Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/11/20/beschneidung-ein-nachtrag.aspx
Letzter Eintrag: Beschneidung, ein Nachtrag
Vielleicht habe ich unlängst nicht deutlich genug gemacht, was die Geschichte der Beschneidung im antiken Judentum für die aktuelle Debatte nun ‘positiv’ bedeuten könnte. Eines sollte aber deutlich geworden sein: Eine simple Gegenüberstellung von Innen und Außen, Widerstand und Druck, die Juden und die Umwelt verfehlt die Komplexität der Dinge. Denn auch innerjüdisch gab es eben stark differierende Positionen und gab es zugleich Dynamiken, die von „außen” stark beeinflußt waren – nach dem Makkabäeraufstand und der Bar-Kochbah-Katastrophe in die Richtung eines Festhaltens an der Säuglingsbeschneidung als einem Kern der Gesetzesobservanz und des Bundesgedankens. Es erscheint mir allerdings nicht geboten, von außen in einem solchen innerreligiösen und innerkulturellen Disput Partei zu ergreifen und etwa zu sagen, es sei besser, wenn sich eine bestimmte Richtung durchsetze, die zum Beispiel die Beschneidung aus der Perspektive einer kritischen Historisierung für nicht-essenziell hält – ein Argument, das sich bekanntlich auch gegen das Zölibat in der Katholischen Kirche oder gegen viele dominierende Ansichten im gegenwärtigen Islam in Anspruch nehmen ließe. Nietzsche hat in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben das Argument treffend zugespitzt (wenn auch wohl nicht in erster Linie mit Blick auf Religionen):
„Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. (…) (Aber) da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unserer Erkenntniss, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her Angezogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt.
[...]
Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/20/beschneidung-ein-nachtrag/
Europäische Aufklärung gegen jüdische Beschneidung – seit 2200 Jahren?
Europäische Aufklärung gegen jüdische Beschneidung – seit 2200 Jahren?
Ein Ereignis ist zu vermelden. Wann schafft es ein hellenistischer König schon mal auf die Titelseite einer Samstagsausgabe der F.A.Z.? Und sogar in den großen Leitartikel rechts unten?
Im Tenor ist das, was Reinhard Bingener („Geist und Fleisch, 10. Nov. 2012) über die aktuelle Debatte um die Beschneidung jüdischer Kinder schreibt, historisch wohlinformiert und grundvernünftig: Das vielbeschworene Kindeswohl kann mit guten Gründen auch im Hineinwachsen in eine religiös-kulturelle Tradition gesehen werden, und die Unterstellung, „ganze Bevölkerungsgruppen vergingen sich am Wohl ihrer Kinder, ist abwegig und anmaßend”. Das Argument hatte schon vor ein paar Monaten Patrick Bahners messerscharf ausformuliert („Ein Rechenfehler”, F.A.S. v. 22. Juli 2012): Ein Urteil eines deutschen Strafgerichts, das zu befolgen zur Konsequenz hätte, daß sämtliche Juden das Land verlassen müßten, könne nicht richtig sein. Es sei gar nicht in Betracht gezogen worden, daß die Abwägung zwischen Nutzen und Schaden des Eingriffs bei Kindern aus verschiedenen Familien verschieden ausfallen könnte. (Als ich diesen Eintrag hochlud, gab es zu Bingeners Kommentar schon über 90 Reaktionen – soweit ich sehe, geht aber keiner auf das ein, was mich hier interessiert.)
Bingener begibt sich allerdings in seiner Argumentation aus Sicht eines Historikers auf sehr dünnes Eis, denn er universalisiert über mehr als zwei Jahrtausende hinweg. Schon griechische und römische Autoren machten sich „zweitausend Jahre vor Erfindung von Talkshows und Internetforen” das jüdische Gebot der Beschneidung so zurecht, wie sie es brauchten: „Vernunft und Zivilisation können auf archaische Riten rückständiger Minderheiten keine Rücksicht nehmen! Im Namen des Rechts ist es sogar geboten, unaufgeklärte Minderheiten vor der Verstümmelung ihrer Kinder zu schützen!” Auf lange Sicht habe sich also wenig geändert: „Viele Europäer halten für fortschrittlich, was sie schon immer für fortschrittlich hielten.”
