Von Stefan Sasse
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Häuptling Spotted Elk tot am Wounded Knee, 1890 |
Als Kolumbus auf den mittelamerikanischen Inseln landete, die er selbst für Indien hielt und die sich später als Teil eines eigenen, den Europäern unbekannten Kontinents herausstellten, lebten mehrere Millionen Ureinwohner in Nordamerika. Benannt wurden sie, quasi um Kolumbus Irrtum bis in alle Ewigkeit zu zementieren, Indianer. Im Gegensatz zu den Spaniern, Portugiesen und Franzosen, die in den nächsten 300 Jahren alle versuchten, an den Reichtümern des neuen Kontinents teilzuhaben, gründeten die Briten Siedlerkolonien und schufen, nolens volens, einen neuen Staat: die USA. Dieser war von einem starken Sendungsbewusstsein durchdrungen und hatte es sich von Anfang an zum Ziel gemacht, seine Grenzen nach Westen zu erweitern. In diesem Gebiet der Prärien, schroffen Gebirgszüge und tiefer Wälder schien es keine Vorbesitzer zu geben, das Land gehörte also demjenigen, der es sich zu nehmen bereit war. Die Indianer, die zu dieser Zeit noch einige Millionen zählten, waren zu einem guten Teil Nomaden, insgesamt aber in den Augen der Weißen vor allem eines: rechtlos. Sie konnten keine Ansprüche auf das Land anmelden, die Amerikaner schon. Was folgte, ist aus Winnetou und Lucky Luke sattsam bekannt: gebrochene Verträge, Reservate, Vertreibungen, Aufstände, Tod. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die USA den Kontinent von West nach Ost komplett bedeckten und ihn halbwegs erschlossen hatten, lebte nur noch ein Bruchteil der einstigen Menge an Indianern und vegetierte in Reservaten vor sich hin. Noch heute sind die Indianer in den USA eine schlecht gestellte Minderheit und kämpfen um die Anerkennung der Verbrechen, die an ihnen begangen wurden. Die Frage, die sich hier stellt, ist aber, ob es sich dabei um Völkermord handelte, um einen Genozid der "Weißen" an den "Roten".
Dass es Verbrechen von grauenerregendem Ausmaß an den Indianern gab, ist bekannt und braucht nicht ernsthaft diskutiert zu werden. Massaker wie das am Wounded Knee sind keine Einzelfälle im langsamen Niedergang der Indianer. Die Amerikaner hatten kaum Hemmungen, ihnen ihr Land zu rauben und sie dort, wo sie Widerstand leisteten, aufs Schärfste und Härteste zu bekämpfen. Wenn es zu Indianerkriegen kam, wurden meist unterschiedlos Krieger, Alte, Frauen und Kinder getötet. Terror und Verbrannte-Erde-Taktiken waren bevorzugte Mittel der US Army, wenn sie die Indianer nicht in einer Schlacht stellen konnten (was selten geschah). Doch die Gräueltaten der Amerikaner sind nicht die Einzigen, die an den Ureinwohnern verübt wurden, sie sind lediglich die am besten überlieferten und in der Folklore lebendig gehaltenen. Bereits die Briten und Franzosen gingen rücksichtslos gegen die Ureinwohner vor; in Kanada ist ihre Lage nicht wesentlich besser als in den USA. Die Spanier und Portugiesen töteten in ihren mittel- und südamerikanischen Kolonien tausende von Ureinwohnern, vernichteten sie regelrecht durch Arbeit in Minen und Plantagen. Zehntausende starben an eingeschleppten Seuchen.
