Bin „mit diesem Gedanken lange schwanger gegangen […], den König von Westphalen zu ermorden“ – Selbstbeschuldigung des Oberrechenkammerreferendars Heinrich F. Kaulwell (März 1813)


RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 10268–10346, hier Nr. 10338 (u.a. Korrespondenz von François Thibault de Guntz, Generalpolizeikommissar in Braunschweig, mit J. F. M. de Bongars, Generalinspektor der Gendarmerie mit der Hohen Polizei beauftragt, 1813)

 

Nr. 10338

[Briefkopf]

Königliche Gendarmerie.

District Cassel

„Proces-Verbal […] die Arrestation des Cammer Refrendaire H. Friedrich Kaulwell aus Mannsfeld District Halle […] Saale gebürtig, und jetzt zu Cassel wohnhaft welcher sich aus wahrscheinlicher Abwesenheit des Verstandes selbst des Verbrechens angeklagt: er habe S.M. den König ermordern wollen, betreffend

Geschehen d. 23 Maerz 1813.

Heute den drei und zwangigsten Maerz achzehnhundert und dreizehn Nachts halb Ein Uhr wurden mir Jaccob Lübbers und Wilhelm Meise, beide Gendarmen im Détachement zu Cassel, Dept. der Fulda in unserem Quartier. [lat. Schrift] Waisenhausstrasse N° 977 von einigen Bewohnern des Hauses aufgeweckt und gebeten, doch zu Hülfe zu eilen, da der ebenfalls im Hause wohnende Cammer Refrendaire Friedrich Kaulwell [lat. Schrift] […] im Begriff sey, die ihm von seiner Frau versperrten Thüren mit Gewalt aufzubrechen.

Zu erst begab ich Lübbers mich herunter in der Hof, kehrte aber wieder um, da man mir sagte, es sey alles wieder gut, und wirklich hörte ich auch keine Lärm mehr.

Kaum waren wir wieder eingeschlafen, als wir gegen drei Uhr morgens abermals geweckt und zur Hülfe gerufen wurden; zugleich hörten wir, wie der p. Kaulwell [lat. Schrift] laut aus dem in der Hof gehenden Fenster nach uns rief.

Sogleich begaben wir uns in unserer Uniform [lat. Schrift] in die Stube des p. Kaulwell [lat. Schrift] und fanden wie selber vor der Kammerthür stand, und so halb entkleidet dieselbe zu öffnen von seiner Frau verlangte welche mit Tochter und Magde darin war. Die Frau weigerte sich es zuthun da sie aber hörte, daß wir in der Stube waren, und sie und […] mit ihr einige schlaffene Tochter und Magd nichts mehr zu fürchten hatten, öffnete sie die Thür; der p. Kaulwell [lateinische Schrift] stürzte nun in die Cammer und warf sich in das darin befindliche Bett.

Nach einem kleinen Wortwechsel mit seiner Frau sprang er wieder auf.

Wir fragten ihn nun nach seinem Namen, Standt, Alter und um die Ursache seines Lärmens.

Er antwortete

Ich heise Friedrich Kaulwell, bin aus Mannsfeld […] stehe hier in Cassel [lat. Schrift] bei der Rechen Cammer [lat. Schrift] als Refrendaire [lat. Schrift] und bin 51 Jahr alt.

Ohne nun die Frage wegen Ursache seines Lärmens zu beantworten sprach er statt dessen unsinniges Zeug und brach endlich dahin aus.

Ich bin unglücklich, ich habe ein Verbrechen begangen, Sie müssen mich arretiren [lat. Schrift], weil ich den festen Vorsatz hatte und schon lange damit umgegangen bin den König von Westphalen zu ermorden, ich habe stets versteckte Waffen zu diesem Zweck bei mir getragen und mit diesem Gedanken lange schwanger gegangen; um gerade jetzt will ich sterben, da mein armes Vaterland wieder in Gefahr ist. Ich bin ein Deutscher und […]eit es, und dergleichen Unsinn, ferner; er müße und wolle das wegen Todt geschaffen seyn.