Nun kann man, erstens, mit guten Gründen fragen, ob die antiken Autoren, die – meist sehr beiläufig – die Beschneidung (hebr. bĕrit mila, griech. peritomê, lat., circumcisio) kritisieren, als „Europäer” angesprochen werden sollten. Allerdings hat sich das moderne Europa immer wieder in konstitutiver Weise auf die Antike bezogen, und im Sinne der Selbstschöpfung, die zugleich eine ‘europäische’ Antike hervorgebracht hat, mag der Bogenschlag hingehen. Aber was machen wir in der Streitfrage Beschneidung und aus dieser Perspektive mit Paul Valerys Satz, unbedingt europäisch sei, was „von drei Quellen – Athen, Rom und Jerusalem – herrührt”?
Und was die antiken Autoren angeht, so lohnt es sich, genau hinzuschauen. Herodot erwähnt im 5. Jahrhundert v.Chr. die Beschneidung ganz neutral als einen Brauch, der geeignet ist, eine gemeinsame Abstammung von Völkern zu identifizieren. Die Beschneidung ist hier also ein Instrument ethnographischer Analyse; die Juden werden gar nicht erwähnt. Alle Zeugnisse, die auf die Juden eingehen und sich in der Tat vielfach abfällig über die Beschneidung äußern, sind sehr viel später entstanden. Und sehr viel später heißt hier: nach dem Makkabäeraufstand in den 60er- und 50er-Jahren des zweiten Jahrhunderts v.Chr. Dazu gleich. Verstärkt wurde das Problem durch die Konstellation, bildeten die Juden doch nicht nur eine – im antiken Polytheismus ganz unauffällige – Religionsgemeinschaft, sondern zugleich ein Ethnos mit politischen und sozialen Strukturen und dem Anspruch auf Autonomie oder gar Herrschaft (auch über Nichtjuden).
Doch zurück zum Leitartikel. Auf die schiefe Ebene gerät sein Autor mit einer historisch höchst waghalsigen Einschätzung, die in gewisser Weise aus seiner Idee von der ‘europäischen Antike’ (s.o.) folgt. Er schreibt (zutreffen), weder Assyrer noch Perser – Großreiche, zu denen die Juden in ihrer formativen Phase vom siebten bis vierten Jahrhundert gehörten – hätten an der Beschneidung Anstoß genommen. „Das änderte sich, als nach dem Siegeszug Alexanders des Großen erstmals europäische Mächte über Palästina herrschten, die mit Unverständnis und Abscheu auf Beschneidungen reagierten. Dass beschnittene Jungen in den Gymnasien gehänselt wurden, war eine vergleichsweise harmlose Seite des in der Folge aufkommenden Assimilationsdrucks. Schwerer wogen gesetzliche Verbote der Beschneidung. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als 167 vor Christus Antiochus IV. den Versuch unternahm, die jüdische Religion gewaltsam zu hellenisieren. In den Makkabäerbüchern, die den folgenden Aufstand schildern, wird von Hinrichtungen ganzer Familien berichtet, weil sie einen Neugeborenen beschneiden ließen.”
Es sträubt sich schon, das Seleukidenreich als eine „europäische Macht” bezeichnet zu finden. Dieses in vielerlei Hinsicht am meisten mit Problemen belastete der sog. Diadochenreiche war großenteils mit dem ehemaligen Perserreich (ohne Ägypten) identisch und demzufolge – anders als das ptolemäische Ägypten – von zahlreichen Ethnien, Kulturen und Religionen bevölkert. Etwas anderes als Toleranz gegenüber diesen vielfältigen Traditionen kam für die neuen Herren gar nicht in Frage – solange die Angehörigen des Reiches Steuern zahlten und gehorchten. Es waren jedenfalls nicht die seleukidischen Herrscher, die „mit Unverständnis und Abscheu auf Beschneidungen reagierten”. Dem Leitartikler erscheinen die Phänomene wie ein Kontinuum: europäische Mächte (als Rahmen) – im Gymnasion wegen der Beschneidung gehänselte Jungen – „in der Folge aufkommender Assimilierungsdruck” – „gesetzliche Verbote der Beschneidung” – Versuch einer gewaltsamen Hellenisierung durch den seleukidischen König Antiochos IV. Doch die Dinge waren viel komplizierter. Deshalb muß ich etwas ausholen.
