“Sir, To perform my late promise to you, I shall without further ceremony acquaint you, that …”

… schreibt Isaac Newton 1671 in den Philosophical Transactions of the Royal Society. Nein! Eigentlich ist das falsch. In diesem Zusammenhang kann man noch gar nicht von ‘jmd. schreibt etw. in” sprechen. Wir befinden uns vielmehr gerade auf dem Weg dorthin und sehen im Zitat ein Interim.

Nein, Newton schrieb nicht in den Transactions, er schrieb vielmehr an den Herausgeber Henry Oldenburg. Wir befinden uns am Beginn der Entstehung des wissenschaftlichen Artikels und es zeigt sich, dass diese Entstehung eng damit verknüpft ist, dass sich ein Bewusstsein für eine neue Kommunikationsform herausbildet. Die Überreste der alten Kommunikationsform, dem Brief an den Herausgeber nämlich, zeigen sich noch in reduzierter Form. Und vielleicht lässt sich hier eine Parallele ziehen zum Kommentar im (wissenschaftlichen) Weblog?

newton_new theory about light and colors

Aus: Philosophical Transactions 6 (80), 1671, S. 3075.

Die oben beschriebene Konstellation zwischen Newton, Oldenburg, den Transactions und der Royal Society, sowie der lesenden Community wird im Absatz vor Beginn des ‘Papers’ von Oldenburg noch sichtbar gemacht.1 Es wird von einem “Letter” gesprochen, “containing his New Theory“, der dem Herausgeber am 6. Februar geschickt wurde, “in order to be communicated to the R. Society“.

Sprachlich schlägt sich das Kommunikationsformenwissen und die Sprechsituation des Briefes noch in der reduzierten Anrede nieder. Aber dass diese nur noch formal eine Rolle spielt, zeigt sich im unmittelbar angestrebten Beginn der Ausführungen “without further ceremony”. Newton ist sich sehr bewusst, dass es dieser Brief ist, der abgedruckt werden wird. Das zeigt auch der Verweis auf die Vorgeschichte: “To perform my late promise to you”. Interessant ist, dass er als Prädikat “acquaint” nutzt. Newton setzt Oldenburg in Kenntnis, informiert ihn. Ob darin die Umwegskonstellation zum Ausdruck kommt, in der Newton durch Oldenburg zur Community spricht oder ob es Teil der rhetorischen Strategie Newtons ist, wie sie Bazerman (1988, 90) herausarbeitet als Strategie

“to give an account of his findings so that they appear as concrete fact, as real as an earthquake or ore found in Germany, even though the events that made these facts visible to Newton occured in a private laboratory as the result of speculative ponderings and active experimental manipulations.”

Das Spannungsverhältnis zwischen der zunehmenden Privatheit der Erkenntnisproduktion und der In-Kenntnis-Setzung der Community stand ganz am Anfang der Herausbildung der Transactions und bringt mit der Zeit die wissenschaftliche Öffentlichkeit als solche erst hervor.

Die Frage, die sich mir gerade aufdrängte, als ich den Bazerman (1988) las, war die nach der sprachlichen Gestalt von Kommentaren in (wissenschaftlichen) Weblogs. Bisher bin ich noch nicht über Untersuchungen gestolpert, die das genauer im Blick haben, aber es findet sich von Zeit zu Zeit eine Musterhaftigkeit in Blogkommentaren wieder, die sich von Briefen über E-Mails, Newsletter und Mailinglisten auch in Kommentaren in Weblogs durchhält. Es ist die simple Reihe ‘Anrede-Hauptteil-Grußformel’, um die es hier geht. Aus meinem persönlichen Eindruck heraus finde ich es durchaus ungewöhnlich, diese Struktur in einem Kommentar zu verwenden, aber da treffen vielleicht einfach unterschiedliche Generationen Kommunikationsformenwissen (bzw. -konvention) aufeinander. Günther/Wyss (1996, 66) sprechen von den “konstitutiven Elementen, die funktional die Kontaktaufnahme, den Abbruch des Kontaktes und die Übermittlung der Information regeln: Anrede + Text + Gruss“.

