Die Dreyfusaffäre fasziniert noch heute und bietet mit ihren vielfältigen Facetten sowie ihrer verworrenen Handlung aus Spionage, Manipulationen und gefälschten Dokumenten reichlich Platz für Fantasie. Bei der Lektüre der Forschungsliteratur und dem Abfassen eines kleinen Kapitels zur Affäre für das Buch „Verfeindung und Verflechtung. Deutschland – Frankreich 1870-1918“ fiel mir die merkwürdige Benennung einer der Protagonistinnen auf: “Madame Bastian”.
Madame Bastian erlangte Berühmtheit, weil sie in der deutschen Botschaft in der Rue de Lille den Papierkorb des Militärattachés Maximilian von Schwartzkoppen leerte und den Inhalt – anstatt ihn in der Heizungsanlage zu verbrennen – an die französische Spionageabwehr, die sogenannte „Sektion für Statistik“ in der französischen Armee übergab. Damit nahm bekanntlich die Dreyfusffäre ihren Lauf, setzte die Sektion doch im September 1894 ein zerrissenes Dokument – den als “bordereau” bezeichneten, hier abgebildeten Begleitbrief – wieder zusammen. Der bordereau ließ auf die Übergabe geheimer Informationen an den deutschen Militärattaché durch einen französischen Offizier schließen. Als angeblichen Verräter machte die Sektion den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus aus. Er wurde verhaftet und in einem nicht-öffentlichen Prozess und unter Verwendung eines “Geheimdossiers” rechtswidrig zu Degradation, lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt.
Elsässischer Herkunft: Madame Bastian
In der Forschungsliteratur ist zumeist von der „Putzfrau Madame Bastian“ die Rede, wobei „Putzfrau“ und „Madame“ zwei Begriffe sind, die – im Deutschen zumindest – so recht nicht zueinander passen wollen.
So liest man in einem der Standardwerke zur Dreyfusaffäre aus dem Jahr 1994 über den sogenannten „üblichen Weg“, in dem Papiere aus der Deutschen Botschaft in die Sektion für Statistik kamen:
“Madame Marie Bastian, Putzfrau in der Botschaft, übergab den Inhalt seines Papierkorbes in der Kapelle der Kirche Sainte-Clotilde einem Offizier der Sektion.”1
Ein aktuelleres Beispiel ist das monumentale Werk von George R. Whyte, „Die Dreyfus-Affäre. Die Macht des Vorurteils“2 . Darin werden auf über 600 Seiten die Ereignisse Tag für Tag in Kurzform dargestellt, ein Buch, das sich übrigens hervorragend für einen historischen Twitteraccount eignen würde, über den die Dreyfusaffäre nacherzählt werden könnte…
Auf S. 31 steht unter dem Eintrag 22. Juli 1894:
„Schwartzkoppen fasst dann ein Memorandum ab, wahrscheinlich für seine Vorgesetzten in Berlin. Aber anstatt es abzuschicken, zerreißt er es und wirft die Stücke in den Papierkorb. Mme Bastian (v. September 1889) findet diese Fetzen und liefert sie zu gegebener Zeit bei der Section de Statistique ab.“
Unter dem angegeben Verweis zum September 1889 steht auf S. 13 des Buches:
„Die deutsche Botschaft beschäftigt Madame Bastian (geborene Marie Caudron), eine Putzkraft. (…)“
In den deutschen Quellen der Zeit taucht Marie Bastian bereits als „Madame Bastian“ auf, manchmal auch als “Die Bastian”. Sie war elsässischer Herkunft – was sie zumindest im Nachhinein verdächtig machen musste -, verheiratet und zum Zeitpunkt der Affäre um die 40 Jahre alt. Ihr Agentinnen-Name von französischer Seite war „Auguste“ oder “August”. Ihr deutscher Arbeitgeber glaubte, sie sei Analphabetin, aber in Wirklichkeit tat sie nur so und konnte sehr gut lesen.