Die Geschichte der Juden im Altertum und die Entwicklung des Judentums zu einer ethnisch basierten Religion war in vielerlei Hinsicht Produkt einer Wechselwirkung mit den Großreichen der jeweiligen Zeit. Die Konstellationen wechselten zwischen machtbasierter Unabhängigkeit (so zuerst um 1000 unter David und Salomon), Teilautonomie und weitgehender Unterwerfung (Höhepunkt: die sog. Babylonische Gefangenschaft im 6. Jh.; erst in dieser Zeit entsteht der exklusive Jahwe-Monotheismus, der so kennzeichnend für das Judentum ist). Die Juden in Palästina gerieten durch den Alexanderzug nun in der Tat in den Bannkreis der hellenistischen Mächte, konkret: der Ptolemäer und der Seleukiden.
Mit dem Makkabäeraufstand im zweiten vorchristlichen Jahrhundert fand der vielleicht am weitesten gehende Versuch einer Annäherung des antiken Judentums an seine Umwelt ein jähes und folgenreiches Ende. Er hatte zwei weitreichende Folgen: Einerseits bekräftigte er das Selbstbild der Juden und ihre spezifische Lebensform, also unbedingte Gesetzestreue und Abgrenzung nach außen als Maßstab von Zugehörigkeit zum Auserwählten Volk. Andererseits prägte er dem Fremdbild, das sich andere Völker über die Juden machten und das bis dahin vor allem bei den Griechen von freundlicher Gleichgültigkeit geprägt war, einige häßliche und lange fortwirkende antijüdische Züge ein. Doch „vor der Makkabäerzeit gibt es in der griechischen Literatur keinen antijüdischen Satz, in der Geschichte keinen judenfeindlichen Akt” (Chr. Habicht).
Zentrum der jüdischen Gemeinde war nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft der Zweite Tempel in Jerusalem. Die religiöse und politische Führung der Juden lag in den Händen des Hohenpriesters und der höheren Priesterschaft. 332 v.Chr. wurde Palästina von Alexander d.Gr. erobert und geriet damit unvermeidlich unter den kulturellen Einfluß des Hellenismus, das heißt der griechisch geprägten Stadtkultur. Bürger einer Polis besaßen weit mehr Ansehen als die gesichts- und geschichtslose Landbevölkerung; sie konnten sich als Teilhaber einer überlegenen, modernen Weltzivilisation fühlen und diesem Gefühl in der Ausgestaltung ihrer Städte Ausdruck verleihen. Das anzustreben war nicht etwa bloßer Opportunismus. Man vermag sich leicht vorzustellen, daß z.B. das Selbst- und Körperbewußtsein der Griechen, die Götter und Menschen in idealisierender Nacktheit darstellten, daß die Freude am schönen und freien Körper eine ungeheure Anziehungskraft ausübte, auch auf große Teile der Jugend. Die griechische Kultur erschien vielen Orientalen im Gegensatz zu ihren eigenen, angestammten Lebensformen ganz neu und sehr dynamisch, war sie doch die Kultur der neuen, militärisch und politisch überlegenen Herren. Mit dieser Kultur kamen nun auch die Juden in Palästina in Kontakt. Sich ihr anzupassen war nicht bloße Mode; eines „aufkommenden Assimilierungsdrucks” (Bingener) von außen bedurfte es nicht – und einen solchen gab es auch nicht.