Interessant ist nun, wann und warum es zum Wegfall dieser funktionalen Elemente kommt? Bei den Transactions ist das recht einfach zu erklären: Die Kommunikationsform Zeitschrift wurde für Zwecke der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse funktionalisiert, die spezifische institutionelle Abwicklung (samt Peer Review) muss erst noch entstehen, die Rolle des Herausgebers ist noch viel präsenter, seine medialisierende Rolle ist noch wenig eingeschränkt – er ist noch einer der gewichtigen obligatorischen Passagepunkte (vgl. Star/Griesemer 1989), die zur wissenschaftlichen Öffentlichkeit führen. Im Zuge der Formierung dieser Öffentlichkeit entwickelt sich die eigenständige Gattung des wissenschaftlichen Artikels, der den Zwecken der Briefform entwächst. Mit der Formierung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ergibt sich also eine ganz andere zu bearbeitende Konstellation, die anderer sprachliche Mittel bedarf (vgl. Graefen/Thielmann 2007).

Warum aber, gibt es Kommentare auf Weblogs mit und ohne diese Elemente der Kontaktbearbeitung? Entgegen der Beteiligungsstruktur der Einträge, die man durchaus als massenmedial (1:n) charakterisieren kann, sind die Kommentare oft primär von einem 1:1 eingeprägt: der Kommentator spricht den Blogger an. Das ermöglicht es erst, dass eine ‘Anrede-Text-Gruß’-Form gewählt werden kann, um eine Kontaktsituation explizit zu etablieren.

Hat sich nun unter Bloggern ein Kommunikationsformenwissen ausgebildet, dass solche funktionalen Elemente obsolet macht? Ich denke nicht, dass sie obsolet geworden sind. Ich denke aber, dass sie gewissermaßen abgegeben oder besser delegiert wurden. Kommentatoren, die selber Bloggen, geben sich über die Kommentareingabemaske oft mit ihrem Blogaccount zu erkennen. Bild und Name (als Link) erscheinen dann über dem Kommentar und weisen die sprechende Person aus. Bei hypotheses.org wird das zum Beispiel so artikuliert “H says: [Datum, Uhrzeit] KOMMENTAR [Antwort-Button]“. In der verdauerten Textoberfläche wird der Kommentator auf diese Weise präsentisch als Diskurspartner vorgehalten (vgl. zu Charakteristika des Diskursiven in Weblogs: Schlobinski/Siever Hg. 2007). Interessanterweise anders als der Autor des Eintrags, der in typischer Schriftlichkeitsmanier unter dem Titel mit “Posted on [Datum] by S” genannt wird. Hier scheint auch eine genauere Datierung nicht notwendig zu sein (zumindest bei hypotheses.org).

Was man also vielleicht sagen könnte, ist, dass die kommentatorenseitige Adresse, die Origo des Kommentierenden schon durch die Metadaten des Kommentars zur Darstellung kommen, dass sie nicht eigens, sprachlich hergestellt werden müssen. Das erklärte zumindest die fehlende Grußformel. Das Fehlen der Anrede könnte (gerade bei wiss. Weblogs) als Sachbezogenheit interpretiert werden: Beziehungspflege ist nicht derart vordergründig, als das sie explizit konturiert werden müsste. Aber dazu braucht es noch aussagekräftige Untersuchungen, die einen solchen Zusammenhang unterstützten. Intuitiv würde ich das nicht auf sachbezogene Blogs reduzieren. Vielmehr habe ich den Eindruck, als würde die Kommunikationsform Weblog sich durch eine gewisse Vororientiertheit von Adressanten-Adresse und Adressaten-Adresse (Meiler 2013) auszeichnen. Die Identitäten der Kommunizierenden sind entweder nicht von Belang oder hinreichend ans Hypertextgeflecht angebunden, in dem sie als solche auch immer präsent, gewissermaßen immer erreichbar sind. Der verdauerte Diskurs der Kommentare braucht u.U. eine präzise Temporalisierung2 und ist deswegen nicht nur von präzisen Zeitangaben, sondern mittlerweile auch von hierarchischen Zuordnungen gekennzeichnet.3 Das scheint der wichtigere, zu bearbeitende Zweckbereich zu sein, der der diskutierten Sache gewissermaßen mehr Priorität einräumt, wenn die Kontaktpflege mehr oder weniger automatisiert ist.

