Noch sind sie keine ‘digital natives’, die Befragten der umfassenden Studie “Researchers of Tomorrow“. 2009 von der British Library und JISC, dem Joint Information Systems Committee in Auftrag gegeben, zeigt der 88-seitige Report die aktuelle Lage von Doktoranden im Vereinigten Königreich auf. Auch wenn manche Erkenntnis nicht einfach auf das deutsche Wissenschaftssystem übertragbar sein dürfte, gibt die Studie – an der über 17.000 Promovierende teilnahmen – doch in vielerlei Hinsicht zu denken.
Zunächst sind die jungen Forscherinnen und Forscher der “Generation Y” offenbar ausgefuchste Informationssucher. Auch bei der Nutzung neuester Medien sind die zwischen 1982 und 1994 Geborenen zur kritischen Einschätzung hinsichtlich des gefundenen Materials allemal in der Lage. Nahezu alle suchen dabei aber wohl weniger Primärquellen, als Sekundärmaterial wie wissenschaftliche Artikel, Bücher usw. Demgegenüber sind junge Sozial- und Kulturwissenschaftler offenbar extrem zurückhaltend in der Nutzung von Zeitungen, Archivmaterial und Statistiken. Der Report befürchtet, dass hier bereits eine Verschiebung gegenüber den vor zehn Jahren üblichen allgemeinen Standards eingesetzt hat und fordert hierzu mehr Untersuchungen.
Ungeduld kennzeichnet den Umgang mit dem Sekundärmaterial: Wenn ein Artikel aus einem E-Journal nicht verfügbar ist, arbeitet mehr als die Hälfte der Befragten notfalls mit dem Abstract oder dem, was Google leicht zugänglich macht. Alte Ordnungsorientierungen wie Verlage, Reihen etc. haben gegenüber den Suchmasken von Bibliothek und Suchmaschinen massiv an Bedeutung verloren. Die Mobilität zwischen verschiedenen physischen Bibliotheken hat abgenommen. Trotz aller Medienkompetenz sind für die Doktoranden die oftmals komplexen Abläufe, die zur Bereitstellung von Onlineressourcen durch Universitäten führen, nicht verständlich. Wenn das mal nicht für mehr Open Access spricht, und zwar in möglichst radikal einfacher Form… Offenbar führt auch der Wiedererkennungs- und Authentizitätseffekt von bereits publizierten Material dazu, dass man sich wenig auf “graues” Material stützt. Die Systemgrenzen wirken als Schere im Kopf, auch und gerade gegenüber netzbasierten Daten.
Überraschend ist auch ein weiteren Befund der Studie: Für die Arbeit an der Arbeit nutzen junge Forscher offenbar nicht “latest and greatest”-Technologie. Nur wenn neue Anwendungen leicht in die Forschungspraxis integriert werden können, werden sie auch benutzt. Das betrifft auch die Angebote in Sachen Web 2.0, die von Institutionen selber bereitgestellt und entwickelt werden. (Ich versuche mir, das in Deutschland vorzustellen: Stell’ Dir vor, es gibt Moodle oder spezielle Retrodigitalisierungen, aber kein Dissertierender nutzt sie.) Es gibt also in Großbritannien offenbar so etwas wie einen gravierenden Konservatismus.
Nutzung von Sozialen Medien zur Forschung in Großbritannien, 2009-2011
Kann es daran liegen, dass das Einzelkämpfertum zu verbreitet ist? So teilt man die eigenen Ergebnisse nur im engsten Kreis und verzichtet auf breite Anschlusskommunikation, die ja z.B. mit einem eigenen Blog sehr leicht wäre. Zwar wollen immer mehr Forschende im Open Access publizieren, aber Renommier- und Glaubwürdigkeitsfragen hinsichtlich der entsprechenden Journale bremsen den Enthusiasmus stark. “Researchers of Tomorrow” ermutigt deshalb die Betreuerinnen und Betreuer dazu, wiederum die Doktorierenden zu ermutigen: Größere Offenheit und mehr Teilen sind die Devise. Was junge Forscherinnen und Forscher aber wirklich brauchen, ist der informelle direkte Austausch: nicht nur als Notlösung untereinander, sondern vor allem im Gespräch mit Professoren.
Die Entzauberung der vermeintlich schon “digital geborenen” Generation hat auch in Deutschland längst eingesetzt. Entscheidend ist für die Wissenschaft nicht ein naiver, journalistisch befeuerter Diskurshype um “digital natives” und “immigrants”. Dagegen lese man noch einmal als Antidot die ebenfalls im Bildungskontext entstandenen Artikel von Marc Prensky (2001: Teil 1/Teil 2). Viel eher scheinen die mittelfristigen Folgen des medienkulturellen Wandels strukturelle Änderungen in der Wissensproduktion mit sich zu bringen, die ohne Gegensteuern zum Problem werden können.
Nutzung von offenen Web-Technologien zur Forschung in Großbritannien, 2009-20111
Warum sollte in der digitalen Welt die Forschung nicht vielfältiger werden können? Das Sprachproblem zwischen verschiedenen Generationen, das Prensky befürchtete, kann doch nicht ernsthaft die Ursache sein. Offenbar fehlt in Großbritannien allen Seiten Mut und Orientierung, um die vernetzte Welt richtig für sich zu nutzen.
Your media mix may vary, auch das gedruckte Buch spielt für die Humanities immer noch die Hauptrolle (hier eine aktuelle Einschätzung aus Österreich). Dass das Surfen im Netz für viele schnell mal zu einem Driften werden kann – geschenkt. Alarmierend sind hingegen die niedrigen Nutzungs- und Zufriedenheitsraten für die diversen Netztechnologien, mitsamt einer Tendenz zur Passivität. Die Wikipedia kommt noch am besten weg. So ist das halt mit dem Internet: Man bekommt nur das Netz, das man sich selber macht. Es wird offenbar an der Zeit, dass ein Blogportal wie hypotheses eine englische Dependance eröffnet. Oder kennt Ihr positive britische Beispiele, die einen nicht so verzweifeln lassen wie “Researchers of Tomorrow“? Dann aber fix her damit!
Alle Abbildungen stehen wie der gesamte Studientext (PDF) unter CC-BY-NC-ND (The British Library and HEFCE 2012).
Quelle: http://gab.hypotheses.org/332