War das Ende der amerikanischen Ureinwohner Völkermord?

Von Stefan Sasse

Häuptling Spotted Elk tot am Wounded Knee, 1890
Als Kolumbus auf den mittelamerikanischen Inseln landete, die er selbst für Indien hielt und die sich später als Teil eines eigenen, den Europäern unbekannten Kontinents herausstellten, lebten mehrere Millionen Ureinwohner in Nordamerika. Benannt wurden sie, quasi um Kolumbus Irrtum bis in alle Ewigkeit zu zementieren, Indianer. Im Gegensatz zu den Spaniern, Portugiesen und Franzosen, die in den nächsten 300 Jahren alle versuchten, an den Reichtümern des neuen Kontinents teilzuhaben, gründeten die Briten Siedlerkolonien und schufen, nolens volens, einen neuen Staat: die USA. Dieser war von einem starken Sendungsbewusstsein durchdrungen und hatte es sich von Anfang an zum Ziel gemacht, seine Grenzen nach Westen zu erweitern. In diesem Gebiet der Prärien, schroffen Gebirgszüge und tiefer Wälder schien es keine Vorbesitzer zu geben, das Land gehörte also demjenigen, der es sich zu nehmen bereit war. Die Indianer, die zu dieser Zeit noch einige Millionen zählten, waren zu einem guten Teil Nomaden, insgesamt aber in den Augen der Weißen vor allem eines: rechtlos. Sie konnten keine Ansprüche auf das Land anmelden, die Amerikaner schon. Was folgte, ist aus Winnetou und Lucky Luke sattsam bekannt: gebrochene Verträge, Reservate, Vertreibungen, Aufstände, Tod. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die USA den Kontinent von West nach Ost komplett bedeckten und ihn halbwegs erschlossen hatten, lebte nur noch ein Bruchteil der einstigen Menge an Indianern und vegetierte in Reservaten vor sich hin. Noch heute sind die Indianer in den USA eine schlecht gestellte Minderheit und kämpfen um die Anerkennung der Verbrechen, die an ihnen begangen wurden. Die Frage, die sich hier stellt, ist aber, ob es sich dabei um Völkermord handelte, um einen Genozid der "Weißen" an den "Roten".

Dass es Verbrechen von grauenerregendem Ausmaß an den Indianern gab, ist bekannt und braucht nicht ernsthaft diskutiert zu werden. Massaker wie das am Wounded Knee sind keine Einzelfälle im langsamen Niedergang der Indianer. Die Amerikaner hatten kaum Hemmungen, ihnen ihr Land zu rauben und sie dort, wo sie Widerstand leisteten, aufs Schärfste und Härteste zu bekämpfen. Wenn es zu Indianerkriegen kam, wurden meist unterschiedlos Krieger, Alte, Frauen und Kinder getötet. Terror und Verbrannte-Erde-Taktiken waren bevorzugte Mittel der US Army, wenn sie die Indianer nicht in einer Schlacht stellen konnten (was selten geschah). Doch die Gräueltaten der Amerikaner sind nicht die Einzigen, die an den Ureinwohnern verübt wurden, sie sind lediglich die am besten überlieferten und in der Folklore lebendig gehaltenen. Bereits die Briten und Franzosen gingen rücksichtslos gegen die Ureinwohner vor; in Kanada ist ihre Lage nicht wesentlich besser als in den USA. Die Spanier und Portugiesen töteten in ihren mittel- und südamerikanischen Kolonien tausende von Ureinwohnern, vernichteten sie regelrecht durch Arbeit in Minen und Plantagen. Zehntausende starben an eingeschleppten Seuchen. 