Da wir nun aus allen seinen Reden nichts anders als gänzlich Abwesenheit des Verstandes vermuthen konnten; ja nehmen wir uns vor, ihn zur Verhütung großen Unglück bis an den Morgen zu bewachen, und als dann die Sache unseren Obern anzuzeigen. Der Kaulwell bat nun wir möchten ihn in […]hauen und in demselben Augenblick griff er auch meinem (des Lübber) Säbel um sich zu erstechen; aber wir hielten ihn noch zeitig genug davon ab, indem wir ihn den Säbel wieder aus den Händen […] den Kaulwell uns batt zurück werfen.

Weiter sagte er noch

Nun will ich erschossen seyn, will wie Kupfermann sterben, und wenn der König […] ist, so läßt er mich auch todt schießen, gibt er mir aber Gnade, so fange ich Rebellion [lat. Schrift] an, zu den Russen will ich u.s.w.

Aus allendessen leuchtete offenbare Abwesenheit des Verstandes her vor, nur wir hielten fürs beste, ihn bis an den Morgen zu bewachen, und dann ich in das Civil Gefangenhaus zu führen. Gegen Morgen würde er krank mußte sich legen und befindet sich noch jetzt unter Aufsicht der Gendr. Lübbers.

Wir haben hierauf diesen Verbal Process aufgenommen, um denselben Sr. Excellenz den Herrn Genral Inspecteur der Gend-rie […] zals weiteren Verfügung zu übergeben. Copie aber an dessen H. Capt. Dell. Comdt. der Königl. Gendarmerie im Fulda-Departement eingereicht. […]

Meise“.

„Hinrichtung Johann Philipp Palms“ von Unbekannt, lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg#/media/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg

„Hinrichtung Johann Philipp Palms“ von Unbekannt, lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg#/media/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg

 

Zur Quelle

Wenn es an Attentatsplänen gegen Napoleon Bonaparte nicht fehlte, zeigt die vorliegende Quelle, dass auch die von Napoleon eingesetzten Regenten in den napoleonischen Modellstaaten, hier für das Königreich Westphalen sein jüngster Bruder Jérôme Bonaparte, die Faszination des crime lèse-majesté auf sich bündelten.[1] Mit dem Referendar der Oberrechenkammer in Kassel, H.F. Kaulwell, wurde sogar ein Mitglied der westphälischen Verwaltung, von dem Gedanken an ein Attentat auf Jérôme Napoleon wahnsinnig.

Die Gendarmen, die damit konfrontiert wurden, nahmen die Sache einigermaßen gelassen. Ein Mann in Wahn durfte offensichtlich das aussprechen, was im gesunden Zustand nicht geduldet worden wäre.

In ihrem Protokoll stellten sie fest, dass das Staatsverbrechen Kaulwells sich bei näherer Untersuchung als recht harmlos herausstellte, denn dieser habe „sich aus wahrscheinlicher Abwesenheit des Verstandes selbst des Verbrechens angeklagt“. Kaulwell wurde letztendlich für labil und psychisch krank erklärt und von seiner selbst beteuerten Schuld freigesprochen. Einige ärztlichen Atteste und zwei Monate später konnte oder wollte sich Kaulwell nicht mehr an seine Absicht erinnern, den König von Westphalen ermordet haben zu wollen.[2]

Wilhelm Kupfermann, den Kaulwell in seinem Wahn als Vorbild nannte, war zehn Tage vor der Vorfallsnacht, die die Gendarmen hier protokollierten, hingerichtet worden. Er war als Lieutnant der westphälischen Armee bei Wolfenbüttel desertiert, hatte circa 30 Männer in seinen Bann gezogen, einige öffentliche Kassen gestohlen, aber war schließlich von zwei französisch-kaiserlichen Bataillons angehalten worden.[3]

Nicht nur Kaulwell hatte die Affäre Kupfermann beeindruckt. Die Berichte der Polizeiagenten melden, dass vielerorts darüber gesprochen wurde.[4] In der Gazette de Berlin wurde ein Artikel über Kupfermann veröffentlicht, deren Verbreitung im Königreich Westphalen von der Hohen Polizei verfolgt wurde.[5]

 

Zitiert

Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807–1813, München 2013 (Pariser Historische Studien, 100), S. 317f.

 

Abbildung

Darstellung der Hinrichtung Johann Philipp Palms in Braunau am 26. August 1806 durch französische Truppen. Palm wurde vorgeworfen die antifranzösische Schrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ verbreitet zu haben.

