Der Zukunftsstaat und seine Landwirtschaft

Ich lese gerade – zur Vorbereitung auf das kommende Semester – einen Klassiker der Lebensreform: Friedrich Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat, aus dem Jahr 1904. Bekannt ist vor allem die Farblithographie, die dem Buch beilag (aber offenbar nur in bestimmten Ausgaben, die von mir benutzte Version nicht illustriert). Dort stellt er das „Volk im heutigen Staat“ dem „Volk im Zukunftsstaat“ gegenüber.

Das Volk im Zukunftsstaat

Farblithographie aus Bilz: Der Zukunftsstaat. By Friedrich Eduard Bilz [Public domain], via Wikimedia Commons.

Das Buch ist ein ganz schöner Schinken, auf 800 Seiten in rund 477 (aber zum Teil doch sehr kurzen) Kapiteln legt Bilz sehr eklektisch und etwas naiv seine Vorstellungen davon dar, wie die Welt verändert werden müsse, um den Menschen wieder in Einklang mit der Natur zu bringen. Das Spektrum der Maßnahmen ist breit – es reicht von der Naturheilkunde (Bilz war ein bekannter Heilpraktiker) über die Abschaffung der Vivisektion bei Tieren und das Verbot von Korsetts bis hin zu Ratschlägen für die Kindererziehung, den Weltfrieden und die Religion. Er setzt dabei vor allem auf ein Umdenken („müssen wir der Menschheit erst eine naturgemäßere Denkweise wieder beibringen“, S. 5), die er allerdings mit einem bunten Strauß staatlicher Interventionen inkl. Verbote kombinieren möchte.

Heute schaue ich mir mal genauer an, was Bilz so über die Landwirtschaft schreibt. Sie spielt keine besonders hervorgehobene Rolle in seinem Text, aber ist durchaus zentral für seine Idee vom „Zukunftsstaat“, also der bis zum Jahr 2000 zu verwirklichenden Gesellschaftsform, die auf das „Naturgesetzes“ gegründet werden soll.

In der utopischen Gesellschaft, die Bilz beschreibt, wird dem „Boden“ wieder seine ursprüngliche Bedeutung zugewiesen: „Der Grund und Boden ist gewissermaßen der Urquell menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit.“ (S. 92) Sein Ruf „Zurück zur Natur“ bedeutet also – ganz typisch für die Lebensreformer – eine Abwendung von der städtischen Lebensweise. Das will er mit unterschiedlichen Maßnahmen erreichen.
Zum einen soll diejenige Arbeit privilegiert werden, die in seinen Augen nützlich ist – also diejenige, die Naturprodukte gewinnt, vor allem Landwirtschaft und die Herstellung einfacher Gebrauchsgegenstände sowie geistige Arbeit. Alle Mitglieder der Gesellschaft, so Bilz‘ Vorstellung, sollen in der Landwirtschaft tätig sein, zumindest im Sommer. Das habe positive Wirkungen auf die Gesundheit jedes Einzelnen. Mit guten Augen kann man diesen landwirtschaftlichen Pflichtdienst übrigens auf der Lithographie erkennen: ganz rechts, ein kleines Bild mit vergnügten Männern (!) auf dem Feld. Der Untertitel ist beim besten Willen hier nicht lesbar; es soll heißen “3stündige Arbeitszeit”.

Diese Idee eines landwirtschaftlichen Pflichtdienstes koppelt er an zu erwartende Effekte: Zum einen sei die Landbevölkerung gesünder und heiterer als die Stadtbevölkerung. Das ist eine ganz typische Sichtweise dieser Zeit, man findet das in vielen Texten zum Bevölkerungsproblem um 1900. Bilz führt auch die weitverbreitete Vorstellung aus, die Stadtbevölkerung könne sich nicht selbst reproduzieren, sei also ständig auf den Zuzug vom Lande angewiesen (S. 98). Die neue Hinwendung zur Landwirtschaft würde also sicherlich positive biologische Auswirkungen auf die Bevölkerung als Ganze haben.
Zum anderen aber geht Bilz auch davon aus, dass die öffentliche Wertschätzung, die mit dieser Reform einhergehe, eine Image-Kur für die landwirtschaftlichen Berufe sein werde: Die Landwirtschaft werde sich früher oder später vor Bewerbern nicht mehr retten können, und wenn jeder junge Mensch (gemeint: Mann) bereits in jungen Jahren in der Landwirtschaft tätig gewesen sei, dann sei das Arbeiten selbst überhaupt kein Problem: „Unendlich einfacher, ja spielend leicht gestaltet sich dieser ländliche Beruf, wenn die Menschen in der Jugend ihm zugewiesen werden.“ (99) Woher er diese naive Vorstellung von landwirtschaftlicher Arbeit hat, wüsste ich gerne – vor allem, da er selbst in einem landwirtschaftlichen Betrieb (wenn auch einer Gärtnerei) aufgewachsen ist.

Jenseits dieser interessanten Verquickung unterschiedlichster Vorstellungen vom landwirtschaftlichen Arbeiten (absolut einfache Tätigkeit, erhoffte höhere Wertschätzung, biopolitische Effekte) finde ich aber auch spannend, wie sich Bilz konkret (oder: annähernd konkret) die betriebliche Seite der Landwirtschaft vorstellt. Er ist nämlich keineswegs ein Befürworter von einfacher Handarbeit, kleinbäuerlicher Arbeitsweise usw.
Bilz war Anhänger der Bodenbesitzreform und forderte die Verstaatlichung allen Besitzes. Der landwirtschaftliche Boden sollte in seiner Vorstellung von den Gemeinden bewirtschaftet werden. Das sollte nicht nur gemeinschaftlicher und grundsätzlich antikapitalistisch sein, sondern auch dazu dienen, die Landwirtschaft insgesamt effizienter zu gestalten.

„Auch wird man größere Parzellen schaffen, überflüssige Wege, Raine, Hügel und Hecken urbar oder doch nützlicher machen; einmal, um mehr ertragsfähiges Land zu gewinnen, und dann auch, um landwirtschaftliche Maschinen besser anwenden zu können […]. Ferner könnte man auch viele Löcher und Gräben ausfüllen, viele Wege, Flüsse und Bäche gerade legen, schlechte Bodenarten durch Zutat von gutem Boden ergiebiger gestalten usw.“ (S. 83)

Möglichst große Parzellen, rationell-wissenschaftliche Anbaumethoden (138f.) und vor allem der Einsatz von großen Maschinen und effizienten Transporttechnologien schwebte Bilz vor, um die gesamte Menschheit gesund ernähren zu können. Das, was wir heute als Bioland- oder Demeterbetriebe mit lebensreformerischer Tradition kennen, sieht anders aus, oder?

Bilz, Friedrich Eduard: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000. Neue Weltanschauung. Jedermann wird ein glückliches und sorgenfreies Dasein gesichert, Leipzig o. J. [1904].
Kerbs, Diethart: Die Welt im Jahre 2000. Der Prophet von Oberlößnitz und die Gesellschafts-Utopien der Lebensreform, in: Buchholz, Kai u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 61-66.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/86

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