Die vorsichtige These, die seit einiger Zeit in meinem Kopf steckt, wäre also, dass es Kommunikationsformen gibt, wie bspw. Weblogs, bei denen die funktionalen Elemente der Kontaktbearbeitung sich wesentlich aus dem Verbund der Soziotechnik ergeben, an sie delegiert werden und dann nicht mehr sprachlich expliziert werden müssen. Es ist dies vornehmlich eine Frage der Adressenkonstitution.4 Der Übergang, den wir darin also heute beobachten können, könnte dem Interim vergleichbar sein, das wir oben bei Newton sahen…

Bazerman, Charles (1988): Shaping Written Knowledge. The Genre and Activity of the Experi­mental Research Article in Science. Madison: The University of Wisconsin Press.

Graefen, Gabriele/Thielmann, Winfried (2007): Der Wissenschaftliche Artikel. In: Auer, P./Baßler, H. (Hg.): Reden und Schreiben in der Wissenschaft.Frankfurt/New York: Campus, S. 67-98.

Günther, Ulla/Wyss, Eva Lia (1996): E-Mail-Briefe – eine neue Textsorte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Hess-Lüttich, Ernest W. B. (Hg.): Textstrukturen im Medienwandel. Frankfurt/Main etc.: Lang, S. 61-86.

Meiler, Matthias (2013): Kommunikationsformenadressen oder: Prozeduren des Situationsvollzugs am Beispiel von Weblogs. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 59/2. S. 51-106.

Schlobinski, Peter/Siever, Torsten (Hg.) (2007): Sprachliche und textuelle Merkmale von Weblogs: ein internationales Projekt. In: Networx 46.

Star, Susan Leigh/Griesemer, James R. (1989): Institutional Ecology, ‘Translations’ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–1939. In: Social Studies of Science 19. S. 387–420.

Wichter, Sigurd (1991): Zur Computerwortschatz-Ausbreitung in die Gemeinsprache. Elemente der vertikalen Sprachgeschichte einer Sache. Frankfurt/Main: Lang.

  1. Was ich hier beschreibe, ist keine Neuigkeit, sondern schon wunderbar herausgearbeitet von Bazerman (1988) und z.B. auch Graefen/Thielmann (2007).
  2. Und eigentlich braucht es keinerlei Lokalisierung, als vielleicht nur die im Hypertext – was schon eine spezifische vor allem zeitbezogene Adressenordnung darstellt; vgl. Meiler (2013).
  3. Insofern wird das sog. “Mühlen-Prinzip” (Wichter 1991, 78) noch thematisch ergänzt.
  4. Die Vorstellungen oder besser: das gemeinschaftliche Wissen, das die Kommunizierenden von diesen Adressen haben und die Frage, wie sie diese im Verhältnis zum Kommunizierten einschätzen, ist natürlich nicht vollständig von Gattungs- und Domänencharakteristiken zu trennen.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/516

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Problematisieren ohne Problemlösen? Zu einer Passage in Schröders (2003) “Die Handlungsstruktur von Texten”

Ich beschäftige mich zur Zeit mit der Illokutionsstruktur von Texten. Das ist eines der wichtigsten Bestimmungspunkte meiner Arbeit. Bezüglich dieses Komplexes eine begründete Position herauszuarbeiten, wird die empirische Analyse und ihren theoretischen wie auch praktischen Ertrag wesentlich prägen. In diesem Zusammenhang wurde mir vor einiger Zeit eine Monografie von Thomas Schröder empfohlen. Diese Woche bin ich endlich dazu gekommen, einen Blick in sie zu werfen. Dabei ist mir ein interessanter eristischer Zug in die Hände gefallen.

