„Theorie“ ist ein geschichtsdidaktisches Zauberwort zur Professionalisierungsprovokation. Die meisten Studierenden wollen sie nicht und ertragen sie nur widerwillig. Vielen praktizierenden LehrerInnen aller Berufsphasen geht es ebenso, wenn sie ihnen in den seltenen Fortbildungen oder in den (nicht oft gelesenen) geschichtsdidaktischen Texten begegnet.
Differenz von Erwartung und Angebot
Studierende und LehrerInnen erwarten von GeschichtsdidaktikerInnen unmittelbare Unterstützung in ihrer täglichen Berufspraxis; und sie tun es gestützt auf eigene Erfahrungen als SchülerInnen, PraktikantInnen oder als beanspruchte Lehrpersonen (mehr oder minder berechtigt) auf eine bestimmte Weise. Das war so in den drei deutschen Ländern, in denen ich als Geschichtsdidaktiker tätig war und das ist so in den vier Schweizer Kantonen, in denen ich es jetzt bin. Diese variierende Differenz zwischen theoriegestütztem geschichtsdidaktischem Angebot und den Erwartungen seiner Zielgruppe sind also offenbar kein regionales, nationales oder gar persönliches Problem. Dass die Didaktik der Geschichte indes sehr viel unternimmt, um vielleicht nicht generell diesen Erwartungen, aber doch gewiss ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, das hat Michele Barricelli kürzlich dargestellt.
Rüsens Geschichtstheorie
Ich meine allerdings, dass man die Theoriebedürftigkeit der LehrerInnen-„Ausbildung“ und der alltäglichen geschichtsunterrichtlichen Praxis ergänzend auch etwas offensiver diskutieren könnte. Den Anlass dafür bietet das kürzliche Erscheinen eines bedeutsamen Buches, nämlich Jörn Rüsens neuer Historik.1 Dieses Buch ist die späte Summe der vielen originellen geschichtstheoretischen Texte, die Rüsen seit Ende der 1960er Jahre publiziert hat. Darin hat Rüsen viele Ansätze geschichtstheoretischen Denkens neu zusammengedacht und verdichtet. Rüsens Geschichtstheorie ist aber auch deshalb für die historisch-politische Bildung relevant, weil der Autor den Aspekt der lebensweltlichen Verwurzelung jedes historischen Denkens durchgehend und konsequent mitbedacht2 und weil er weiterhin die Didaktik der Geschichte immer schon als eine Dimension der Geschichtswissenschaft reflektiert hat – nämlich als eine praktisch wirksame, sich gesellschaftlich intentional artikulierende Form der Geschichtswissenschaft.3 Geschichtsdidaktik ist eine Praxis der Geschichtswissenschaft, insofern diese sich um Bildung bemüht. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Institution, eine eigenständige Teildisziplin mit einem spezifischen Rekrutierungs- und Reputationsapparat – das führt manchmal zu Verwechselungen und falschen Abgrenzungen.
Vom Unterschied zwischen Alltagstheorien …
Es ist eigentlich sehr leicht zu erklären, warum es in der LehrerInnenausbildung nicht nur nicht ohne „Theorie“, sondern auch nur mit vergleichsweise sehr viel „Theorie“ geht, und warum das Gegeneinanderausspielen von „Theorie“ und „Praxis“ in seiner entlastenden Wirkung zwar subjektiv gut erklärbar sein mag, in der Sache aber völlig inadäquat ist. „Theorie“ ist dem Worte nach erst einmal nichts anderes als „Welt-Anschauung“, es ist mehr oder minder bewusste, mehr oder minder gut begründete kontemplative Reflexion von Erfahrung. Diese Reflexion geschieht in der Regel entweder rein subjektiv und führt zu individuellen Alltagstheorien, oder sie wird gar nicht selbst geleistet und als Traditionsprodukt von Autoritäten unbesehen übernommen. Solche tradierten Theorien bilden die Substanz der institutionellen Landschaft, in die wir hineinsozialisiert werden. Wir funktionieren in dieser Landschaft normalerweise ganz gut. Alle Arten von Alltagstheorien sind bereichsbezogen; jeder Studierende hat sie von seinem zukünftigen Beruf, jede Lehrperson egal welcher Berufsphase hat sie in individueller Ausformung vom eigenen aktuellen Berufsfeld („Beliefs“).4
… und wissenschaftlichen Theorien