Von Pocken infizierte Nahua (Azteken)
All das stellt für den Historiker jedoch bereits viele Probleme auf. Das erste ist der verwendete Terminus "die Indianer", als ob es sich um eine homogene Gruppe handle. Die Inuit des hohen Nordens haben aber mit den Inka Südamerikas kaum Berührungspunkte. Die Stämme der Prärie Nordamerikas bekämpften sich gegenseitig teils mit mehr Inbrunst als die weißen Neuankömmlinge, die solche Enmitäten geschickt auszunutzen verstanden. Auch waren den Indianern Grausamkeiten in großem Umgang selbst nicht fremd; selbst die nicht gerade zimperlichen spanischen Conquistadores waren entsetzt, als sie der Massenopfer der Azteken ansichtig wurden, eines Stammes, der gezielt und organisiert Menschen jagte und tötete. Die Darstellung der Indianer als unschuldige Opfer, gewissermaßen als gute Lämmer, die von reißerischen Wölfen zur Strecke gebracht wurden, ist bestenfalls fragwürdig. Treffender ist vermutlich, dass hier Wölfe andere Wölfe töteten. Dass die Kräfteverhältnisse dabei äußerst ungleich verteilt waren, lässt sich natürlich kaum leugnen. Ein weiteres Problem ist, dass die größten Massensterben von Ureinwohnern gleich in der Anfangszeit der Entdeckung, im 16. Jahrhundert, stattfanden und äußerst schlecht dokumentiert sind. Es gibt keine verlässlichen Zahlen über die Bevölkerung vor Ankunft der Europäer, und niemand führte Buch über die Toten in den Kolonien. Wir wissen aber, dass es sehr viele waren, denn den Spaniern gingen die Arbeitskräfte aus, weswegen sie den Import von Sklaven aus anderen Weltregionen begannen. 

Schätzungen besagen, dass in einigen der ersten europäischen Kolonien innerhalb weniger Jahre 90% der Bevölkerung verstarben. Es scheint sich hier um einen klaren Fall von Völkermord zu handeln, aber so eindeutig ist der Fall nicht. Es kann nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeschlossen werden, dass die Spanier dieses Massensterben absichtlich herbeiführten. Wesentlich wahrscheinlicher ist eine verheerende Seuche, etwa die Pocken, gegen die Ureinwohner keine Abwehrkräfte besaßen. Es ist sehr gut möglich, dass die Europäer eine solche Seuche einschleppte, aber sicher ist auch das nicht. Solche Unwägbarkeiten machen eine Bewertung des Niedergangs der Indianer in der frühen Kolonialepoche sehr schwer. Sicher ist nur, dass die Opferzahlen in jener Zeit sehr hoch waren. Viele der damaligen Stämme sind bereits im 17. Jahrhundert ausgestorben gewesen. Konstituiert dies jedoch einen Völkermord? Die Spanier haben nicht gerade allzuviel Mitleid und Sympathie für die Ureinwohner gehabt, in denen sie vor allem billige Arbeitskräfte sahen. Zu Tausenden starben die mittel- und südamerikanischen Indianer in Minen und Plantagen (in Nordamerika war die Bevölkerungsdichte zu niedrig, als dass man ein lohnenswertes Feld darin hätte sehen können). Jedoch, der Tod dieser Menschen war den Spaniern zwar egal. Er war aber nicht ihre Triebfeder. Sie rotteten die indigene Bevölkerung nicht absichtlich aus. Von einem Völkermord zu sprechen scheint deswegen nicht gerechtfertigt. Es gibt meines Wissens nach kein vernünftiges Wort dafür, Menschen in Massen an schlechten Bedingungen zugrunde gehen zu lassen. Für Völkermord aber ist die Absicht, ein Volk tatsächlich zu vernichten, entscheidend. 

