Die leidige Verweigerung der Gleichzeitigkeit

HSOZKULT weitet den Blick. Beim Sortieren der Botschaften, die einem täglich in den Email-Account flattern, sortiert man zwar schnell zwischen relevant oder nicht relevant für die eigene Forschung. Manchmal ergibt sich jedoch eine produktive Irritation aus den entfernteren Bereichen der Geschichtswissenschaft. Leider gibt es auch weniger produktive Irritationen, wie den Bericht zu einer Tagung des Erlanger Forschungsprojekts “Gotische Kriegergruppen im spätrömischen Reich” mit dem Titel “Mobile Kriegergruppen in Europa und Afrika. Transkulturelle Perspektiven”.

Belisar und die Goten (1830), aus: Wikimedia Commons.

Als Ziel der Tagung geben die Veranstalter an:

“Der Workshop bringt Phänomene zusammen, die sonst getrennt betrachtet werden: Kriegergruppen im spätantiken Mittelmeerraum sowie neuzeitliche Kriegsherren und ihre Gefolgschaften in Afrika. [...] Der Workshop untersucht sowohl die Gemeinsamkeiten mobiler Kriegergruppen im Europa der Spätantike und im (vor-)modernen Afrika als auch phänomenologisch ähnliche Entwicklungen in unterschiedlichen Kulturräumen und zu verschiedenen Zeiten. Die sich aus dem komparativ angelegten Programm ergebenden transkulturellen Perspektiven sollen der Schärfung des methodischen Zugriffs in den beteiligten Disziplinen dienen. Hinter der Auswahl der Einzelthemen steht der Versuch, eine Zusammenstellung anschaulicher Beispiele für die Bedeutung von Mobilität für den Erfolg im fortwährenden Daseinskampf der Kriegergruppen zu geben.”

Verwunderlich an diesem Programm ist vor allem die, wahrscheinlich unbewußte, Perpeturierung kolonialer Perspektiven und Narrative. Seit dem späten 19. Jahrhundert durchzieht die Erzählung vom zivilisatorischen Entwicklungsvorsprung Europas insbesondere gegenüber afrikanischen Bevölkerungen die kolonialen Diskurse. Dies produzierte zum einen die Idee der Geschichtslosigkeit Afrikas und zum anderen die Idee, afrikanische Gesellschaften mit den “Barbaren”, wie sie von den römisch-antiken Autoren beschrieben wurden, zu vergleichen. Der Ethnologe Johannes Fabian hat diese diskursive Praxis als “denial of coevalness” bezeichnet. Ergebnis der “Verweigerung der Gleichzeitigkeit” war die radikale Alterisierung und letztendlich die Legitimation kolonialer Unterwerfung afrikanischer Bevölkerungen.

Das diese Vergleiche nun erneut angestellt werden, lässt mich gelinde gesagt staunen. Wenn man schon diese radikale Enthistorisierung von “Gewaltgemeinschaften” vornimmt – warum (1) nimmt man nicht europäische Gewaltgemeinschaften der Neuzeit in den Vergleich mit hinein. Das 20. Jahrhundert böte genügend Beispiele – der Verweis auf Timothy Snyders “Bloodlands” dürfte hier wohl genügen. Warum (2) untersucht man nicht die Interaktion von Europäern und Afrikanern, die in zahlreichen Kolonialkriegen transkulturelle Gewaltgemeinschaften bildeten, etwa während des Maji-Maji-Krieges in “Deutsch-Ostafrika”? Warum nicht rezente euro-amerikanische Söldner-Armeen, wie etwa die “Sicherheitsdienstleister” von Blackwater? Warum nicht die Zusammenhänge von afrikanischen Gewaltgemeinschaften und globalen Wirtschaftsbeziehungen (Stichwort: Sklavenhandel im 19. Jahrhundert oder Rohstoffmärket für “blutige Diamanten”, Erdöl oder seltene Erden im 20. Jahrhundert)?

Die Organisatoren argumentieren in dem zitierten Statement insbesondere mit der Mobilität der untersuchten Kriegergruppen.  M. E. ist es jedoch fraglich, ob es genügt, ein Charakteristikum herauszugreifen, um diese Art des Vergleichs zu rechtfertigen. Wenigstens müssten die Traditionslinien klar und kritisch reflektiert werden, in denen diese Herangehensweise steht, bevor man sie reaktiviert. Der Tagungsbericht und die Tagungsankündigung geben leider keinen Hinweis darauf, dass dies geschehen ist. Aber vielleicht erschließt ja ein zukünftiger Sammelband das Feld auf andere Weise.