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Von Pocken infizierte Nahua (Azteken) |
All das stellt für den Historiker jedoch bereits viele Probleme auf. Das erste ist der verwendete Terminus "die Indianer", als ob es sich um eine homogene Gruppe handle. Die Inuit des hohen Nordens haben aber mit den Inka Südamerikas kaum Berührungspunkte. Die Stämme der Prärie Nordamerikas bekämpften sich gegenseitig teils mit mehr Inbrunst als die weißen Neuankömmlinge, die solche Enmitäten geschickt auszunutzen verstanden. Auch waren den Indianern Grausamkeiten in großem Umgang selbst nicht fremd; selbst die nicht gerade zimperlichen spanischen Conquistadores waren entsetzt, als sie der Massenopfer der Azteken ansichtig wurden, eines Stammes, der gezielt und organisiert Menschen jagte und tötete. Die Darstellung der Indianer als unschuldige Opfer, gewissermaßen als gute Lämmer, die von reißerischen Wölfen zur Strecke gebracht wurden, ist bestenfalls fragwürdig. Treffender ist vermutlich, dass hier Wölfe andere Wölfe töteten. Dass die Kräfteverhältnisse dabei äußerst ungleich verteilt waren, lässt sich natürlich kaum leugnen. Ein weiteres Problem ist, dass die größten Massensterben von Ureinwohnern gleich in der Anfangszeit der Entdeckung, im 16. Jahrhundert, stattfanden und äußerst schlecht dokumentiert sind. Es gibt keine verlässlichen Zahlen über die Bevölkerung vor Ankunft der Europäer, und niemand führte Buch über die Toten in den Kolonien. Wir wissen aber, dass es sehr viele waren, denn den Spaniern gingen die Arbeitskräfte aus, weswegen sie den Import von Sklaven aus anderen Weltregionen begannen.
Schätzungen besagen, dass in einigen der ersten europäischen Kolonien innerhalb weniger Jahre 90% der Bevölkerung verstarben. Es scheint sich hier um einen klaren Fall von Völkermord zu handeln, aber so eindeutig ist der Fall nicht. Es kann nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeschlossen werden, dass die Spanier dieses Massensterben absichtlich herbeiführten. Wesentlich wahrscheinlicher ist eine verheerende Seuche, etwa die Pocken, gegen die Ureinwohner keine Abwehrkräfte besaßen. Es ist sehr gut möglich, dass die Europäer eine solche Seuche einschleppte, aber sicher ist auch das nicht. Solche Unwägbarkeiten machen eine Bewertung des Niedergangs der Indianer in der frühen Kolonialepoche sehr schwer. Sicher ist nur, dass die Opferzahlen in jener Zeit sehr hoch waren. Viele der damaligen Stämme sind bereits im 17. Jahrhundert ausgestorben gewesen. Konstituiert dies jedoch einen Völkermord? Die Spanier haben nicht gerade allzuviel Mitleid und Sympathie für die Ureinwohner gehabt, in denen sie vor allem billige Arbeitskräfte sahen. Zu Tausenden starben die mittel- und südamerikanischen Indianer in Minen und Plantagen (in Nordamerika war die Bevölkerungsdichte zu niedrig, als dass man ein lohnenswertes Feld darin hätte sehen können). Jedoch, der Tod dieser Menschen war den Spaniern zwar egal. Er war aber nicht ihre Triebfeder. Sie rotteten die indigene Bevölkerung nicht absichtlich aus. Von einem Völkermord zu sprechen scheint deswegen nicht gerechtfertigt. Es gibt meines Wissens nach kein vernünftiges Wort dafür, Menschen in Massen an schlechten Bedingungen zugrunde gehen zu lassen. Für Völkermord aber ist die Absicht, ein Volk tatsächlich zu vernichten, entscheidend.
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Sioux-Häuptling Sitting Bull |
Deswegen kann auch der Niedergang der nordamerikanischen Indianer nicht als Völkermord bezeichnet werden. Trotz seiner im Vergleich geringeren Proportionen ist er deutlich bekannter und im Bewusstsein wesentlich präsenter als das Massensterben der mittel- und südamerikanischen Indianer. Dies hat viel mit der Aufladung der Indianergeschichte Nordamerikas zu tun, einer Aufladung sowohl romatisch-literarischer Art als auch politischer Natur. Nicht erst seit Karl May verkörpern "die Indianer" eine Art naturhafte Unschuld, die der anonymen Zivilisation der Weißen entgegengesetzt wurde. Sehnüchte wurden auf die Indianer projiziert, die als "edle Wilde" in Harmonie mit ihrer Umgebung lebten. Das Vordringen des "weißen Mannes" war die Entsprechung des biblischen Sündenfalls, die die Idylle vernichtete. Viele der so rankenden Legenden sind haltlos. Die Indianer lebten in keinem Einklang mit der Natur oder nahmen nur, was sie brauchten, wie es die Folklore will. Sie betrieben, wo sie es konnten, genauso Raubbau wie die Weißen auch - ihnen fehlten nur die organisatorischen Mittel, die Industrialisierung und die pure Masse, um denselben zerstörerischen Effekt zu erreichen. Die Indianer sind nicht "die Guten" in einem Konflikt gegen "die bösen" Weißen, wie es nur allzuoft im Western dargestellt wird. Es gab gute Menschen unter ihnen und böse, genauso wie in allen anderen Völkern auch. Durch die Projizierung der eigenen Schuld auf die Indianer wurden diese aber mit zivilisationskritischem Ballast beladen, der eigentlich nicht zu ihnen gehört, und wurde der Untergang ihrer Lebensräume und Lebensweise teilweise ins Mythische überhöht, während niemand den Inka oder Azteken eine Träne nachweint.