Sioux-Häuptling Sitting Bull
Deswegen kann auch der Niedergang der nordamerikanischen Indianer nicht als Völkermord bezeichnet werden. Trotz seiner im Vergleich geringeren Proportionen ist er deutlich bekannter und im Bewusstsein wesentlich präsenter als das Massensterben der mittel- und südamerikanischen Indianer. Dies hat viel mit der Aufladung der Indianergeschichte Nordamerikas zu tun, einer Aufladung sowohl romatisch-literarischer Art als auch politischer Natur. Nicht erst seit Karl May verkörpern "die Indianer" eine Art naturhafte Unschuld, die der anonymen Zivilisation der Weißen entgegengesetzt wurde. Sehnüchte wurden auf die Indianer projiziert, die als "edle Wilde" in Harmonie mit ihrer Umgebung lebten. Das Vordringen des "weißen Mannes" war die Entsprechung des biblischen Sündenfalls, die die Idylle vernichtete. Viele der so rankenden Legenden sind haltlos. Die Indianer lebten in keinem Einklang mit der Natur oder nahmen nur, was sie brauchten, wie es die Folklore will. Sie betrieben, wo sie es konnten, genauso Raubbau wie die Weißen auch - ihnen fehlten nur die organisatorischen Mittel, die Industrialisierung und die pure Masse, um denselben zerstörerischen Effekt zu erreichen. Die Indianer sind nicht "die Guten" in einem Konflikt gegen "die bösen" Weißen, wie es nur allzuoft im Western dargestellt wird. Es gab gute Menschen unter ihnen und böse, genauso wie in allen anderen Völkern auch. Durch die Projizierung der eigenen Schuld auf die Indianer wurden diese aber mit zivilisationskritischem Ballast beladen, der eigentlich nicht zu ihnen gehört, und wurde der Untergang ihrer Lebensräume und Lebensweise teilweise ins Mythische überhöht, während niemand den Inka oder Azteken eine Träne nachweint. 

Ein geplanter Völkermord gegen die nordamerikanischen Indianer fand entsprechend nie statt. Ihr Untergang war eine direkte Folge der assymetrischen Machtbalance. Die Weißen waren mehr, wesentlich besser bewaffnet, ausgerüstet und organisiert. Die Indianer hatten in den Verteilungskämpfen in Nordamerika keine Chance. Die Großen unter ihren Häuptlingen sahen dies bereits frühzeitig und versuchten, dem irgendwie zu entgehen - der Krieg, den Tecumseh etwa im frühen 19. Jahrhundert gegen die amerikanischen Siedlungsbestrebungen führte war der Versuch, die Appalachen als Grenze zu etablieren. Andere Häuptlinge kämpften später für vernünftige Reservate. Insgesamt aber blieben die Indianer politisch zersplittert und uneins, was den Weißen ihre Aufgabe deutlich erleichterte (obgleich die großen Indianerreiche Mittel- und Südamerikas noch schneller fielen). Die industrialisierte Zivilisation überrollte sie am Ende einfach. Es war ein Prozess, der nur friedlich hätte abgehen können, wenn die Indianer einfach aufgegeben hätten. Das war nicht zu erwarten, und im 19. Jahrhundert waren die Ideen der Menschenrechte noch nicht sonderlich ausgeprägt.

