Annäherungen an den Kulturbegriff im Chinesischen

Im modernen Chinesisch steht für den Begriff “Kultur” meist wenhua 文化  – daher also auch die Adresse dieses Blogs.

Während sich der Begriff wenhua erst im frühen 20. Jahrhundert durchzusetzen begann [1], stand der Begriff wen 文 seit dem Altertum für die Sphäre des Kulturellen und hier vor allem – ab der Späten Han-Zeit (1.-3. Jh. n. Chr.) für den Bereich der Literatur. [2] Ursprünglich hatte das Schriftzeichen, das geritzte und verschlungene Linien zeigt, die Bedeutung “kreuz und quer”, zu der sich später auch “gemustert”, “verziert” beziehungsweise “verfeinert” gesellten.

Ein Blick ins Wörterbuch zeigt die vielfältigen Bedeutungen, die das Schriftzeichen wen 文haben kann: “verschlungene Linien (eines Ornamentes), Striche, Linien, Adern, einfaches zusammengesetztes bildhaftes Schriftzeichen, Geschriebenes, Schrift, Schriftstück, Inschrift, Wortlaut, Text, geschriebene Sprache, Schriftsprache, Schrifttum, Literatur, literarischer Schmuck, Stil, Wissenschaft, Bildung, Kultur, kultiviert, verfeinert, gebildet, zivilisiert [...].” [3]

Einzelne Blüteperioden der Kultur Chinas fielen mitunter – wie etwa zur Zeit der “Nördlichen und Südlichen Dynastien” (3.-6. Jh.) oder während  der Song-Dynastie (960-1279) in eine Zeit, in der China entweder politisch zerrissen war oder unter dem Eindruck nomadischer Invasoren stand. Wie es Erwin Rousselle (1890-1949) formuliert hatte, zeige die Geschichte Chinas “daß ihr ungeheuer reicher dramatischer Ablauf sehr oft Zeitalter durchmessen hat, in denen die beiden Kurven von Kultur und militärischer Macht, von ‘Wen und Wu’, sich durchaus nicht deckten.” [4]

Kam Louie und Louise Edwards machten sich dieses Gegensatzpaar von wen und wu 武 (“zivil” und “militärisch”) für ihren Versuch einer Konzeptualisierung chinesischer Männlichkeit(en) zunutze. Während yin 陰 und yang 陽 gemeinhin als Gegensatz zwischen Weiblichem und Männlichem interpretiert werden, manifestieren sich in wen und wu die unterschiedlichen Ausprägungen chinesischer Männlichkeit(en), die im Idealfall jedoch harmonieren sollten. [5]

Halle der Militärischen Tapferkeit

Wuyingdian 武英殿 (Halle der Militärischen Tapferkeit), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner

Als Beispiel für die Harmonie zwischen wen und wu mag der Umstand gesehen werden, dass die Wuyingdian 武英殿 (“Halle der Militärischen Tapferkeit”)  auf dem Gelände des Kaiserpalastes in Beijing ab dem 17. Jahrhundert als Druckerei genutzt wurde. Diese im Südwestteil der so genannten “Verbotenen Stadt” gelegene Halle korrespondierte von ihrer Lage her zudem mit der Wenhuadian 文華殿 (“Halle der Literarischen Blüte”) im Südostteil, womit das wen-wu-Paradigma auch in der kaiserlichen Residenz seinen Niederschlag gefunden hatte [6] .

Halle der Literarischen Blüte

Wenhuadian 文華殿 (Halle der Literarischen Blüte), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner

 

[1] Zur Entstehung des modernen chinesischen Kulturbegriffs vgl. Fang Weigui: Selbstreflexion in der Zeit des Erwachens und des Widerstands. Moderne chinesische Literatur 1919-1949 (Lun Wen. Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China 7; Wiesbaden 2006) 25-39 (1.2 Die Etablierung des neuen Kultur- und Zivilisationsbegriffs)

[2] Karl-Heinz Pohl: “Annäherungen an einen Literaturbegriff in China.” In: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (Berlin/New York 2009) 589.

[3] Werner Rüdenberg/Hans O. H. Stange (Hg.): Chinesisch-Deutsches Wörterbuch. 3., erw., völlig neubearb. Aufl. (Hamburg/Berlin 1963) 691 (Nr. 8441).

[4] Erwin Rousselle: “Vom Eigenwert der chinesischen Kultur.“ Sinica 8 (1933) 1-8, hier ebd., 1.

[5] Kam Louie, Louise Edwards: “Chinese Masculinity: Theorising ‘Wen’ and ‘Wu’” In: East Asian History 8 (Dec. 1994) 135-148, vor allem 139-142.

[6] Zur Lage der beiden Hallen vgl. “Major Structures of the Forbidden City”, National Geographic/Supplement to National Geographic Magazine, May 2008 (Special Issue: China. Inside the Dragon) beziehungsweise den Plan auf der Website des Palastmuseums Beijing.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/50

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