Doch die ‘Hellenisierung’ bildete nicht den entscheidenden Anstoß. Vielmehr überkreuzten und ballten sich im Makkabäeraufstand mehrere, teilweise voneinander unabhängige Konfliktlinien. Zum einen: In der Diadochenzeit war Judäa zwischen den Reichen der Ptolemäer in Ägypten und der Seleukiden in Vorderasien umstritten. Es fiel zunächst an die Ptolemäer. Jerusalem und die umwohnenden Juden wurden vom Hohepriester und einem vom weiteren Priesteradel gestellten Rat, dem Sanhedrin, griech. Synhedrion regiert. Diese Regierung war auch der Ansprechpartner für die Oberherren und vor allem für den reibungslosen Zufluß der Tribute verantwortlich. In der Sicht der ärmeren landbebauenden Bevölkerung erschien die jüdische Oberschicht aus Priesteradel und Großgrundbesitzern leicht als Büttel der fernen Herren. Daß viele Vertreter dieser Oberschicht auch eine gewisse Neigung zur Kultur der Fremden entwickelten, indem sie etwa deren Sprache erlernten und ihre Namen gräzisierten, machte die Sache naturgemäß nicht leichter. Vereinfacht gesagt waren in der Sicht dieser Menschen die Armen eher fromm, die Reichen eher hellenisiert; erstere lebten eher auf dem Lande, letztere eher in Jerusalem.
198 war Judäa an die Seleukiden gefallen. Antiochos III. hatte den Juden gestattet, gemäß ihren traditionellen Gesetzen zu leben, also die Torah als Grundlage der jüdischen Gemeinschaft weiterhin hochzuhalten. Etwas anderes als religiöse Toleranz und weitgehende Selbstverwaltung und Rechtsprechung für die einzelnen Untertanengemeinden war angesichts der Größe und Vielgestaltigkeit des Seleukidenreiches auch gar nicht denkbar. Aber der Großmachtanspruch der Seleukiden und vor allem der anhebende Konflikt mit Rom, in dem sie militärisch immer den kürzeren zogen und große Kriegsentschädigungen zahlen mußten, kosteten sehr viel Geld, das von den Untertanen aufgebracht werden mußte. Die seleukidischen Könige verfolgten gegenüber den Juden zwei Ziele: Fortdauer der Loyalität und Ruhe einerseits, Steigerung der Einnahmen andererseits. Konträre Ziele gleichzeitig zu verfolgen ging schon in der Antike nicht lange gut. Das war die eine Ebene. Eng mit der Großmächterivalität verbunden waren die Machtkämpfe innerhalb der jüdischen Aristokratie. Auch der Sanhedrin stellte keineswegs ein homogenes Gremium dar; er umfaßte auch sehr verschiedene Richtungen des Gesetzesverständnisses. Um das Amt des Hohepriesters konzentrierten sich die machtpolitischen Auseinandersetzungen. Im Vorfeld des Makkabäeraufstandes setzten die um dieses Amt und die damit verbundene Machtstellung streitenden Aristokraten ein Mittel ein, das sich als explosiv erweisen sollte: sie erwarben das auf Lebenszeit vom König vergebene Amt durch große Geldbeträge und noch größere Geldversprechen.
Dies begann nach dem Regierungsantritt von Antiochos IV. Epiphanes 175 v.Chr., als ein gewisser Jason das Amt des Hohepriesters gegen erhöhten Tribut und eine hohe einmalige Zahlung erwarb. Als Gegenleistung erhielt Jason die Zusage, in Jerusalem ein Gymnasion und eine Ephebie, also griechisch geprägte Sport-, Kultur- und Bildungseinrichtungen einrichten sowie die Bürgerliste für die ins Auge gefaßte Polis aufstellen zu dürfen. Das Gymnasion sollte wie die Ephebie das sichtbare Zeugnis für diese Anpassung an griechische Lebensformen darstellen. Die Initiative zu dieser politischen und kulturellen Hellenisierung ging dabei mitnichten von Antiochos IV. aus. Vielmehr hatte Jason offenbar Grund zu der Annahme, daß dieser Akt in weiten Kreisen der jüdischen Oberschicht auf Zustimmung stoßen würde. Sogar viele Priester verbrachten ihre Zeit lieber mit Diskuswerfen, als daß sie ihren Tempeldienst versahen. Die Aristokraten, die am Wohlstand und der Weltoffenheit der Griechen teilhaben wollten, gingen gern ins Gymnasion und schickten ihre Söhne bereitwillig zur Ephebie, ja, einige ließen sich sogar ihre beschnittene Vorhaut operativ wiederherstellen (epispasmos), um