Ernte in einem Reservat, 1936
Den USA Völkermord an den Indianern vorzuwerfen ist deswegen hoch problematisch. Es gab nie ein Programm, das die Ausrottung der Ureinwohner zum Thema hatte. Ihr Verschwinden war vielmehr das natürliche Ergebnis des Ausbreitungsprozesses der USA selbst - die bereits beschriebene Machtassymetrie ließ kaum ein anderes Ergebnis zu. Wären die Indianer stärker oder politisch relevant gewesen, hätten sie vielleicht eigene, autonome Nationen innerhalb der USA gründen können. So blieben ihnen nur die Reservate. Letztere können geradezu als Verkörperungen einer ungerechten Behandlung der Indianer gelten. Schlechtes Land, keine Chancen und kaum entwickelte Infrastruktur kennzeichnen sie ebenso wie sozialer Zerfall. Von Völkermord aber ist es weit entfernt. 200 Jahre zuvor wäre noch niemand auf die Idee gekommen, Reservate einzurichten - stattdessen hätte man die Indianer einfach sich selbst überlassen, was ihrem sicheren Tod gleichgekommen wäre. Der Völkermordvorwurf wird heute gerne politisch gebraucht. Zum Einen ist es ein Zeichen von Progressivität, sich für Indianerbelange einzusetzen (in den 1970er Jahren gab es eine regelrechte Indianer-Mode), zum anderen kann der Vorwurf des Völkermords an den Indianern benutzt werden, um die moralische Glaubwürdigkeit der Amerikaner zu zerstören und die eigene Schuld zu relativieren. Es soll hier gar nicht der Versuch unternommen werden, das Verhalten der USA gegenüber den Indianern zu rechtfertigen. Es erklärt sich aber aus den Gegebenheiten und Denkweisen der damaligen Zeit. Dies reduziert die Schuld der Amerikaner, der sie sich bis heute nicht so offensiv stellen, wie das wünschenswert wäre, keinesfalls. Der Vorwurf eines Völkermords aber ist ungerechtfertigt.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/war-das-ende-der-amerikanischen.html

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Zur Debatte um die Wiederauflage von "Mein Kampf"

Von Stefan Sasse

Dem Freistaat Bayern ist überraschend aufgefallen, dass das Urheberrecht auf Hitlers Nachlass - prominent darunter "Mein Kampf" - bald ausläuft (das Urheberrecht lag für 70 Jahre bei Bayern). Danach darf jeder, der will, das Buch drucken und verkaufen. Bislang hatte Bayern sich beharrlich geweigert, auch nur eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe zuzulassen - wer "Mein Kampf" lesen wollte, musste es sich in einem der 193 anderen Staaten dieser Welt besorgen. Die Debatte, die nun entsteht, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Als Paradebeispiel dafür kann "Anne Will" von 2.5.2012 herhalten, wo Norbert Geis (CSU), Wibke Bruhns (Journalistin), Volker Beck (Grüne), Serdar Somuncu (Kabarettist), Gabriele Baring (Therapeuthin) und Wolfgang Herles (Journalist) redeten. Die Forderung des CSU-Politikers Geis, "Mein Kampf" im Geschichtsunterricht in der Schule zu besprechen, diente dabei als Aufhänger der Sendung. Die Journalistin Wibke Bruhns, deren Vater als "Mitwisser" vom 20. Juli im August 1944 hingerichtet wurde, widersprach Geis aufs Schärfste. Sie empfiehlt "den Jugendlichen", die "eh nicht mehr lesen, sondern nur noch in Ausschnitten googeln" (aha) stattdessen die "seriöse" Widerstandsliteratur. Und damit sind wir auch mittendrin in einer Gespensterdebatte alter Menschen. 

Im Folgenden gehen sich die Diskutanten darüber aus, ob "Mein Kampf" an den Kiosken zum neuen Bestseller werden könne und Jugendliche vielleicht zum Neonazismus ziehen könnte. Die Vorstellung ist so unsäglich albern, dass einem die Synapsen knacken. "Mein Kampf" ist ein 700-Seiten-Wälzer in einer Sprache und mit einem Stil, der schon in den Zwanziger und Dreißiger Jahren dafür gesorgt hat, dass niemand das Buch wirklich lesen wollte. Somuncu, der so etwas wie die Stimme der Vernunft an dem Abend darstellte, bewies mit seinem Programm der kommentierten Mein-Kampf-Lesungen, wie lächerlich Hitlers verschriftliche Gedanken und wie eigentlich unlesbar sein Stil sind. Die Vorstellung, dass Jugendliche aus reiner Neugier sich durch diese siebenhundert Seiten lesen und dann, puff, zu Neonazis konvertiert werden ist vollkommen albern. "Mein Kampf" eignet sich höchstens als Paraphernalium für Neonazis, ein Objekt, das man sich in den Schrank stellt um zu zeigen, dass das Herz rechts schlägt. Diese Gefahr besteht selbstverständlich, aber daran können alle kommentierten Ausgaben dieser Welt nichts ändern. Ernsthaft lesen wird das Buch immer noch kaum jemand, und schon gar nicht jemand, der in der Neonazi-Szene als Sympathisant mitläuft. Wer so determiniert ist, sich Hitlers Gedanken en detail anzutun, der hat eh längst Mittel und Wege gefunden, das Ding zu lesen und zu vervielfältigen.

