Tannbach, die neue große (Dorf-)Erzählung?

Vor rund dreißig Jahren – 1984 – wurde der erste Teil von Edgar Reitz‘ Heimat-Trilogie1 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt – und wurde ein Überraschungserfolg. Reitz, der bislang nicht gerade als Macher von Straßenfegern bekannt war, erzählte in langen Fernsehfilmen2 die Geschichte der Familie Simon im kleinen Hunsrück-Dorf Schabbach. Obwohl die Filme keine leichte Unterhaltung sind, haben sie doch die Darstellung von Dorf und Heimat seit den 1980er Jahren maßgeblich geprägt.

Das Jahr 2015 begann (für das ZDF) mit einem großen Epos: „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“ (offizielle Seite des ZDF) erzählt die Geschichte eines Dorfes zwischen Kriegsende und der Schließung der innerdeutschen Grenze 1952. Das Dorf Mödlareuth, auf der Grenze zwischen Bayern und Thüringen gelegen, wurde im Kalten Krieg als „Little Berlin“ bezeichnet, denn die Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone verlief mitten durchs Dorf und schnitt es in zwei Teile. Nun ist es das historische Vorbild für das halbfiktive Tannbach, in dem das ZDF die deutsch-deutsche Nachkriegs- und Teilungsgeschichte im Mikrokosmos wiedererstehen lässt. Der Dreiteiler wurde im Vorfeld in der Süddeutschen hoch gelobt, er sei „im besten Sinne Geschichtsunterricht“, urteilte Renate Meinhof am 4. Januar.3 Für mich ein Grund, mich vor die Glotze zu setzen. Historienschinken mit Zeitgeschichtsbezug schaffen das in der Regel nicht, aber wenn es doch ums Dorf geht…

Nun, über die Filme als solche mag ich hier gar nicht schreiben, schon gar nicht etwa über historische Authentizität oder gar über die Komposition der Filme selbst. Was ich hier thematisieren möchte, ist die Darstellung des Dorfes bzw. von Dörflichkeit/Ländlichkeit in diesen Spielfilmen.

Ich gehe, wie oben angedeutet, davon aus, dass die „Heimat“-Trilogie von Reitz dieses Thema ausführlich ausbuchstabiert hat, den Provinzialismus des Hunsrück-Dorfes Schabbach explizit in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt hat. Nun haben diverse Kritiker Reitz vorgeworfen, er perpetuiere alte Darstellungsformen des Dörflichen aus dem 19. Jahrhundert.4 Andere verweisen auf die starke Abgeschlossenheit des von Reitz konstruierten Heimatraums, der in dem Moment, da er beschrieben wird, schon verloren zu sein scheint.5 So eindeutig nostalgisch überhöht wird Schabbach in meinen Augen (in meiner Seh-Erfahrung) aber gar nicht dargestellt; im Gegenteil: nicht nur im letzten Film, der „anderen Heimat“, sondern auch schon in der ersten Heimat-Reihe aus den 1980ern wird Heimat gleichzeitig als der Fixpunkt (und damit gewiss auch nostalgisch) und als beengend und einengend dargestellt. Heimat und Fernweh stehen in einem explizit thematisierten Spannungsverhältnis. Darüber hinaus geht es immer wieder darum, wie einerseits die „große Welt“ ins Dorf hineinspielt, wie sie aber in Schabbach, in der Familie Simon, anverwandelt wird, wie eben gerade nicht das Dorf die Welt „da draußen“ widerspiegelt, sondern ein ganz spezieller Ausschnitt ist.

Genug des Vorspanns: Wie wird Tannbach denn nun dargestellt? Wie wird Dörflichkeit/Ländlichkeit im Dreiteiler thematisiert? Man könnte – wohl etwas überzogen, ich gebe es zu – behaupten: überhaupt nicht. Tannbach ist kein Dorf, Tannbach ist ein Spiegel der deutschen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier kann man, in einem begrenzten Setting und mit einem begrenzten Kreis an Charakteren die Spannungen einfangen, die mit dem Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten verknüpft werden. Aber spezifische Ländlichkeit?