In seiner Habilitationschrift “Die Handlungsstruktur von Texten. Ein integrativer Beitrag zur Texttheorie” (2003) geht Thomas Schröder (Innsbruck) das Problem an, wie Texte in ihrer Binnenstruktur handlungstheoretisch zu rekonstruieren sind. Das ist eine wichtige und immer noch aktuelle Fragestellung der linguistischen Pragmatik.

Darin findet sich im ‘Theoriekapitel’ die folgende Passage:

“Äußerungs- und Handlungsebene werden also parallel betrachtet: Genauso wie ein Text als Äußerungseinheit ein Produkt aus Sätzen ist, wird auch die Texthandlung als ein Produkt aus „Satzhandlungen“ gesehen. Die möglichen Probleme, die mit einer solchen Parallelsetzung von Sätzen und einfachen Handlungen verbunden sind, werden an dieser Stelle bewußt ausgeklammert. Beide Kategorien, erst recht aber ihr Verhältnis, sind heftig umstritten. Diese Diskussion hier aufzunehmen, würde allzu weit vom Hauptgegenstand der Untersuchung wegführen.” (Schröder 2003, 35f.)

Zurecht weist Schröder hier auf einen Problemkomplex hin, der “heftig umstritten” ist. Dass er so “heftig umstritten” ist, hat den Grund, dass es sich hierbei um eine der zentralen Fragen linguistischer Pragmatik handelt. Und es ist wohl ziemlich normal, dass sich an solchen Fragen, die Geister scheiden.

Um das kurz zu explizieren: Was Schröder da anspricht, ist die Frage des Verhältnisses von Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur. Oder anders: Was sehen wir (Forscher_innen), wenn wir uns die Buchstabenkombinationen eines Textes anschauen? Oder: Welche Leistung vollbringt die Medialität von Sprache? Welches Vermittlungsverhältnis liegt vor?

Schröder beantwortet diese Frage mit einem Abbild- oder Repräsentationsverhältnis. Was wir sehen/hören ist die Handlung: “Äußerungs- und Handlungsebene werden also parallel betrachtet”, kurz darauf spricht er von “Parallelsetzung”. Das ist strenggenommen kein Identitätsverhältnis, wie ich es mit “ist” ausgedrückt habe. Es ist sogar ein spezifisches Differenzverhältnis, dass sich auch in seinen Illokutionsstruktur-Schemata niederschlägt. Zwischen der Handlungs- und der Äußerungsebene ist immer ein weißer Graben gezogen, der zwei formgleiche Seiten trennt: Auf der einen steht Satz, auf der anderen Satzhandlung, Teiltext – Teiltexthandlung, Text – Texthandlung. Was dieser gezogene Graben genau bedeuten soll, wird nicht erklärt. Die Formgleichheit auf beiden Seiten impliziert aber, dass es sich um das parallelgeführte Vermittlungsverhältnis von Oberfläche und Tiefe handelt, was durch die Formgleichheit als Abbildungsverhältnis identifizierbar wird. Die Tiefenstruktur schlägt sich 1:1 in der Oberflächenstruktur nieder. So kann der gezogene Graben zwischen Beiden nur die Vermittlung, die Medialisierung zwischen Mentalem und Medialem meinen, der aber als weißes, unentdecktes Land diagrammatisch einfach übersprungen wird.

Was aber ist eigentlich damit gemeint, wenn von Tiefenstruktur gesprochen wird. Es ist freilich eine konzeptuelle Metapher, die unterstellt, hinter oder unter der wahrnehmbaren Oberfläche der Phänomene gibt es eine wirkende Kraft, die bestimmt, wie die Oberfläche sich ausformt. Nun meinen Linguist_innen, wenn sie von Tiefenstrukturen sprechen, keine metaphysischen Wirkkräfte aufzufinden. Wenn wir von Tiefenstrukturen sprechen, meinen wir gesellschaftliches oder zumindest gemeinschaftliches Sprachwissen, dass anhand der empirischen Oberfläche begrifflich rekonstruiert werden kann. Die sprachliche Oberfläche erscheint in diesem Zuschnitt als Mittelarrangement, dass im sozialen Austausch durch wiederkehrende Handlungskonstellationen zweckadäquat geformt wird. Das ist die Position, wie sie die Funktionale Pragmatik seit den späten 1970er Jahren kontinuierlich entfaltet hat, um eine ganzheitliche, linguistische Perspektive auf sprachliches Handeln herauszuarbeiten: sowohl theoretisch, wie auch empirisch (vgl. z.B. Ehlich 1991; 2007b; Rehbein 2001; Redder 1998).

