Vom Jubiläum zur Jubiläumitis

 

Jubiläen, Jahrestage, Gedenktage, Feiertage usw. Der Zufall des Kalenders und die ihn bestimmenden astronomischen Konstellationen definieren zunehmend und heute fast schon ausschließlich, wann sich unser Geschichtsbewusstsein womit beschäftigt. Wenn unsere aktuelle Geschichtskultur – unsere tägliche Praxis der öffentlichen Selbstverständigung, Traditionsversicherung und Identitätsstiftung – wirklich derart dominant kalendergetrieben sein sollte, was bedeutet das für die Akteure der historisch-politischen Bildung?

 

Kampf um den Kuchen

Wir befinden uns im Jahr des 1.-Weltkrieg-Hypes. Der 100. Jahrestag. Mit langem Anlauf haben HistorikerInnen und ihre Verlage teils bewunderungswürdige Buchprojekte lanciert, Museen ihre Sonderausstellungen geplant, Gedenkstätten ihre Objekte herausgeputzt, Buchläden ihre Schaufenster und Kassenstapel neu sortiert, Fernsehen und Radio ihre Geschichtsredaktionen auf die Spur gebracht, Magazine Sonderhefte geplant, PrintjournalistInnen ihre Federn gespitzt. Vom Aufmerksamkeitskuchen wollen sehr viele ein möglichst großes Stück auf ihren Teller. Die deutsche Bundesregierung ist schon Mitte des vergangenen Jahres hart dafür kritisiert worden, dass sie – anders als einige Nachbarregierungen – noch kein offizielles regierungsamtliches Gedenkkonzept vorzulegen hatte.1 Als ob es für die Regierung eines der großen Staaten Europas in der Staatsschuldenkrise nichts Dringenderes zu tun gegeben hätte und als ob die deutschen Parteien mitten im Bundestagswahlkampf die Kraft für ein überparteiliches Geschichtskulturkonzept hätten aufbringen können. Dieser Tage hat die Bundesregierung mit einem Konzept nachgezogen.2 Soll man jetzt aufatmen?

Nichts Neues?

Erinnert sich noch jemand der jüngst vergangenen Hypes? – 2013: der 200. Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht und der 75. Jahrestag der Novemberpogrome, 2012: 70. Jahrestag der Wannseekonferenz, 2011: 50 Jahre Mauerbau, 2010: 20 Jahre Deutsche Einheit … die Liste ließe sich lange fortsetzen, und jeder könnte weitere geschichtskulturelle Hypes hinzufügen. – Ist es nur die kapitalistische Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit, rastlos angetrieben durch die nimmersatten Informationstechnologien, die uns zu Hörigen des Kalenderzufalls macht? Gewiss nicht zuletzt, ja. Aber diese Girlande ritualisierten Gedenkens bedient sich anscheinend auch der menschlichen Wahrnehmung und älterer Bedürfnisse der biografischen Ordnung. Jubiläen erscheinen uns z.B. nicht als menschengemacht, sondern als natürliche Dinge.3 Die Gegenständlichkeit des Kalenders verstärkt diese Täuschung. Eine klassische Entfremdung: Die Wahrnehmung bietet uns Selbstgemachtes als Fremd-Objektives. In dieser Weltwahrnehmung hat sich eine formale Begründungsanalogie privater und öffentlicher Sonder-Feiern (fröhlicher wie trauriger) Geltung verschafft – bei diesen ist es „das Runde“ einer zeitlichen Differenz, das ins Eckige eines Mindestabstands kommt. Ob solche Konstellationen privat schon immer gefeiert wurden? Eher nicht. Anthropologisch eingewurzelt sind rituelle Jahresfeiern, die sich am Fruchtbarkeitszyklus orientieren, die christlich-kirchlichen sind davon abgeleitet. Wir feiern sie alljährlich privat noch heute. Öffentlich geht dagegen die neuartige, nicht mehr organische Feierbegründung auf die breite Vorbildwirkung sächsischer Reformationsjubiläen in der Zeit großer politischer Bedrängung zurück.4 Sie knüpft an die „Erfindung“ des Jubiläums durch Papst Bonifaz VIII. (1300) an, der den Anlass aus seinem alttestamentlichen Kontext des Sabbatjahres löste (Lev 25, 8-55) und der Funktion einer kulturell-politischen Identitätsstiftung zugänglich machte.5 Diese zyklischen, aber eben nicht-annualen Sonderfeiern – die „Jubiläen“ – leben von einer doppelten Anmutung von Natürlichkeit und sind doch eine Institution spezifisch abendländischer Moderne, die von Anfang an historisch-politischen Zwecken diente und von Anfang an auch ein Einfallstor zur Kommerzialisierung der Geschichtskultur war.

Wie geht man damit um?

Die Kulturwissenschaften haben sich vor 10-15 Jahren intensiv bemüht, die Institution des „Jubiläums“ aufzuklären, ohne dass allerdings seitdem zu erkennen gewesen wäre, dass diese Forschungen in der eigenen Zunft eine läuternde Wirkung gehabt hätten. Die vielen stillen KärnerInnen im Weinberg des Herrn gehen ihrer Arbeit nach, des Jubiläumszirkus’ Erregungsschleifen bedienen sich Wenige virtuos und in der Sache auch exzellent, der Rest staunt. Die Akteure der historischen Bildung hecheln oftmals hinterher. Denn was auch sonst? Heutige Lernende leben in einer Welt ständig neuer Jubiläumskampagnen, sie haben Fragen dazu (oder sollten sie zumindest haben). Eine Politik- und Geschichtsdidaktik, die diese Jubiläumszyklik ihrer geschichtskulturellen Lebenswelt ignorierte, wäre de facto lebensfremd und lernfeindlich. Vielleicht ist es so, dass wir uns in Unterricht und Hochschullehre sogar viel intensiver mit dem gesellschaftlichen Phänomen „Jubiläum“ auseinandersetzen sollten – und zwar kritisch-analytisch. Etwas ironisierend könnte man von einer nötigen „Jubiläums-Kompetenz“ sprechen: Diese haben alle Heranwachsenden nötig.

“Jubiläums-Kompetenz” – schon alles?

Nein. Es geht um mehr. Die Tagesordnung unserer kulturellen Selbstverständigung und Identitätsdebatte sollten wir uns nicht vom Kalender und seinen interessierten AusbeuterInnen diktieren lassen. Und wenn die kapitalistische Aufmerksamkeitsökonomie dank ihrer massenmedialen Verstärker in ihrer sachfremden Dynamik wirksam geworden ist und das öffentliche Bewusstsein thematisch zu bestimmen vermag, dann sollten Intellektuelle diese Dynamik durchschaubar machen, kritisieren und eigene begründete Inhalte zu setzen versuchen: Jubiläumitis braucht Therapie. Keinesfalls sollten sie aber eine sachfremde, im Kern ökonomische Dynamik befeuern. Agenda Setting ist ein Königsrecht, wir sollten es nicht einfach aufgeben.

 

 

Literatur

  • Brix, Emil / Stekl, Hannes (Hrsg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Köln u.a. 1997.
  • Müller, Winfried (Hrsg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004.
  • Münch, Paul (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005.

Externe Links

 


Abbildungsnachweis
Auslage einer Basler Buchhandlung im März 2014 © M. Demantowsky

Empfohlene Zitierweise
Demantowsky, Marko: Vom Jubiläum zur Jubiläumitis. In: Public History Weekly 2 (2014) 11, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1682.

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