Bleibt die Forderung nach einer Behandlung an der Schule. Wenn ich Geis richtig verstanden habe, schlägt er vor, das Buch an der Schule in Auszügen zu behandeln und textkritisch zu analysieren. Wibke Bruhns, im Angriffsmodus, bezweifelt einfach einmal pauschal, dass alle Geschichtslehrer dafür ausgebildet sind. Danke, Frau Bruhns. Ich habe zwar im "Mein Kampf"-Didaktik-Kurs gefehlt, aber Auszüge daraus mit meinen Schülern zu besprechen traue ich mir dann doch zu. Die Sportpalastrede nutzen wir Geschichtslehrer seit Generationen, ohne dass wir bisher die Jugend zum Totalen Krieg verzogen haben; man kann es sich kaum vorstellen. Und wo ich gerade schon dabei bin kann ich mich an Bruns gerne noch ein bisschen mehr abarbeiten. Ihr Vorschlag, dass Jugendliche stattdessen seriöse Literatur kaufen und lesen sollten, also beispielsweise Texte zeitgenössischer Schriftsteller, ist sicherlich von ehrenwerter Intention. Von der Realität ist sie genausoweit entfernt wie ihre Vorstellungen davon wie ihre Theorie, wie Jugendliche sich durch das Internet bewegen.Die Geschichte des Dritten Reiches und auch des Widerstands dagegen ist genau das - Geschichte. Einige wenige sehr interessierte Jugendliche werden sich sicher über den Geschichtsunterricht hinaus darüber informieren, aber auch von denen wird nur ein Bruchteil soweit gehen, Originaldokumente der damaligen Zeit zu lesen. Selbst im Studium macht man das größtenteils im Rahmen der Forschungsarbeit und nicht zum persönlichen Vergnügen. 

Bruhns kommt hier schlicht ihre eigene Vergangenheit in den Weg. Es ist nachvollziehbar, aber bringt die Debatte kein Stück voran. Die Zeit ist mittlerweile über die wenigen verbliebenen Zeitzeugen hinweggerollt. Die Kämpfte um die Deutungshoheit der NS-Zeit finden inzwischen an anderen Fronten statt. Es wird Zeit, einer neuen, weniger vorbelasteten Generation das Feld zu überlassen. Es ist sicher kein Zufall, dass Anne Wills Talkrunde am Ende scheiterte. Volker Beck war mit 51 der zweitjüngste Teilnehmer der Runde, nach Somuncu. Wenig überraschend hatte auch Somuncu die pragmatischsten und angemessensten Ansätze an das Thema. Der Großteil der Wortmeldungen, ob nun von Geis, Bahring oder Bruhns, wirkte völlig aus der Zeit gefallen. Und das liegt schlicht daran, dass er aus der Zeit gefallen ist. Es wird Zeit, das einzusehen.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/zur-debatte-um-die-wiederauflage-von.html

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Zur Debatte um die Wiederauflage von "Mein Kampf"