Arbeiten von Rehbein, Redder und Hoffmann finden sich auch in Schröders Habil. Die Funktionale Pragmatik hat nun den Standpunkt herausgearbeitet, dass kein “Homomorphie”-Verhältnis zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur herausgearbeitet werden kann (Rehbein 2001, 933; Ehlich/Rehbein 1986, Kap. 6) und beziehen damit eine deutliche Position bezüglich des im Zitat problematisierten Sachverhalts.

Mit dem Begriff der Illokution werden nun die Zwecke sprachlicher Handlungen “mittlerer Größenordnung” benennbar: die Zwecke der Sprechhandlungen (Redder 1998, 64). Wie die Sprachakttheorie gezeigt hat, sind diese Benennungen nur selten in der sprachlichen Oberfläche auffindbar oder anders: eine empirische Handlung findet in ihrem Vollzug nur selten eine Explizierung ihres Zwecks durch die Handelnden selbst. In den meisten Fällen ist es also eine hermeneutische Analyseleistung, welche Illokution hinter einer Äußerung verborgen liegt. Diese müssen die Wissenschaftler_innen, wie die Interaktanten gleichermaßen leisten, um zu verstehen; gleichwohl die Interaktanten dies im höheren Maße routiniert leisten, weil sie beim Verstehen freilich ganz andere Interessen verfolgen als ein_e Linguist_in.

Schon diese wenigen Ausführungen reichen aus, um zu verdeutlichen, dass ein einfaches abbildhaftes Parallelisieren von Satz und Handlung nicht ausreichend zu sein scheint, um deren Verhältnis zu bestimmen. Zieht man nun das Verhältnis von Illokution und Handlungsmuster heran (vgl. Ehlich/Rehbein 1979; 1986), wird das noch einmal deutlicher. Denn damit wird ersichtlich, dass Illokutionen nicht einfach in sich selbst aufgehen, sondern zentrale Einheiten im interaktiven Vollzug von Handlungsmustern darstellen (vgl. Ehlich 2007a, 33f.). Ohne die jeweilige Rekonstruktion der Position der einzelnen Sprechhandlung im dazugehörigen Handlungsmuster ist ihre Handlungsqualität nicht ausreichend bestimmbar und damit lässt sich eigentlich erst sinnvoll rekonstruieren, wie einzelne Sprechhandlungen im Text verkettet werden, ohne nur auf “indem”- und “und dann”-Relationen1 zurückgreifen zu müssen. Das möchte ich im Folgenden aber nicht weiter ausführen.

Vielmehr möchte ich noch einen kurzen Blick auf das obige Zitat werfen. Wie wir gesehen haben, wir ein zentrales Problem aufgeworfen, mit dem eine Untersuchung der Handlungsqualität von Texten befasst sein muss, ja mindestens eine Position begründet beziehen muss, um davon ausgehend gewissermaßen erst starten zu können. Schröder geht dabei – wie ich finde – einen recht eigenwilligen Weg. Er problematisiert diesen forschungspraktischen Entscheidungsknoten sehr stark, indem er ihn als “heftig umstritten” kennzeichnet. Ebenso weist er auf “mögliche Probleme” hin, “die mit einer solchen Parallelsetzung von Sätzen und einfachen Handlungen verbunden sind”, um sie gleich darauf “bewußt auszuklammer[n]“.

