Mooser aber auf die vielfältigen Prozesse der Politisierung zu sprechen, die im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 eine Rolle spielten und die einen neuen Blick (also in den 1980ern) auf die Rolle der ländlichen Gesellschaften versprachen: Vor allem ist sehr einleuchtend, wie komplex das Ineinandergreifen von Konservatismus und Politisierung sich am Beispiel der untersuchten ländlichen Unterschichten darstellt. Mooser nennt die Haltung „reflektierten Traditionalismus“, um damit zu zeigen: Es handelte sich keineswegs um eine unpolitische Haltung der ländlichen Unterschichten bzw. der ländlichen Gesellschaften insgesamt, sondern im Gegenteil um eine hochpolitisierte Einstellung, die aber eben nicht demokratisch oder gar sozialistisch geprägt war, sondern konservativ-traditionalistisch, staatsnah und anti-bürgerlich. Der Traditionalismus der ländlichen Unterschichten war, so Mooser, keineswegs nur auf den Erhalt des Vorhandenen gerichtet, sondern hat auch utopische Anteile – es ging um die Neuschaffung von Institutionen, um der traditionalen moral economy (Mooser übersetzt den Begriff E.P. Thompsons mit „sittliche Ökonomie“) zum Durchbruch zu verhelfen. Dass in diesem Zusammenhang der Staat als Akteur angerufen wurde, ist auch ein Zeichen davon, dass ein rein lokaler Gesellschaftsbezug im 19. Jahrhundert nicht mehr funktionierte, weil sich gesellschaftlich etwas verändert hatte:

Mit der Aushöhlung der subsistenzorientierten Familienwirtschaft und der wachsenden Marktabhängigkeit der Einkommen entstand und erweiterte sich die politische Betroffenheit wie umgekehrt eine lebensnotwendige Angewiesenheit auf Politik. 3

Der Staat hatte also nicht nur seine Form und seine Wirkungen verändert (wie in vielen Theorien und Untersuchungen zum Staatsausbau im 19. Jahrhundert nachzulesen ist), sondern auch seine Adressierbarkeit.

Mooser weist also auf zwei bemerkenswerte Punkte hin: Erstens ist eine auf den ersten Blick „unpolitische“ oder „traditionale“ Positionierung möglicherweise hochpolitisch – es kommt darauf an, mit welchen Politikbegriffen man an die Untersuchung geht, und ob man (implizit oder explizit) Vorstellungen von „Fortschrittlichkeit“ zu Kriterien für Politisierung macht.

Zweitens: Im Anschluss an Mooser könnte man die These aufstellen: Der Wandel von Staatlichkeit hat auch etwas mit dem Wandel von Wahrnehmungen, Erwartungen und Ansprüchen nicht-staatlicher Akteure zu tun. Staatlichkeit und Politik sollten als (sich verändernde) Relationen untersucht werden.

Beide Hinweise sind – blickt man auf das Veröffentlichungsdatum des Buches – nun also keineswegs neu, aber ich sollte sie im Kopf behalten. Wir werden sehen, welche Ergebnisse ich damit für die Zeit nach 1848 zutage fördern kann.

  1. Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984
  2. Brakensiek, Stefan: "Ländliche Klassengesellschaft. Eine Relektüre", in: Maeder, Pascal/Lüthi, Barbara/Mergel, Thomas (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Moser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 27-42
  3. Mooser, Klassengesellschaft, 365

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/282

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Gern gelesen: Das Konzept der „Moderne“ – L. Raphael

„Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. […] Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften […] hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert [sic] findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem ‚Guss‘, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken.“ (Raphael, Konzept, 2014, S. 104)

Ein weiterer Aufsatz von Lutz Raphael zur historiographischen Brauchbarkeit des Begriffs der Moderne ist vor einigen Monaten in einem Sammelband erschienen. Ich habe ihn gerne gelesen, und ich könnte noch viel mehr zu diesem Text und den darin vertretenen Argumenten sagen. Denn der Begriff der Moderne, wie Raphael (und Christof Dipper) ihn für die geschichtswissenschaftliche Analysearbeit operationalisieren, ist auch für mein Projekt sehr wichtig. Hier aber nur ein paar Gedanken zu der oben zitierten Passage.

Schon die beiden Aufsätze von Achim Landwehr, die sich kritisch mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auseinandergesetzt haben, habe ich mit großem Interesse gelesen und als sehr anregend empfunden (auch sie empfehle ich ausdrücklich zur Lektüre!). In den Texten geht es vor allem um die Vorstellungen von historischer Zeit(en), die dem Reden von Anachronismen bzw. der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde liegen, und darum, dass damit explizite und implizite Wertungen verknüpft sind, die häufig der Analyse von „Gleichzeitigkeiten“, die Landwehr ins Zentrum stellen will, eher im Wege stehen.

Raphael bezieht nun die Kritik, die auch Landwehr äußert, eher auf die Frage nach gesellschaftlicher Verfasstheit, also darauf, ob es sich um letztlich soziale/politische Pathologien handelt, wenn solche Koexistenzen vorliegen. Die Antwort ist – das kann man im obigen Textausschnitt klar erkennen – natürlich: nein, keine Pathologie, im Gegenteil. Koexistenzen unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken mit verschieden langer Geschichte sind in europäischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme. Meine Frage ist jetzt nur: Ist die Koexistenz denn tatsächlich „paradox“, wie Raphael schreibt? Oder erscheint sie nur als paradox, wenn man mit der modernisierungstheoretischen Brille auf sie blickt?

Interessant ist es also nicht so sehr sich anzusehen, wo es solche Koexistenzen gibt. Stattdessen könnte man untersuchen, wie die oben angesprochenen „Umcodierungen“ vonstattengehen. Also: Wie funktioniert diese Koexistenz? Welche Anpassungen finden statt? Wie finden sie statt? Werden sie von den ZeitgenossInnen reflektiert und bewertet? Dieser Fragenkatalog lässt sich wohl noch lange weiterführen. Für die ländlichen Übergangsgesellschaften ist der Hinweis auf die Koexistenzen wichtig und hilfreich – nicht nur, um in Gesprächssituationen wie dieser (schon häufiger vorgekommenen) klug antworten zu können:

Und, worüber forschst Du so?

Ländliche Gesellschaften um 1900.

Ach so, ja, klar: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Hach ja.

Literaturhinweise:

Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), S. 37—62.

Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1—34.

Ders.: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5—29.

Raphael, Lutz: Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: Großbölting, Thomas/Livi, Massimiliano/Spagnolo, Carlo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 97—109.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/275

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