 

[1] Über das Pamphlet in Briefform von Kocken und Bielstein, das Pfarrer Altenburg in Verdacht zu bringen beabsichtigte, ein crime lèse-majesté gegen den König Jérôme zu planen, vgl. Claudie Paye, Postwesen und Briefkultur im Königreich Westphalen. Das offizielle Netz und sein geheimes und privates Pendant (1807–1813), http://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00793224 (Zugriff vom 25.04.2015).

[2] Vgl. RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 10268–10346, hier Nr. 10337.

[3] Vgl. GStA PK, V. HA, Nr. 741, Akte der Hohen Polizei im Königreich Westphalen: Schreiben Nr. 576 PS. von Moisez an J. F. M. de Bongars, 02.03.1813; RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., Nr. [13852], Registre des personnes arrêtées, où sont indiqués les NN d’ordres, date de l’entrée, les noms et prénoms des susdites personnes, les signalements, les motifs de l’arrestation, les décision, dates de la sortie et les observations différentes la-dessus, depuis le 1811, 1812, 1813, Eintrag Nr. 112

[4] Vgl. RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 9882-9987, hier Nr. 9952, Rapport Nr. 57 vom Polizeiagent WZ, 14.03.1813

[5] Vgl. Lha Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, B 18 II. 123. II. a., fol. 233.

Quelle: http://naps.hypotheses.org/1249

Weiterlesen

Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, 1


AN Paris, BB11 67, Autorisations à des Français d’entrer ou de rester au service des puissances étrangères: Demandes d’autorisations pour entrer ou rester au service des puissances étrangères (décret du 26.8.1811), Royaume de Westphalie, liasse Colinet-Acloque

„Joseph, Claude, Anne, Le Gras de Bercagny, né à Tours, département d’Indre et Loire, le 23 mai 1763.

Éléve de l’école Royale militaire, en 1770. officier au Régiment de Béarn, infanterie, depuis 1778, jusques en 1789.

Controleur général des services militaires, à l’armée d’Italie, en l’an 7.

Secrétaire général de la Préfecture de la Dyle, au mois de frimaire, an 8.

est entré au service de S.M. le Roi de Westphalie avec l’autorisation de S.E. le Ministre de la Police générale, le 20 juillet 1808, en qualité de secrétaire du Cabinet du Roi ; puis Directeur général de la haute Police du Royaume, Préfet de Police, actuellement Préfet du Palais de S.M. et surintendant de ses spectacles ; nommé le 11 de ce mois Préfet du département de l’Elbe ;

n’a de biens en France qu’à St. Domingue et à l’isle de la Réunion.

Certifié véritable.

Le Gras de Bercagny”.


Zur Quelle:

Ein französisch-kaiserliches Dekret vom 26. August 1811 machte es für die französischen Auswanderer, die im Ausland Anstellung gefunden hatten, notwendig, beim französischen Justizminister um die Erlaubnis zu bitten, weiterhin im Ausland dienen zu dürfen. Die westfälischen Staatsdiener französischer Herkunft wurden verpflichtet, einen kaiserlichen Patentbrief für die Anstellung im Königreich Westphalen unter Beibehaltung ihrer französischen Staatsbürgerschaft zu beantragen oder sich für die Naturalisation als westphälische Staatsbürger zu entscheiden. Patent- beziehungsweise Naturalisationsbriefe, die diese Erlaubnis gewährten, wurden ihnen daraufhin in den meisten Fällen erteilt. Die Mehrzahl beantragte Patentbriefe.