Schauen wir uns dazu den Kontext (hier kursiviert) des Zitates an:

Im Mittelpunkt der Handlungsstrukturbeschreibung steht somit der Zerlegungszusammenhang, der zwischen der Texthandlung und ihren Bestandteilen, den Teil-Handlungen, besteht. Als kleinste Einheiten werden dabei die einfachen sprachlichen Handlungen gesehen, denen auf der Äußerungsebene in der Regel die Einheit des Satzes entspricht. Äußerungs- und Handlungsebene werden also parallel betrachtet: Genauso wie ein Text als Äußerungseinheit ein Produkt aus Sätzen ist, wird auch die Texthandlung als ein Produkt aus „Satzhandlungen“ gesehen. Die möglichen Probleme, die mit einer solchen Parallelsetzung von Sätzen und einfachen Handlungen verbunden sind, werden an dieser Stelle bewußt ausgeklammert. Beide Kategorien, erst recht aber ihr Verhältnis, sind heftig umstritten. Diese Diskussion hier aufzunehmen, würde allzu weit vom Hauptgegenstand der Untersuchung wegführen. „Satzhandlungen“ werden deshalb im folgenden ohne weitere Problematisierung als kleinste Bausteine der Handlungsstruktur aufgefaßt (vgl. dazu beispielsweise Motsch/Viehweger 1981, 131 ff. bzw. Motsch 1983 oder, aus anderer Perspektive, Fritz/Muckenhaupt 1981, 17 ff.)” (Schröder 2003, 35f.)

Wie jetzt ersichtlich wird, hat Schröder die Problematisierung des Verhältnisses von Oberfläche und Tiefe eingebettet in die analysepraktische Frage des Zerlegens eines Textes bzw. einer Texthandlung in Einzelhandlungen, deren Zusammenwirken dann als “Handlungsstruktur von Texten” beschrieben werden kann. Die – geradezu schon mechanistisch metaphorisierte – Analysearbeit (‘das Zerlegen’) und ihre Begründung soll bei Schröder nicht weiter diskutiert werden, zu weit führe sie “vom Hauptgegenstand der Untersuchung” weg. Das ist ein legitimer und oft anzutreffender rhetorischer Zug. Ebenso verhält es sich mit dem, was Schopenhauer (1830/2009, 71) vielleicht ein “argumentum ad verecundiam” nennen würde. Das ‘Appellieren an die Ehrfurcht’; hier: vor den früheren Leistungen von Autoritäten. Wobei gerade in dieser gesammelten Platzierung der Literaturverweise an das Ende das Absatzes ihre Rolle innerhalb des Handlungsmusters, dessen Niederschlag sie bilden, veruneindeutigt wird. Dienen Motsch & Co hier dazu, die Lösung des Problems darzustellen, an die er “ohne weitere Problematisierungen” anschließen kann? Oder haben Motsch & Co sich auch ‘nur’ für eine “Parallelsetzung” von Oberfläche und Tiefe entschieden?

Die ambige Setzung der Literaturverweise und die Einbettung einer Problematisierung in eine analysepraktische Entscheidung, ist hörerseitig ganz unterschiedlich zu verstehen – je nach Kenntnis von Motsch & Co. Die musterbezogene Rolle von Motsch & Co variiert dadurch hier zwischen ‘Lösungsversuch’ innerhalb eins Problematisieren-Problemlösen-Musters (vgl. Ehlich/Rehbein 1986, Kap. 2; Wiesmann 2003; Petkova-Kessanlis 2009) und ‘Begründungsversuch’ innerhalb eines Begründen-Musters (vgl. Trautmann 2004; Tzilinis 2011), das zur Anwendung kam, weil (besonders nach diesem Absatz) hörerseitig antizipierbare Einwände zu bearbeiten waren.2

So wird auch hierin noch einmal deutlich, in welcher Weise die Bestimmung illokutiver Qualität von Sprechhandlungen in Texten hochgradig abhängig ist von ihrer Musterbezogenheit und dem vorhandenen Muster- wie Sachwissen.3 Im vorliegenden Fall kann die Vereindeutigung der möglichen Musterposition von Motsch & Co4 darüber geleistet werden, indem man sich diese Forschungsliteratur anschaut und dann einschätzt, zu welcher Musterposition die angegebenen Stellen taugen.