Klar, vor allem im zweiten Teil des Dreiteilers geht es um die Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone, der Gutsbesitz und die großen Höfe werden aufgeteilt, die bisherigen Großgrundbesitzer werden enteignet und umgesiedelt. Der Protagonist, der Berliner Flüchtling Friedrich Erler, wird zum begeisterten sozialistischen Jungbauern. Und in vielen Szenen sieht man Feldarbeit. Und natürlich die Kulissen – die Handlung spielt auf Dorfstraßen oder Bauernhöfen. Aber das bleibt, so meine Wahrnehmung, Hintergrund, eben Kulisse. Manche Charaktere, zum Beispiel der frühere Ortsbauernführer, der Schober-Bauer, wird schon ziemlich klischeehaft als bauernschlauer Wendehals dargestellt.

Wie aber sollte man denn überhaupt Dörflichkeit thematisieren? Was verlange ich denn überhaupt? Nun, zum ersten: Ich verlange eigentlich nichts weiter. Tannbach ist eine Fernsehproduktion, und die funktioniert nach anderen Kriterien als (wissenschaftliche) Reflektionen über Ländlichkeit. Auch verlange ich keineswegs, dass blöde Stereotypen reproduziert werden, die Hinterwäldler-Geschichte weitergesponnen wird oder gar gezeigt wird, wie verfilzt die Politik in kleinen Dörfern ist.

Mein Eindruck war aber: Im Grunde macht es gar keinen großen Unterschied, ob Tannbach nun ein Dorf oder eine Kleinstadt ist; vielleicht hätte die Geschichte ganz ähnlich auch in Berlin erzählt werden können – dann vielleicht mit einem Fabrikbesitzer statt mit einem Gutsherrn.

Denn es gibt ja Spezifika kleiner Orte, bäuerlicher Dörfer, gegenüber Städten. Aber diese wurden eben nicht in den Mittelpunkt gerückt, vielleicht, weil sie eben nicht einfach nur die „große“ Geschichte widerspiegeln.

  • Wo wurde mal thematisiert, dass möglicherweise politische Gewalt (wie im dritten Film dargestellt) anders funktioniert, wenn sich Täter und Opfer kennen, und das möglicherweise aus ganz vielen Kontexten – weil sie ihr Leben an einem Ort, in einer Schule, einer Kneipe, einer Kirche verbracht haben?
  • Wo wurde mal die Möglichkeit angetippt, dass eine Mikrogesellschaft, die in erster Linie aus wirtschaftlich Selbständigen (und gleichzeitig Subsistenzwirtschaft Treibenden) besteht, möglicherweise andere Interaktionsformen ausbildet als eine städtische Gesellschaft? Im Falle einer bäuerlichen Gesellschaft, so mein Eindruck nach einiger Zeit an meinem Projekt, spielt halt doch die wirtschaftliche Ebene eine ungleich wichtigere Rolle als in anderen sozialen Kontexten, gibt es gar nicht so viele gesellschaftliche Sphären, die nicht von wirtschaftlichen Praktiken mit durchzogen sind.
  • Außerdem: Wie geht eine kleine Gesellschaft, ein kleines Dorf, mit Fremden um? Denn die Flüchtlinge, die nach Tannbach kommen, allen voran Friedrich Erler, seine Mutter Liesbeth und sein (Nenn-)Bruder Lother, sind ja nicht nur einfach Fremde. Sie sind auch komplett anders sozialisiert als die Einheimischen. Friedrich und Lothar aber sind plötzlich mit allen gut Freund; ihre sehr spezifische Prägung im regimekritischen (Friedrich) bzw. jüdischen (Lothar) Elternhaus in Berlin scheint für ihre Position im Dorf keine Rolle zu spielen6 ; sie fügen sich in die lokale Gesellschaft ein.

Das sind nur ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind, die die Möglichkeit eröffnet hätten, Dörflichkeit einmal jenseits von Stereotypen zu erzählen. Dann hätte vielleicht auch die Erzählung von der großen Geschichte im kleinen Ort Tannbach eine Tiefe erreichen können, die dann wirklich „im besten Sinne Geschichtsunterricht“ gewesen wäre – die nämlich einerseits auf den Einfluss globaler Entwicklungen, andererseits auf die Besonderheit lokaler Bedingungen, Beziehungen und Praktiken aufmerksam macht. Diese Chance aber wurde vertan. Dafür gab’s dicke Quoten. Und eine Fortsetzung ist wohl ins Auge gefasst. Ich bin gespannt.

Auf eine neue große „Dorf“-Erzählung aber werden wir wohl noch länger warten müssen. Tannbach ist ganz sicher nicht das neue Schabbach.