Die vorliegende biographische Notiz gehört zum Antrag auf einen Patentbrief von Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, der als Generaldirektor der Hohen Polizei im Königreich Westfalen von September 1808 bis Oktober 1809 tätig war. Die politische Polizei im Königreich Westfalen zeichnete sich damit aus, dass die politische Überwachung vornehmlich nach innen gerichtet war, gegen die eigene Bevölkerung. „Diese gegen ‚Volksaufwiegler’ im Innern gerichteten Sicherheitsmaßnahmen zeigen den Wandel an von der traditionellen, gegen den äußeren, auszukundschaftenden Feind gerichteten ‚hohen geheimen Polizei’ hin zur ‚modernen’, im 19. Jahrhundert sich ausprägenden politischen Polizei” (Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”, S. 49). Diese Ausrichtung nach innen, die andere Polizeien erst später erfuhren, war bereits 1808 bei der Errichtung einer spezifischen Generaldirektion der Hohen Polizei im Königreich Westfalen grundsätzlich. Wenn auch für die politische Polizei keine vergleichbaren Vorläufer in der deutschen Staatenwelt genannt werden können, so war nach 1813 Geheimpolizei zu einem geläufigen staatssichernden Instrument gegen staatsgefährdende Untertanen geworden. Diese stark kritisierte Übernahme des französischen Konzepts durch die Obrigkeiten deutscher Territorien nach 1813 geschah auf breiter Basis. Die westfälische Hohe Polizei nahm in mehrfacher Hinsicht Einfluß auf die Entwicklung in den deutschen Landen: Zum einen spielte sie bei den erwähnten Anfängen der politischen Polizei eine wichtige Rolle, zum anderen entwickelte sich infolge ihrer Erscheinung eine kritische Öffentlichkeit gegenüber der Institution Geheimpolizei. Durch die öffentliche Debatte um Polizei und politische Polizei, die sie auslöste und die lange nach 1813 fortgesetzt wurde, initiierte sie unbeabsichtigt eine Entlarvungs- und kritische Rezensionskultur gegenüber politischer Polizei.

Die polizeilichen Strukturen im Königreich Westfalen begannen sich erst im Herbst 1808 zu verändern, nachdem es am 4.–5.9.1808 in Braunschweig zu einem ernstzunehmenden Aufruhr nach einem Streit im Theater zwischen in Zivil gekleideten Gendarmen und Braunschweiger Bürgern. Durch ihn soll Napoleon dazu veranlaßt worden sein, am 14.9.1808 neben der Anordnung der strengen Bestrafung der „Anstifter dieser Emeute”, die französischen Gendarmen in Westfalen für „unnütz” zu erklären und nach Frankreich zurückzurufen, um sie durch ortsansässige bzw. deutschsprachige Gendarmen ersetzen zu lassen (Napoleon, zitiert nach, Goecke, Das Königreich Westphalen, S. 74).
Ein von der Polizei abgefangener Brief des Freiherrn Karl vom Stein an den Fürsten Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein vom 15.8.1808, der auf eine antinapoleonische Stimmung in Westfalen schließen ließ,
hat außerdem nach Meinung einiger Historiker das königliche Dekret vom 18.9.1808 verursacht (Vgl. u.a. Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 168, 170; vgl. Ders., Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei, S. 86). Nach diesem Dekret wurde eine Generaldirektion der Hohen Polizei unter der Zuständigkeit des Justiz- und Innenministeriums errichtet. Generaldirektor wurde Joseph Claude Anne Legras de Bercagny, der von Kassel aus die allgemeine Ruhe und Ordnung im Königreich Westfalen überwachen sollte. Mit dieser Maßnahme wurde der gesamte Polizeiapparat der bisherigen direkten Aufsicht des Justiz- und Innenministers Joseph Jérôme Siméon teilweise entzogen. Der Generaldirektor sollte künftig mit allen Ministern korrespondieren und obgleich er dem Justiz- und Innenminister unterstand, konnte er bald seine Eigenständigkeit behaupten. Wahrscheinlich um Bercagnys Geschäftsführung im Ressort der politischen Polizei sich ungehindert entfalten zu lassen, spaltete man am 1.1.1809 das Justizministerium vom Ressort des Innern und erreichte so, daß der als Justizminister weiterbeschäftigte Siméon bedeutende Teile seiner amtlichen Befugnisse hinsichtlich der Polizeigeschäfte einbüßte. Die Präfekten, die bis zum 18.9.1808 für die Hohe Polizei zuständig gewesen waren, wurden nicht mehr allein mit dieser Aufgabe betraut. Ihre direkte Verbindung mit dem Justizminister endete. Präfekten und Gendarmerie unterstanden nunmehr dem Generaldirektor. Am 6.12.1808 setzte man darüberhinaus besondere Polizeikommissare für die Gemeinden mit über 5000 Einwohnern ein. Hinzu kam die Bestellung von Generalkommissaren für die acht Departements im Dezember 1808 (Ernennung am 11.11.1808), die unter der Führung des Generaldirektors der Hohen Polizei standen. Schließlich wurden durch ein Dekret vom 5.1.1809 die Aufgaben der einstmaligen Polizeipräfektur mit denen der Generaldirektion der hohen Polizei vereinigt.
Tatsächlich soll erst mit dem Amtsantritt Bercagnys der Aufbau eines Stabs von Agenten und Spitzeln im Königreich angesetzt haben. Bercagnys Definition der Hohen Polizei lautete: Es sei „hauptsächlich diejenige Polizei zu verstehen, welche zum Zweck habe, den Verbrechen gegen den Staat oder die geheiligte Person des Königs vorzubeugen und den verräterischen Umtrieben solcher Personen nachzuspüren, welche die Leichtgläubigkeit des Volkes zur Erregung von Unruhen missbrauchten” (Bercagny, zitiert nach: Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 170).
Mit den Aufständen des Jahres 1809 geriet die Generaldirektion unter Legitimationszwang, so dass die Überwachung verschärft wurde. Die Praktiken der Ära Bercagnys sollten schon bald zu einem für die Entwicklung der westfälischen Polizei folgenreichen Skandal führen. Der Generalsekretär der Hohen Polizei, Schalch, hatte sich Zugang zum Kabinett des Finanzministers verschafft und wurde vom Ministier selbst beim Durchstöbern seiner Papiere überführt. In der Folge forderte Bülow Genugtuung vom König. Sämtliche Minister, Siméon an ihrer Spitze, schlossen sich an. Bercagny mußte seinen kompromittierten
Generalsekretär fallenlassen, der nach kurzer Haftzeit im Kastell zu Kassel des Landes verwiesen wurde − später arbeitete er jedoch wieder für die westfälische Polizei. Die Affäre führte jedoch dazu, daß der König Bercagnys Machtmonopol einschränken musste. Er enthob ihn seines Amtes als Generaldirektor und betraute ihn mit der wiederaufgelebten Polizeipräfektur der Stadt Kassel. In allen Departements fiel am 14.10.1809 die Hohe Polizei wieder den Präfekten zu und somit erlangte Siméon wieder mehr Einfluß auf die Gestaltung der Hohen Polizei.