Die besprochene Passage erweist sich mithin als interessanter und äußerst komplexer Fall wissenschaftlichen Streits, der immer auch das Beziehen einer Position bedeutet und dessen Rekonstruktion sich nicht nur im Beschreiben der linearen Oberflächenstrukturen erschöpft.

 

Literatur

Brinker, Klaus (2000): Textfunktionale Analyse. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Berlin, New York: De Gruyter (HSK, 16.1), S. 175–186.

Ehlich, Konrad (1991): Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse. Ziele und Verfahren. In: Flader, Dieter (Hg.): Verbale Interaktion. Studien zur Empirie und Methodologie der Pragmatik. Stuttgart: Metzler, S. 127–143.

Ehlich, Konrad (2007a): Funktionale Pragmatik – Terme, Themen und Methoden. Jochen Rehbein sexangenario. Erstveröffentlichung in: Deutschunterricht in Japan 4 (1999), S. 4-24. In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Berlin, New York: De Gruyter, S. 29–46.

Ehlich, Konrad (2007b): Sprachmittel und Sprachzwecke. In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Berlin, New York: De Gruyter, S. 55–80.

Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, S. 243–274.

Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (1986): Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr.

Petkova-Kessanlis, Mikaela (2009): Musterhaftigkeit und Varianz in linguistischen Zeitschriftenaufsätzen. Sprachhandlungs-, Formulierungs-, Stilmuster und ihre Realisierung in zwei Teiltexten. Frankfurt a.M. etc.: Lang.

Redder, Angelika (1998): Sprachbewusstsein als handlungspraktisches Bewusstsein – eine funktional-pragmatische Diskussion. In: Didaktik Deutsch 3 (5), S. 60–76.

Rehbein, Jochen (2001): Das Konzept der Diskursanalyse. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Berlin, New York: De Gruyter (HSK, 16.2), S. 927–945.

Schopenhauer, Arthur (1830/2009): Die Kunst, Recht zu behalten. Hamburg: Nikol.

Schröder, Thomas (2003): Die Handlungsstruktur von Texten. Ein integrativer Beitrag zur Texttheorie. Tübingen: Narr.

Trautmann, Caroline (2004): Argumentieren. Funktional-pragmatische Analysen praktischer und wissenschaftlicher Diskurse. Frankfurt a.M. etc.: Lang.

Tzilinis, Anastasia (2011): Sprachliches Handeln im neugriechischen Wissenschaftlichen Artikel. Ein Beitrag zur Komparatistik der Wissenschaftssprachen. Heidelberg: Synchron.

Wiesmann, Bettina (2003): Problemlösen, Kategorisieren, Einschätzen – Zur Konzeptualisierung von Wissenschaft in deutsch- und spanischsprachigen Texten. In: Ehlich, Konrad/Steets, Angelika (Hg.): Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen. Berlin, New York: De Gruyter, S. 289–304.

 

  1. Diese Relationen spezifiziert Schröder (2003, 42-49) freilich noch und macht – was ich für sehr wichtig halte – Maximen deutlich, auf deren Basis es zu illokutionären Interrelationen kommt. Dass diese Maximen aber weitestgehend aus einem interaktionalen Zusammenspiel zwischen Sprecher und disloziertem Hörer sich ergeben, bleibt bei ihm nur angedeutet.
  2. Deutlich wird hier ebenso, dass Illokutions- und thematische Struktur nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können, wie Brinker (2000) das macht, wenn er eine Illokutionsstruktur von Texten ganz verneint.
  3. Natürlich liegen im ausgewählten Abschnitt auch noch andere und kleinräumigere Muster und den dazugehörigen Illokutionen vor, deren Verhältnis zu den übergeordneten ebenso beschrieben werde muss.
  4. Was ebenso deutlich wird, ist, dass die Einheit ‘Satz’ keineswegs als die kleinste illokutionstragende Einheit verstanden werden kann. Vielmehr scheint es domänenspezifisch ganz unterschiedliche zu sein, welche sprachlichen Mittel Illokutionen unterschiedlichster Art zum Ausdruck bringen können.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/454

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