beim nackten Turnen keinen Anstoß zu erregen (davon war hier schon einmal im Zusammenhang mit Judäa in der Römerzeit die Rede). Doch solche Radikalität blieb wohl vereinzelt. Insgesamt richtete sich die Entscheidung für Gymnasion, Ephebie und Polisverfassung nicht gegen die Religion oder das Gesetz der Väter, etwa aus einem ‘aufgeklärten’ Reformgeist heraus, wie man dies früher annahm. Die Hellenisten wollten lediglich nach außen den Anschluß an die hellenistische Weltkultur finden, welche Judäa in Gestalt zahlreicher hellenistischer oder hellenisierter Städte umgab, wollten nicht länger die Oberschicht eines barbarisch-hinterwäldlerischen Ethnos sein. Die Hellenisierung der Oberschicht durch griechische Sprache, griechische Namen und griechische Literatur dauerte schon lange und war bereits weit fortgeschritten; sie sollte nun auch in sichtbaren Lebensformen und Institutionen ihren Ausdruck finden, zumal auch die unmittelbare Umwelt der Juden etwa in Syrien schon weitgehend hellenisiert war. Hellenistische Poleis mit ihren Staatsorganen, also Jahresbeamten, Rat und Volksversammlung genossen schlicht ein höheres Ansehen als ein von Priestergeschlechtern regiertes Ethnos, zudem ein höheres Maß an (formaler) Unabhängigkeit. Dieser Prozeß hatte in hohem Maße emergenten Charakter; für die Selbsthellenisierung genügten Anreize und Distinktionsaussichten.
Die Hellenisierungsbestrebungen innerhalb der Oberschicht zielten nach außen, auf ein Anschließen an den internationalen Standard. Gegenüber der ärmeren Bevölkerung, den Handwerkern und den Bauern und Pächtern sollten die alten Machtverhältnisse nicht verändert werden, da hier der Glaube Grundlage des Gehorsams war. Das Gymnasion und Ephebie wurden ja auch nur von Juden genutzt, die hinreichend Wohlstand und Muße besaßen; die Reform war also gar nicht an die Mehrheit der Bevölkerung adressiert und strebte auch keine Umwälzung der jüdischen Religion an. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Spagat gelingen konnte, ob also die Religion ihre traditionelle Ordnungsfunktion weiter wahrnehmen konnte, wenn sie nur noch Religion, nicht mehr Staatsverfassung war und sich damit die Frage nach der Legitimation der politischen Herrschaft ganz neu stellte. Vermochten Tempel und Torah langfristig die Mitte einer hellenistischen Polis zu bilden?
Die Reform Jasons war ohne Zweifel von Anfang an mit Schwierigkeiten belastet, etwa deswegen, weil der Besuch eines Gymnasions für strenge Juden schwierig war, nicht nur wegen der Beschneidung, sondern auch wegen der mit Sport und Wettkampf verbundenen Kulte. Wenn Jasons Politik erfolgreich sein sollte, mußte die Mehrheit der jüdischen Aristokratie geschlossen hinter ihr stehen, und der innere und äußere Friede mußten gewahrt bleiben, damit eine langsame Gewöhnung erfolgen konnte. Beide Voraussetzungen aber wurden nicht erfüllt, denn die Reform fiel zeitlich zusammen mit einer Entwicklung, die schließlich zur Explosion führte.
Im Jahre 172/71 v.Chr. gelang es dem vornehmen Juden Menelaos, Jason vom Amt des Hohepriesters zu verdrängen. Er erkaufte dies mit einer drastischen Erhöhung des an Antiochos abzuführenden Tributs und mit weiteren erheblichen Geldzusagen. Diese Zusagen begründeten Ansprüche des Königs. Menelaos mußte sogar zum Tempelraub schreiten, um die versprochenen Summen zahlen zu können. Dies vergrößerte die religiös motivierte Opposition gegen ihn natürlich, die sich wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt in der sog. Vereinigung der Frommen, einer Gemeinschaft aus Priestern und Laien auf der Grundlage strengsten Gesetzesgehorsams, organisierten. Die Ansätze zur hellenistischen ‘Reform’ hatte dieser bereits faktisch abgewürgt, da sie die Idee des Rivalen Jason gewesen war. Zudem schlossen sich nun dessen Anhänger den traditionalistischen Kritikern der bisherigen Politik an. Die Gruppe der Hellenisten war damit gespalten. Der letzte Anstoß aber kam von außen.
