Seiferts Seidenkleid

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Jaroslav Seiferts Gedichtband „Samá láska“ („Lauter Liebe“) erschien 1923 in dem Prager linksorientierten Verlag „Večernice“ von Vortel und Rajman.

Die Osteuropasammlung der Bayerischen Staatsbibliothek besitzt ein bemerkenswertes Exemplar dieser Erstausgabe (BSB-Signatur: Res/81.91489).

Das ursprünglich broschierte Büchlein ist mit einem buntgemusterten Seideneinband versehen, das Originaldeckblatt ist hinten mit eingebunden.

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Ebenfalls hinten mit eingebunden ist ein Doppelblatt mit einem handgeschriebenen Gedicht aus der Feder von einem biographisch nicht näher fassbaren Dr. Josef Šebek. Es ist in roter und schwarzer Tinte ausgeführt und als „Komunistický manifest pracujích žen“ („Kommunistisches Manifest arbeitender Frauen“) überschrieben.

4Der Text dieses „Manifests“ persifliert expressis verbis jenes Paradestück Seifertscher proletarischer Poesie -  die Gedichtsammlung „Samá láska“ – dem es im Fall der vorliegenden Erstausgabe gleichsam einverleibt ist.

Wenn es denn wahr ist, was Šebek in der Schlussanmerkung zu seinem Spottgedicht mitteilt, geht die Persiflage allerdings weit über den Text hinaus – sie wird gewissermaßen stofflich: Das „Manifest“ hätte nämlich im Literaturwettbewerb einer renommierten Prager Textilienhandlung zu Weihnachten des Jahres 1923 Seide im Wert von 200 Kronen gewonnen. Aus der Seide sei ein Kleid für seine kleine Tochter Šárka geschneidert und in einen übrig gebliebenen Rest Stoff dann Seiferts „Samá láska“ samt den sie persiflierenden preisgekrönten „Versen“ von deren Autorenhand  – zum Andenken! – eingebunden worden.

5Der raffinierte, ja perfide Spott des zweifellos lustigen Herrn Dr. Šebek hinderte seine Tochter keineswegs daran, den Dichter Seifert zu lieben. Wie aus diversen mit Bleistift – vermutlich vom Vater und, später, der erwachsenen Tochter – geschriebenen Bemerkungen hervorgeht, war sie es, die das Bändchen (eventuell samt dem dazu passenden Kleidchen) zu ihrem 11. Geburtstag bekam. Sie war es, die daraus auf einer Weihnachtsfeier  des Jahres 1926 oder 1927 das „Neujahrsgedicht“ („Báseň k Novému roku“) vortrug. Und sie war es, die am 21. Januar 1986 bei plus 10 Grad mit dem Hund Heidi und diesem Buch auf dem Prager Laurenziberg saß – am Tag von Seiferts Begräbnis.

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Jaroslav Seifert selbst signierte auf dem Titelblatt am 18. Oktober 1930.

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Filip Hlušička

 

 

Quelle: http://ostbib.hypotheses.org/535

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