Ein geplanter Völkermord gegen die nordamerikanischen Indianer fand entsprechend nie statt. Ihr Untergang war eine direkte Folge der assymetrischen Machtbalance. Die Weißen waren mehr, wesentlich besser bewaffnet, ausgerüstet und organisiert. Die Indianer hatten in den Verteilungskämpfen in Nordamerika keine Chance. Die Großen unter ihren Häuptlingen sahen dies bereits frühzeitig und versuchten, dem irgendwie zu entgehen - der Krieg, den Tecumseh etwa im frühen 19. Jahrhundert gegen die amerikanischen Siedlungsbestrebungen führte war der Versuch, die Appalachen als Grenze zu etablieren. Andere Häuptlinge kämpften später für vernünftige Reservate. Insgesamt aber blieben die Indianer politisch zersplittert und uneins, was den Weißen ihre Aufgabe deutlich erleichterte (obgleich die großen Indianerreiche Mittel- und Südamerikas noch schneller fielen). Die industrialisierte Zivilisation überrollte sie am Ende einfach. Es war ein Prozess, der nur friedlich hätte abgehen können, wenn die Indianer einfach aufgegeben hätten. Das war nicht zu erwarten, und im 19. Jahrhundert waren die Ideen der Menschenrechte noch nicht sonderlich ausgeprägt.
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Ernte in einem Reservat, 1936 |
Den USA Völkermord an den Indianern vorzuwerfen ist deswegen hoch problematisch. Es gab nie ein Programm, das die Ausrottung der Ureinwohner zum Thema hatte. Ihr Verschwinden war vielmehr das natürliche Ergebnis des Ausbreitungsprozesses der USA selbst - die bereits beschriebene Machtassymetrie ließ kaum ein anderes Ergebnis zu. Wären die Indianer stärker oder politisch relevant gewesen, hätten sie vielleicht eigene, autonome Nationen innerhalb der USA gründen können. So blieben ihnen nur die Reservate. Letztere können geradezu als Verkörperungen einer ungerechten Behandlung der Indianer gelten. Schlechtes Land, keine Chancen und kaum entwickelte Infrastruktur kennzeichnen sie ebenso wie sozialer Zerfall. Von Völkermord aber ist es weit entfernt. 200 Jahre zuvor wäre noch niemand auf die Idee gekommen, Reservate einzurichten - stattdessen hätte man die Indianer einfach sich selbst überlassen, was ihrem sicheren Tod gleichgekommen wäre. Der Völkermordvorwurf wird heute gerne politisch gebraucht. Zum Einen ist es ein Zeichen von Progressivität, sich für Indianerbelange einzusetzen (in den 1970er Jahren gab es eine regelrechte Indianer-Mode), zum anderen kann der Vorwurf des Völkermords an den Indianern benutzt werden, um die moralische Glaubwürdigkeit der Amerikaner zu zerstören und die eigene Schuld zu relativieren. Es soll hier gar nicht der Versuch unternommen werden, das Verhalten der USA gegenüber den Indianern zu rechtfertigen. Es erklärt sich aber aus den Gegebenheiten und Denkweisen der damaligen Zeit. Dies reduziert die Schuld der Amerikaner, der sie sich bis heute nicht so offensiv stellen, wie das wünschenswert wäre, keinesfalls. Der Vorwurf eines Völkermords aber ist ungerechtfertigt.
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/war-das-ende-der-amerikanischen.html