Antiochos IV. forderte im Herbst 170 v.Chr. im Zusammenhang mit einem Ägyptenfeldzug von Menelaos die versprochenen Summen, die dieser nur dadurch aufbringen konnte, daß er den König in den Tempel führte und dessen gesamtes Inventar aushändigte, so daß nicht einmal mehr die Kulthandlungen vollzogen werden konnten. Die Empörung darüber war so groß, daß der abgesetzte Jason während Antiochos’ zweitem Ägyptenfeldzug zwei Jahre später einen Anschlag auf Jerusalem unternahm und mit Hilfe pro-ptolemäischer Freunde den verhaßten Menelaos vertrieb. Dieser floh zu Antiochos, der den Vorgang aus seiner Sicht als einen Akt des politischen Aufstandes verstehen mußte. Nachdem die Römer ihn überdies zum Rückzug aus Ägypten gezwungen hatten, drang er im August oder September 168 in Jerusalem ein und bestrafte die Stadt nach Kriegsrecht: Viele Einwohner wurden getötet, andere in die Sklaverei verkauft. Eine seleukidische Militärkolonie aus nichtjüdischen Orientalen wurde in Jerusalem niedergesetzt, die ihre Basis in der sog. Akra hatten, einer großen Zitadelle wohl südwestlich des Tempelberges. Nach diesen Ereignissen war Menelaos innerhalb der Juden vollständig und endgültig isoliert. Antiochos glaubte jedoch an ihm festhalten zu müssen, denn er war sein einziger verbliebener Parteigänger. Und Menelaos brauchte die Speere des Königs, um sich und seine Clique überhaupt an der Macht halten zu können.
Doch die Zwangsmaßnahmen gegen die Juden reichten noch sehr viel weiter. Antiochos erließ nun seine berüchtigten Religionsedikte, wie sie in den Makkabäerbüchern des Alten Testaments aufgeführt sind: Verbot des Opferkultes; Einrichtung neuer Kulte mit Schweinefleischopfern; Beschneidungsverbot; Verbrennung der Heiligen Bücher.
Diese Edikte wurden im Zusammenhang mit einer militärischen Straf- und Sicherungsaktion verkündet, reagierten also auf den politischen Abfall der Menelaos-Gegner in Jerusalem. Es lag Antiochos ganz fern, von sich aus den Juden eine andere Religion aufzwingen zu wollen. Dies wäre mit der üblichen seleukidischen Herrschaftspraxis ganz unvereinbar gewesen, und es deutet nichts darauf hin, daß die Urheber der Maßnahmen eine Annäherung an die griechische Religion beabsichtigt hätten oder eben den Versuch unternommen hätte, „die jüdische Religion gewaltsam zu hellenisieren” (Bingener). Die Quellen belegen vielmehr, daß Antiochos in diesem Fall auf die Initiative des Menelaos hin handelte, also in einem innerjüdischen Streit Partei ergriff. Und offensichtlich ging der Inhalt der Edikte nicht auf Griechen, sondern auf Juden zurück. Der Glaubenszwang war kalkuliert darauf angelegt, die Juden zum Bruch mit ihrer Religion zu zwingen und so ihre Identität zu zerbrechen. Die Maßnahmen verraten eine genaue Kenntnis der jüdischen Religion und der jüdischen Mentalität. Treffsicher wurden gerade uralte Kernbestandteile wie Beschneidung und Speisevorschriften verboten. Dieser in der ganzen Antike einzigartige Versuch, die jüdische Religion und die jüdische Sonderart auszurotten, wurde eben nicht von einem hellenistischen König unternommen, um einem „europäischen” Ideal der Aufklärung zum Siege zu verhelfen. Er wurde vielmehr von einem Mitglied der jüdischen Elite ins Werk gesetzt, der durch sein persönliches Machtstreben fast alle Juden in einen religiös motivierten Widerstand getrieben hatte. Um diesen Widerstand zu brechen, glaubte Menelaos, die jüdische Religion und das jüdische Gesetz, das einigende Band der sonst recht heterogen Widersacher, mit Stumpf und Stiel vernichten zu müssen. Antiochos ging darauf ein, weil er, wie gesagt, noch annahm, an Menelaos festhalten zu müssen, und weil es ihm nach der Eskalation des Konfliktes einleuchten mochte, nunmehr die ihm genannten Ursachen für die Widerstrebigkeit der Juden zu bekämpfen.