 

  1. Heimat – Eine deutsche Chronik, Zyklus von elf Spielfilmen, BRD 1984.
  2. zwei weitere Fernsehfilm-Zyklen und ein Kinofilm folgten
  3. Meinhof, Renate: Die Fremden, Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 2015, S. 35; gleichlautender Artikel in SZonline vom 4. Januar 2015 unter dem Titel „Auf Tuchfühlung mit der großen Sprachlosigkeit“ unter: http://www.sueddeutsche.de/medien/tannbach-schicksal-eines-dorfes-im-zdf-auf-tuchfuehlung-mit-der-grossen-sprachlosigkeit-1.2287828; letzter Abruf 09.02.2015.
  4. Wild, Bettina: "Kollektive Identitätssuche im Mikrokosmos Dorf. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und die Heimat von Edgar Reitz", in: Reiling, Jesko (Hg.), Berthold Auerbach (1812–1882): Werk und Wirkung, Heidelberg 2012, S. 263–283.
  5. Diese Kritik referiert Moltke, Johannes von: "Heimat-Orte. Zur Konstruktion von Raum und Moderne in Heimat (1984)", in: Koebner, Thomas (Hg.), Edgar Reitz, München 2012, S. 43–63, bes. S. 48 f.
  6. Der Hintergrund der beiden dient jedoch dazu, sie als Verfolgte des Nazi-Regimes zu markieren.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/306

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Gern gelesen: Das Konzept der „Moderne“ – L. Raphael

„Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. […] Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften […] hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert [sic] findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem ‚Guss‘, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken.“ (Raphael, Konzept, 2014, S. 104)

Ein weiterer Aufsatz von Lutz Raphael zur historiographischen Brauchbarkeit des Begriffs der Moderne ist vor einigen Monaten in einem Sammelband erschienen. Ich habe ihn gerne gelesen, und ich könnte noch viel mehr zu diesem Text und den darin vertretenen Argumenten sagen. Denn der Begriff der Moderne, wie Raphael (und Christof Dipper) ihn für die geschichtswissenschaftliche Analysearbeit operationalisieren, ist auch für mein Projekt sehr wichtig. Hier aber nur ein paar Gedanken zu der oben zitierten Passage.

Schon die beiden Aufsätze von Achim Landwehr, die sich kritisch mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auseinandergesetzt haben, habe ich mit großem Interesse gelesen und als sehr anregend empfunden (auch sie empfehle ich ausdrücklich zur Lektüre!). In den Texten geht es vor allem um die Vorstellungen von historischer Zeit(en), die dem Reden von Anachronismen bzw. der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde liegen, und darum, dass damit explizite und implizite Wertungen verknüpft sind, die häufig der Analyse von „Gleichzeitigkeiten“, die Landwehr ins Zentrum stellen will, eher im Wege stehen.

Raphael bezieht nun die Kritik, die auch Landwehr äußert, eher auf die Frage nach gesellschaftlicher Verfasstheit, also darauf, ob es sich um letztlich soziale/politische Pathologien handelt, wenn solche Koexistenzen vorliegen. Die Antwort ist – das kann man im obigen Textausschnitt klar erkennen – natürlich: nein, keine Pathologie, im Gegenteil. Koexistenzen unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken mit verschieden langer Geschichte sind in europäischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme. Meine Frage ist jetzt nur: Ist die Koexistenz denn tatsächlich „paradox“, wie Raphael schreibt? Oder erscheint sie nur als paradox, wenn man mit der modernisierungstheoretischen Brille auf sie blickt?

Interessant ist es also nicht so sehr sich anzusehen, wo es solche Koexistenzen gibt. Stattdessen könnte man untersuchen, wie die oben angesprochenen „Umcodierungen“ vonstattengehen. Also: Wie funktioniert diese Koexistenz? Welche Anpassungen finden statt? Wie finden sie statt? Werden sie von den ZeitgenossInnen reflektiert und bewertet? Dieser Fragenkatalog lässt sich wohl noch lange weiterführen. Für die ländlichen Übergangsgesellschaften ist der Hinweis auf die Koexistenzen wichtig und hilfreich – nicht nur, um in Gesprächssituationen wie dieser (schon häufiger vorgekommenen) klug antworten zu können:

Und, worüber forschst Du so?

Ländliche Gesellschaften um 1900.

Ach so, ja, klar: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Hach ja.

Literaturhinweise:

Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), S. 37—62.

Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1—34.

Ders.: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5—29.

Raphael, Lutz: Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: Großbölting, Thomas/Livi, Massimiliano/Spagnolo, Carlo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 97—109.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/275

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