Eier der ganz besonderen Art präsentiert die Pasticceria Bombiani in Rom. Unter dem Titel “Le Consistenze del Colore” zeigt sie 22 ovale Kunstwerke. Für jedes einzelne von Ihnen stand ein repräsentatives Werk eines international anerkannten Künstlers Pate. Die Konditorei griff für die Eier auf vorwiegend abstrakte Werke der Künstler zurück. Nur bei Gerhard Richter wählte sie nicht die dafür prädestinierten Streifenarbeiten oder die Farbtafeln aus. Sie entschied sich für das Bild “September (891-5)” von 2005.
Aus dem Faltblatt zur Ausstellung geht die Motivwahl nicht eindeutig hervor. Hier wird auf die Kunst Gerhard Richters im Allgemeinen abgehoben und sein permanenter Medienwechsel, vom Foto zum Gemälde zum Foto zurück, erläutert. Doch bei näherer Betrachtung ist das Motiv mehr als nur ein Stellvertreter der jüngsten Werke Gerhard Richters. Es ist ein Bild unserer Zeit und unserer Gesellschaft.
Richter malte das Bild nach einer Pressefotografie, die das New Yorker Word Trade Center am 11. September 2001 zeigt. In diesem Bild kommt die Tragik des Geschehens in all seinen Nuancen zum stehen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kulminieren in einem Standbild, dass die brennenden kurz vor dem Einsturz stehenden Hochhäuser zeigt. Das World Trade Center war nicht nur der höchste Gebäudekomplex New Yorks, sondern als Welthandelszentrum ein Symbol der amerikanischen Macht sowie der westeuropäischen Zivilisation schlechthin. Mit seiner Zerstörung wurde einmal mehr klar, wie zerbrechlich die Gesellschaft im Grunde ist. Damit wählte die Pasticceria – zufällig oder auch absichtlich – ein politisches Motiv, dass die krisenhafte Gegenwart in Frage stellt.
Während Richters Werk in seinem Kabinettformat, das Ereignis dokumentiert, scheint das auf das noch kleinere Osterei übertragene Motiv wie eine Ermahnung: Unsere Zeit ist fragiler als eine Eierschale. Und mit den Blick auf die christliche Ostergeschichte, fragt sich, ob die Motivübernahme eine Warnung an uns ist. Mit dem Tode und der Auferstehung Christi hat Gott, so die Bibel, Erbarmen mit dem Menschen gehabt und ihm die Möglichkeit gegeben, aus der Hölle zu entfliehen. Im Johannesevangelium geht mit der Auferstehung auch der Friede einher: “Friede sei mit euch!” verkündet Christus seinen Jüngern.
Doch der Mensch, wie es sich in der Geschichte abermals zeigt, schafft sich die Hölle auf Erden immer wieder selbst. Und so sollten wir der Frage, “Was war zuerst das Huhn oder das Ei”, an dieser Stelle nachgehen? Diese der Vernunft des Menschen entspringende Frage führt in ihrer paradoxen Struktur per se das Dilemma der Menschheit vor Augen. Denn unsere Gesellschaft erscheint wie ein perpetuum mobile zwischen friedlichen Miteinander und menschenunwürdiger Gewalt.
Die ovalen Meisterwerke mit Motiven der folgenden Künstler können noch bis zum 6. April bewundert werden:
- Afro Basaldella
- Federico Cari
- Piero Dorazio
- Gilbert & Georges
- Keith Haring
- Hans Hartung
- Collettivo Illimine
- Anselm Kiefer
- Franz Kline
- Emily Kame Kngwarreye
- Robert Mapplethorpe
- Georges Mathieu
- Joanna Irena Milewska
- Walter Musco
- Achille Perilli
- Robert Rauschemberg
- Mark Rothko
- Antoni Tapies
- Turkey Tolson Tjupurrula
- Cy Twombly
- Emilio Vedova
Mein Ausstellungstipp: Gerhard Richter legte 2009 der Edition (139) sein Bild “September (891-5)” zu Grunde. Der 66 auf 90 cm große Digitaldruck zwischen zwei Glasplatten ist noch bis zum 27. September im Dresdner Albertinum ausgestellt.
Mein Literaturtipp: Robert Storr: September. Ein Historienbild von Gerhard Richter, Köln 2010 [ISBN978-3-86560-792-8]
Quelle: http://gra.hypotheses.org/1623