Nach einer angeblichen Verschwörung, die im Mai 1811 als erfunden aufgedeckt wurde, verloren einige Geheimagenten Bercagnys ihre Stellungen. Ihm wurde infolgedessen die Polizeipräfektur entzogen, deren Aufgaben der König dem neuen Chef der Hohen Polizei seit April 1811, Jean François Marie de Bongars, übertrug. Bercagny wurde zunächst Kammerherr und Intendant der Schauspiele, was am Hof als Zeichen der Ungnade Jérômes gewertet wurde. Im November 1811 ernannte ihn der König zum Palastpräfekten und Oberintendanten der Schauspiele. 1812 wurde Bercagny schließlich als Präfekt in Magdeburg eingesetzt.


Weiterführend:

Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft
im Herzen Deutschlands 1807–1813. Nach den Quellen dargestellt von R. Goecke. Vollendet und hg. von Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888.

Wolfram Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14).

Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westfälischen Herrschaft 1806–1813, von der philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen mit dem ersten Preise der Beneke-Stiftung gekrönte Schrift, 2 Bde., Hannover, Leipzig 1893–1895.

Friedrich Thimme, Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei des Königreichs
Westfalen, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 3 (1898), S. 81–147.

Nicola Peter Todorov, L’administration du royaume de Westphalie de 1807 à 1813. Le département de l’Elbe, Saarbrücken 2011.

Abb. Schnupftabakdose, bezeichnet „In vino veritas”, Manufaktur Stobwasser, 1. Drittel des 19. Jh. Im Hintergrund an der Wand ein Gemälde mit einem Portät Napoleons.

 

Quelle: http://naps.hypotheses.org/293

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„habe im gebrochenen Deutsch gefragt, was da angeschlagen sei”


RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 17, Nr. 10 494–10 686, hier Nr. 10 507: Abschrift einer Deklaration von J. H. G. Oppermann, protokolliert von Hoffmann, Polizeikommissar in Braunschweig, 2. 4. 1813.