Zitierte Literatur:

Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York 2002 [1983].


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/06/28/die-leidige-verweigerung-der-gleichzeitigkeit/

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Archive und Digitalisierung: Wo bleiben die Open Access-Promotionsprojekte?

Alle kennen die Situation: Die Zahl der Akademikerinnen und Akademiker steigt und damit auch die Zahl an Promotionen. Und nun werden die einzelnen Promotionen durch den Wettbewerbsdruck thematisch immer enger, vom Umfang aber voluminöser. Und am Ende steht die Publikation, die sich ein Verlag teuer bezahlen lässt. Aber die Promotionen bekommen dennoch keine Reichweite und werden kaum rezipiert. Die Arbeiten sind natürlich nicht für die allgemeine Öffentlichkeit geschrieben, aber sie sind dann auch noch für den Wissenschaftsbetrieb zu speziell und zu teuer.

Wie immer man das dreht und wendet: Der Aufwand für die Qualifikation und Promotion des wissenschaftlichen Nachwuchses steht für die Öffentlichkeit im keinem Verhältnis zum Ergebnis – zumindest, wenn man den wissenschaftlichen Ertrag betrachtet. Wir haben anders gesagt einen Wissenschaftsapparat, dessen Nachwuchs durch eine im Schnitt fünf Jahre andauernde Phase geht, in der er viel zu oft unbrauchbare Printprodukte produziert. Und das ist alles völlig unsinnig, für alle Seiten frustrierend und unwirtschaftlich. Dabei könnte man diese verfahrene Situation schnell auflösen. Mit Open-Access-Promotionsprojekten.

Denn durch die digitale Revolution der Medienlandschaft und durch die Open-Access-Bewegung ist ein riesiger Prozess angestoßen worden, in dem dem nicht nur Artikel, Bücher und Zeitschriften, sondern Archivalien und Quellen aller Art im Netz bereitgestellt werden. Und werden diese Quellen nicht nur online gestellt, kategorisiert, verschlagwortet und durchsuchbar gemacht, sondern sollen diese als historisch-kritische Editionen publiziert werden, haben wir wiederum viel zu wenig Menschen, die das auf einem professionellen Niveau machen können.

Es ist klar, worauf ich hinaus will.

Die Älteren dürften noch wissen, dass man noch vor einigen Jahrzehnten mit historisch-kritischen Editionen promovieren konnte, denn die Anforderungen an eine historisch-kritischen Edition sind nicht zu unterschätzen:

  • man braucht umfassendes Methodenwissen, das sich je nach Wissenschaftstradition unterscheidet,
  • man muss den Quellenbestand nicht nur kennen, sondern auch die Quellen kommentieren und in ihren historischen und sozialen Kontext setzen können,
  • die Einleitungen und Begleittexte müssen in kurzer Form die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen, Methoden- und Editionsprobleme besprechen.

Unter den Leserinnen und Lesern sind sicher Spezialisten, die zum Thema “Anforderungen an eine Edition” weit mehr beisteuern können als ich. Ich stelle mir nur die Frage: Warum machen wir das nicht einfach? Sollten wir in den Gesellschaftswissenschaften und ihren Nachbardisziplinen nicht entsprechende Promotionsordnungen fordern, auf deren Grundlage es möglich ist, mit einer historisch-kritischen digitalen Edition auch einen Doktortitel zu bekommen? Davon würden doch alle profitieren. Die Promotionen könnten Ergebnis einer gesellschaftlich sinnvollen und somit befriedigenden Arbeit sein. Große Editionsarbeiten ließen sich auch auf mehrere Bearbeiter aufteilen. Editionsprojekte könnten schon im Prozess der Publikation Meinungen von Expertinnen und Experten einholen oder Fragen von Nutzern aufgreifen.

Wenn man jetzt die Idee weiterträgt, gibt es vielleicht mal einen Wettbewerb zwischen den Wissenschaftsministerien, welches diese Idee als erster umsetzen kann und die Lorbeeren einsammelt. Da mache ich mir weniger Sorgen. Schwierig wird es, die Akzeptanz im doch extrem konservativen Wissenschaftsapparat herzustellen. Denn es gibt, wie Archivalia zeigt, zwischen Historikern und Archivaren nach wie vor interdisziplinäre Verständigungsschwierigkeiten. Ob diese über digitale Editionsprojekte  aufgehoben werden können, wage ich zu bezweifeln. Aber einen Versuch wäre es doch wert, oder?


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/04/07/archive-und-digitalisierung-wo-bleiben-die-open-access-promotionsprojekte/

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