Was man dagegen gemeinhin „Theorie“ nennt, das sind aufs Ganze gesehen sehr seltene Sonderfälle, nämlich solche Welt-Anschauungen, die sich um explizite Begründung, Traditionskritik, Kontextualisierung und überprüfbare empirische Rückbindung an die Welt bemühen: wissenschaftliche Theorien. Sie sind individuelle Erscheinung, insofern aus ihnen jeweils die Leistung einer TheoretikerIn spricht. Sie sind aber immer auch kollektive Erscheinungen, weil sie Resultate von Bildung, von Diskussion und offenen Kontroversen darstellen. All das unterscheidet sie von Alltagstheorien. Ihr kritisches Verständnis macht den Unterschied zwischen dem Experten und dem Dilettanten. Ein Experte ist als Mensch selbstverständlich weiterhin ein Füllhorn diverser Alltagstheorien, auf seinem Spezialgebiet sollte er diese Alltagstheorien jedoch mit wissenschaftlichen ins Verhältnis gebracht und eine kritische Balance zwischen ihnen gefunden haben. Theoria Cum Praxi (Leibniz) ist also keine hehre Norm, sondern eine schlichte Tatsache unserer alltäglichen Lebensführung. Es kommt bei jeder Qualifikation, auch der beruflichen, auf die Qualität der Theorien an, die in den Prozessen der Lebensbewältigung zur Verfügung stehen, nicht auf das Ob oder Ob-Nicht.5
Studium oder Ausbildung?
LehrerInnen-„Ausbildung“ ist ein irreführender Begriff, und insofern schon ein Fehlkonzept einer Welt-Anschauung. Es geht nicht um eine Berufs-„Ausbildung“ wie die einer BäckerIn oder einer FachverkäuferIn – bei allem Respekt vor diesen Berufen und den darin tätigen SpezialistInnen. Vielmehr geht es um ein wissenschaftliches Studium, das nicht vorwiegend zur Kenntnis und Beherrschung eines Regelkorpus führen soll, sondern zur autonomen (also selbst-gesetzgebenden), anpassungsfähigen, wissenschaftlich informierten Ausübung eines Lehramtes – woraus sich im Übrigen auch die vergleichsweise hervorragende Entlohnung erklärt. Eine solche Berufsausübung setzt die immer wieder zu erneuernde Einsicht in psychologische, bildungswissenschaftliche und v.a. geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und eben auch Theorien unbedingt voraus – und das muss man gelernt haben! Praktika dienen der fallweisen Einübung relevanter Theorien und Empirien in die Situationalität des „pädagogischen Universums“. Abgeschlossen ist das Lehrerwerden mit einem solchen Studium allerdings in keiner Weise. Aus der Lehrerforschung kennen wir den langen, unsicheren und anstrengenden Weg hin zu didaktischer Routine und evtl. auch Meisterschaft.6 Das Studium soll dafür das intellektuelle, also theoretische Rüstzeug bieten, der Prozess des Lehrerwerdens selber dauert Jahrzehnte. Und es gibt auf diesem steinigen Weg keine Abkürzung.
Für Rüsen sind geschichtsbezogene Theorien gar nicht denkbar ohne lebensweltliche Anstiftung, Verankerung und Rückwirkung.7 Er führt die Praxis des Umgangs mit Theorie vor, theoretisch. Die gewiss anstrengende Lektüre und Diskussion von Rüsens Historik könnte für jeden Studierenden eine Etappe auf dem Weg des Lehrerwerdens sein, an die man sich nach vielen Jahren Berufspraxis dankbar erinnern wird. Versprochen.
Literatur
- Rüsen, Jörn: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung. In: Kosthorst, Erich (Hg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 48-64.
- Rüsen, Jörn: Grundzüge einer Historik, 3 Bde., Göttingen 1983-1989.
- Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a. 2013.
Externe Links
- Website von Jörn Rüsen: http://www.joern-ruesen.de (2.12.2013)
- Präsentation des Buches auf der Website des Böhlau-Verlages: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-21110-3.html (2.12.13)
Abbildungsnachweise
Buchcover von Rüsen, Jörn: Historik, Köln 2013 © Böhlau-Verlag Köln.
Hintergrundbild: © knipseline / pixelio.de
Empfohlene Zitierweise
Demantowsky, Marko: Praxis vs. Theorie und Rüsens neue Historik. In: Public History Weekly 1 (2013) 14, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-889.
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