In der historischen Rückschau und der ‘nationalen’ Traditionsbildung verschmolzen für die Juden die Hellenisierung als ‘sanfte’ Abwendung vom Gesetz der Väter mit der Verfolgung als der brutalen Variante, und Interpreten wie der Leitartikler vollziehen diese auf den ersten Blick ja so einleuchtende Homogenisierung nach. Dazu trug wohl auch die beschönigende Deklaration des Religionsverbotes durch Menelaos und die Kanzlei des Antiochos bei, von wo aus die Zwangsmaßnahmen propagandistisch als Versöhnung mit den anderen Völkern, als Vollendung des Hellenismus, als Beseitigung des Aberglaubens ausgegeben wurden – obwohl die Verbote weder mit Assimilierung noch mit Hellenisierung noch mit Reformjudentum auch nur das Geringste zu tun hatten. Die einschneidende Folge dieser Amalgamierung von Hellenisierung und Religionsverbot zu einem Kontinuum war, daß Judentum und Hellenismus seither als fast unversöhnliche Gegensätze betrachtet wurden.
Wie ging es weiter und aus? Viele Juden hatten auf die Unterdrückungsmaßnahmen zunächst mit passivem Widerstand reagiert, indem sie in unzugängliche Gegenden flohen. Der aktive Widerstand kristallisierte sich um die Familie der Hasmonäer mit ihrem greisen Oberhaupt Mattathias und seinen fünf Söhnen, deren ältester – Judas – später den Beinamen Makkabi (aram. maqqaba – der Hammerartige) erhielt (daher Makkabäeraufstand, während die später begründete Dynastie dieser Familie Hasmonäer-Dynastie hieß).
Den Aufständischen ging es in erster Linie um die Religion und das Gesetz, aber auch der Stadt-Land-Gegensatz spielte eine gewichtige Rolle. In dem sich nun entwickelnden Krieg tat sich besonders Judas Makkabäus als militärischer Anführer hervor. Der Kampf um die väterliche Lebensform und die Restitution des Tempels einte sonst sehr heterogene Gruppen der jüdischen Bevölkerung. So gewann der Widerstand rasch eine beträchtliche Durchschlagskraft, und Judas Makkabäus erzielte bemerkenswerte Erfolge gegen die seleukidischen Strategen. Gegner in diesem mit großer Brutalität geführten Kampf waren nicht nur die seleukidischen Heere, sondern auch die Lauen und Abtrünnigen in den eigenen Reihen.
Die Details der wechselvollen Kämpfe spielen hier keine Rolle. Der seleukidische Feldherr Lysias hatte den Plan verfolgt, die Aufstandsbewegung dadurch zu spalten, daß er den Forderungen der Frommen, die keine machtpolitischen Ziele anstrebten, erfüllte, indem er die jüdische Kultausübung wieder zuließ und Menelaos als Hoherpriester fallenließ. Aber Judas Makkabäus überholte gleichsam alle Pläne und eroberte Ende 164 v.Chr. Jerusalem, reinigte den Tempel und stellte den Tempelkult wieder her. Die Erinnerung an dieses Ereignis begehen die Juden noch heute mit dem Hanukka-Fest im Dezember. Nachdem damit faktisch der status quo ante erreicht war, hätte theoretisch einer Verständigung nichts mehr im Wege gestanden. Daß es nicht dazu kam, lag an der Person des Judas Makkabäus und der Dynamik, die die Bewegung inzwischen erlangt hatte. Nun ging es nicht mehr um die Wiederzulassung der jüdischen Religion, sondern um den Schutz der jüdischen Glaubensbrüder in den an Judäa angrenzenden nichtjüdischen Gebieten sowie um Rache für das erlittene Unrecht. Diese Ziele lagen nahe und waren überdies geeignet, die Bewegung nach den ersten Erfolgen zusammenzuhalten und weiter zu mobilisieren. Außerdem konnte man sich darauf berufen, die jüdischen Gemeinden in den umliegenden Gebieten schützen zu müssen. Der Kampf um die Existenz der jüdischen Religion wurde so zu einem Kampf um ihre Ausdehnung, was für die Makkabäer vielleicht auch dasselbe war. 153 v.Chr. wurde Jonathan von den Seleukiden offiziell zum Hoherpriester in Jerusalem ernannt und war damit legitimes Haupt des jüdischen Volkes. Sein Nachfolger Simon trug seit 140 v.Chr. den Titel „Hoherpriester, Feldherr und Fürst der Juden und Priester”; er hatte das Recht, Münzen zu prägen, und präsentierte sich mit Purpur und Goldschmuck wie ein hellenistischer König. Es begann ein knappes Jahrhundert eines unabhängigen und tendenziell expansiven jüdischen Machtstaates (der auch das Zwangsbeschneidungen bei unterworfenen Ethnien anordnete, so 126 gegenüber den Edomitern), bis 63 v.Chr. Pompeius den ganzen Vorderen Orient neu ordnete.