Abb. 2: Kein Papierkorb zu sehen: das Büro in der deutschen Botschaft Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Was ein Spion verdient
Nachdem durch einen Artikel in der Times vom 29. August 1899 bekannt wurde, wie die Dokumente aus der Botschaft an die französische Spionageabwehr kamen, setzte sich Marie Bastian mit ihrem Mann ins Ausland ab. Für ihre Spionagetätigkeit hatte sie von der französischen Sektion für Statistik monatlich 100-250 Francs kassiert. Kein schlechtes Gehalt: Zum Vergleich: Esterhazy, der wahre Spion und Schuldige, wollte für Übergabe von Dokumenten von der deutschen Seite 2.000 Francs, bekam aber nur 1.000. Und ein französicher Leutnant verdiente damals ein Jahresgehalt von knapp 2.000 Francs.3 Mit den Gehaltszahlungen an Marie Bastian war nach der Aufdeckung Schluss: Um die deutsch-französischen Beziehungen nicht weiter zu belasten, wurden die monatlichen Zahlungen per Befehl am 15. August 1899 eingestellt, obwohl ihr diese bis zum Lebensende versprochen waren! Die Verdienste fürs Vaterland hat man ihr also nicht gedankt. Es gab aber zumindest im Oktober 1899 noch eine Einmalzahlung von 1.000 Francs.4
Der Kaiser verfügte persönlich, dass in der Botschaft fortan nur noch deutsches Personal eingestellt werden sollte, und zwar Personen, die kein Französisch konnten, am besten ehemalige Soldaten, auf keinen Fall jedoch Franzosen. Und er fügte hinzu: oder Engländer.5 Soweit zur Qualität der Spionageabwehr von deutscher Seite.
Madame: zeitgenössicher Lokalkolorit oder zweifelhafter Anstrich?
Warum ist nun heutzutage oftmals von “Madame Bastian” und nicht von „Marie Bastian“ die Rede?6 Will man damit deutlich machen, dass es sich um eine Französin handelte, die für ihr eigenes Land spionierte? Dafür hätte freilich auch der Zusatz eines Adjektivs – „die französische Putzfrau Marie Bastian“ – gereicht. Oder soll das vorgeschaltete „Madame“ für Lokalkolorit sorgen, was man im Roman (z.B. „Intrige“ von Robert Harris, 20137 ) verstehen könnte, nicht aber in der Forschungsliteratur?
Vielleicht hat man das „Madame“ einfach aus der französischen Literatur übernommen, wo Frau Bastian stets als Mme Bastian auftaucht. Aber warum ist dann bei Lucie Dreyfus, der Ehefrau von Alfred Dreyfus, immer von Lucie Dreyfus und nicht von Madame Dreyfus die Rede?
Und warum übersetzt man “Putzfrau”, nicht aber “Madame”, so dass diese beiden Begriffe aufeinandertreffen und eine heuristische Spannung schaffen, die im Deutschen sicherlich sozialen Ursprungs ist. “Bitte leeren Sie noch den Papierkorb, Madame!”, klingt zwar schön, kann man sich als Dialog aber nur schwer vorstellen…
Oder soll das Wort “Madame” vielleicht Marie Bastian einen zweifelhaften Anstrich geben? Aber in welcher Hinsicht?
Es bleiben viele offene Fragen, doch eine muss zumindest beantwortet werden: Soll ich in meinem eigenen Text mit der bisherigen Geschichtsschreibung brechen und aus der „Putzfrau Madame Bastian“ die „französische Reinigungskraft Marie Bastian“ machen? Ein bisschen täte mir das Leid, Madame…
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Abbildung 1: Der zerrissene und wieder zusammengesetzte “Bordereau”, Archives Nationales, public domain: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:003_Bordereau_recto.jpg
Abbildung 2: Botschaftsbüro zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Postkarte, abgedruckt in: Jörg Ebeling, Ulrich Leben, Das Palais Beauharnais. Residenz des deutschen Botschafters, 2010, S. 11, mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris, alle Rechte dort weiterhin vorbehalten.
Zur Dreyfusaffäre siehe auch:
Mareike König, Die Dreyfus-Affäre in der wilhelminischen Öffentlichkeit (Buchbesprechung), in: Das 19. Jahrhundert in Perspektive, 28.1.2014, http://19jhdhip.hypotheses.org/1479.
Mareike König, Dokumente zur Dreyfusaffäre im Internet, in: Das 19. Jahrhundert in Perspektive, .
Aglaja Weindl, Ausstellungen zur Dreyfusaffäre in Frankreich und Deutschland – eine Übersicht, in: Das 19. Jahrhundert in Perspektive, 3.2.2014, http://19jhdhip.hypotheses.org/1590.
- Vincent Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß, Berlin 1994, S. 12.
- George R. Whyte, Die Dreyfus-Affäre. Die Macht des Vorurteils, Frankfurt a.M. 2010
- Vgl. Louis Begley, Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte, Frankfurt a.M. 2009, S. 73.
- Maurice Baumont, Au cœur de l’Affaire Dreyfus, Paris 1976, S. 360.
- Ibid., S. 362.
- Eine löbliche Ausnahme ist der Wikipedia-Artikel zur Dreyfusaffäre, http://de.wikipedia.org/wiki/Dreyfus-Aff%C3%A4re.
- Engl. An Officer and a Spy, einen Roman, den ich uneingeschränkt empfehlen kann.