„[…] den Tags Befehl d. 29.sten März a.c. in welchen bekannt gemacht worden, daß mehrere Russen [lateinische Schrift] getödtet und zu Gefangnen gemacht worden, und welches an die Ecken der Gaßen angeschlagen worden war, in der Gegend des August Thors abgerissen habe […] Gärtner Oppermann […] dabei gegenwärtig […]

Johann Heinrich Gebhardt Oppermann [deklarierte gemerkt zu haben, wie] mehrere Leute an der Ecken gestanden, und den Tags Befehl gelesen hätten, er sei ebenfalls hinzu getreten, um denselben zu lesen. Ein Französischer Cuirassier habe ebenfalls unter diesen Leuten gestanden, habe im gebrochenen deutsch gefragt, was da angeschlagen sei. Es sei denselben hierauf gesagt, daß 200 Mann Russen getödtet und 17 zu Gefangenen gemacht worden, der Franzose habe hierauf erwiedert.

‚Spricht man die 200 Mann Russen todt, 17 Cosacken Gefangen, aber man sagt nicht wie viel Franzosen todt und gefangen genommen worden. Ich bin in Moscau gewesen, und weiß die Russen zu schätzen, und noch hinzugesagt S. V. Scheiss, und habe in 2 malen von der Ecken den Tags Befehl abgerißen. […]

Oppermann-Hoffmann”. 

 

Zur Quelle:

 

Diese Quelle ist in zwei Hinsichten interessant: Zum einen zeigt es, wie Übersetzungsprozesse spontan und unkompliziert zustande kamen. Beispielsweise konnte ein Nachbar oder Fremder als Interpret dienen. Im Protokoll vom Polizeikommissar Hoffmann wird deutlich, dass er auf der Suche nach einem französischen cuirassier, der mithilfe der umstehende Bevölkerung den Inhalt des zweisprachigen Anschlags erfuhr. Er sprach zwar nur gebrochen Deutsch, aber seine Zweisprachigkeit genügte, um die versammelten deutschsprachigen Menschen auf der Straße vor dem Anschlag anzusprechen und mit ihrer Hilfe den Inhalt des Anschlags zu erschließen. Aus einem anderen Dokument der gleichen Polizeiakte (Polizeibericht vom Generalpolizeikommissar der Hohen Polizei François Thibault de Guntz an seinen Vorgesetzten Bongars) erfährt man, dass der Tagesbefehl vom 29. März zweisprachig war. Daraus ergibt sich, dass der Cuirassier weder das Deutsche noch das Französische selbst nachlesen konnte, weil er des Lesens nicht mächtig war. Dies bedeutet, dass ein zweisprachiger Analphabet französischer Herkunft über Dritte, nämlich einsprachige deutsche Schriftsässige, durch Vorlesen auf Deutsch trotz geringer deutscher Sprachkenntnisse Zugang zum Inhalt des Anschlags erhielt – und dies, obwohl der gleiche Text eigentlich auch in seiner Muttersprache zur Verfügung stand. Da der französische cuirassier  nicht lesen konnte, hatte er sich in der Hoffnung zu ihnen gesellt, er werde unter den Leuten, die sich um den Anschlag versammelt hatten, bestimmt jemanden finden, der ihm entweder den französischen oder den deutschen Text vorlesen würde.

Zum anderen habe der Cuirassier den Anschlag abgerissen, so der Gärtner Johann Heinrich Gebhardt Oppermann und empört zum Besten gegeben, dass er der napoleonischen Kriegspropaganda kein Glauben mehr spende, nachdem er den Rußlandfeldzug miterlebt habe. Der französische cuirassier äußerte mit dieser Aktion und seinem Wutausbruch seine Desillusion über die Kriegszüge Napoleons und die Informationspolitik der französisch-kaiserlichen und westphälischen Macht, die mehr eine propagandistische Desinformationspolitik war.

 

Weiterführend:

Roger Chartier (Hg.), Pratiques de la lecture, Marseille 1985.

Erich Pelzer, Die „Bulletins de la Grande Armée” als Werkzeuge napoleonischer Propaganda, Selbstdarstellung und Legendenbildung, in: Rüdiger Schmidt, Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die Konstruktion von Tradition. Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft (1799–1815), Münster 2010, S. 209–234.

 

Zitiert/verwendet, in:

Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig”. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807−1813, München 2013, S. 127.

 

Abbildung Banner: C. G. H. Geißler, Französische Soldaten, welche auf dem Marsche zur Armee unter einem Baum biwaquieren, Radierung, um 1807, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Gei III/5a, CC BY-NC-ND 2.0 DE

Quelle: http://naps.hypotheses.org/388

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