Die weitere historische Skizze des Leitartiklers ist übrigens lehrreich und (abgesehen vom „Druck zur Assimilation”) zustimmungsfähig: „Dieser Konflikt ist prägend für die jüdische Religion bis in die Gegenwart. Er fand seinen Niederschlag in den Schriften des Judentums, die wieder und wieder einschärfen, dass der Fortbestand des Volkes vom Festhalten an identitätsstiftenden Ritualen abhängt. Die Selbstbehauptung gegen die hellenistischen Herrscher führte auch zu Änderungen in der Praxis der Beschneidung: Juden, die sich dem Druck zur Assimilation beugen wollten, konnten sich in der Antike einer kosmetischen Operation unterziehen, welche die Beschneidung rückgängig machte. Die jüdischen Autoritäten zogen daraus die Konsequenz, den Eingriff in seinem Umfang dahin gehend auszuweiten, dass er nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Beschneidung in ihrer heutigen Form ist vielfach bereits also das Ergebnis ihrer Infragestellung.”
- Klaus Bringmann, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa. Eine Untersuchung zur hellenistisch-römischen Geschichte (175-163 v.Chr.). Göttingen 1983
- Ders., Die Verfolgung der jüdischen Religion durch Antiochos IV. – Ein Konflikt zwischen Judentum und Hellenismus?, in: Antike und Abendland 26, 1980, 176-190
- Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. Tübingen 3. Aufl. 1988
- Christian Habicht, Hellenismus und Judentum in der Zeit des Judas Makkabäus, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1977, 97-110
- Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike. Stuttgart 1983, 2. durchges. Aufl. Tübingen 2010
- The Cambridge History of Judaism. Vol. II: The Hellenistic Age. Ed. by W.D. Davies/L. Finkelstein. Cambridge 1989.
von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.
"Wir müssen mit anpacken"
Interview mit Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zu Fragen der Normalität von jüdischem Leben in Deutschland, dem politis
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10807
Ein Neuanfang in jeder Beziehung – Geschichte und Gegenwart der Berliner Jüdischen Gemeinde
Sie ist zwar die größte jüdische Gemeinde Deutschlands, inzwischen aber auch die mit den negativsten Schlagzeilen.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10464
Ein Neuanfang in jeder Beziehung – Geschichte und Gegenwart der Berliner Jüdischen Gemeinde
Sie ist zwar die größte jüdische Gemeinde Deutschlands, inzwischen aber auch die mit den negativsten Schlagzeilen.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10464
Judentum: Modernes Leben in Berlin. Interview mit Sergey Lagodinsky
Der Publizist und Anwalt Sergey Lagodinksy spricht im Interview mit DRadio Wissen über die heutige Vielfalt des modernen jüdischen Lebens in Berlin und die Herausforderungen für die
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10312
Alles Koscher im Restaurant – Neues Kunst- und Kulturhaus in Berlin-Mitte bietet Schabbatdinner an
In einer ehemaligen jüdischen Mädchenschule im Zentrum Berlins können Gäste am Schabbat ein koscheres Dinner bestellen.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10115
Der Holocaust als Argument
Ultra-orthodoxe Juden in Israel fordern, dass Frauen in Bussen hinten sitzen sollen, damit die frommen Männer vorne nicht in Versuchung geführt werden.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10064