Von Stefan Sasse

Dem Freistaat Bayern ist überraschend aufgefallen, dass das Urheberrecht auf Hitlers Nachlass - prominent darunter "Mein Kampf" - bald ausläuft (das Urheberrecht lag für 70 Jahre bei Bayern). Danach darf jeder, der will, das Buch drucken und verkaufen. Bislang hatte Bayern sich beharrlich geweigert, auch nur eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe zuzulassen - wer "Mein Kampf" lesen wollte, musste es sich in einem der 193 anderen Staaten dieser Welt besorgen. Die Debatte, die nun entsteht, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Als Paradebeispiel dafür kann "Anne Will" von 2.5.2012 herhalten, wo Norbert Geis (CSU), Wibke Bruhns (Journalistin), Volker Beck (Grüne), Serdar Somuncu (Kabarettist), Gabriele Baring (Therapeuthin) und Wolfgang Herles (Journalist) redeten. Die Forderung des CSU-Politikers Geis, "Mein Kampf" im Geschichtsunterricht in der Schule zu besprechen, diente dabei als Aufhänger der Sendung. Die Journalistin Wibke Bruhns, deren Vater als "Mitwisser" vom 20. Juli im August 1944 hingerichtet wurde, widersprach Geis aufs Schärfste. Sie empfiehlt "den Jugendlichen", die "eh nicht mehr lesen, sondern nur noch in Ausschnitten googeln" (aha) stattdessen die "seriöse" Widerstandsliteratur. Und damit sind wir auch mittendrin in einer Gespensterdebatte alter Menschen. 

Im Folgenden gehen sich die Diskutanten darüber aus, ob "Mein Kampf" an den Kiosken zum neuen Bestseller werden könne und Jugendliche vielleicht zum Neonazismus ziehen könnte. Die Vorstellung ist so unsäglich albern, dass einem die Synapsen knacken. "Mein Kampf" ist ein 700-Seiten-Wälzer in einer Sprache und mit einem Stil, der schon in den Zwanziger und Dreißiger Jahren dafür gesorgt hat, dass niemand das Buch wirklich lesen wollte. Somuncu, der so etwas wie die Stimme der Vernunft an dem Abend darstellte, bewies mit seinem Programm der kommentierten Mein-Kampf-Lesungen, wie lächerlich Hitlers verschriftliche Gedanken und wie eigentlich unlesbar sein Stil sind. Die Vorstellung, dass Jugendliche aus reiner Neugier sich durch diese siebenhundert Seiten lesen und dann, puff, zu Neonazis konvertiert werden ist vollkommen albern. "Mein Kampf" eignet sich höchstens als Paraphernalium für Neonazis, ein Objekt, das man sich in den Schrank stellt um zu zeigen, dass das Herz rechts schlägt. Diese Gefahr besteht selbstverständlich, aber daran können alle kommentierten Ausgaben dieser Welt nichts ändern. Ernsthaft lesen wird das Buch immer noch kaum jemand, und schon gar nicht jemand, der in der Neonazi-Szene als Sympathisant mitläuft. Wer so determiniert ist, sich Hitlers Gedanken en detail anzutun, der hat eh längst Mittel und Wege gefunden, das Ding zu lesen und zu vervielfältigen.

Bleibt die Forderung nach einer Behandlung an der Schule. Wenn ich Geis richtig verstanden habe, schlägt er vor, das Buch an der Schule in Auszügen zu behandeln und textkritisch zu analysieren. Wibke Bruhns, im Angriffsmodus, bezweifelt einfach einmal pauschal, dass alle Geschichtslehrer dafür ausgebildet sind. Danke, Frau Bruhns. Ich habe zwar im "Mein Kampf"-Didaktik-Kurs gefehlt, aber Auszüge daraus mit meinen Schülern zu besprechen traue ich mir dann doch zu. Die Sportpalastrede nutzen wir Geschichtslehrer seit Generationen, ohne dass wir bisher die Jugend zum Totalen Krieg verzogen haben; man kann es sich kaum vorstellen. Und wo ich gerade schon dabei bin kann ich mich an Bruns gerne noch ein bisschen mehr abarbeiten. Ihr Vorschlag, dass Jugendliche stattdessen seriöse Literatur kaufen und lesen sollten, also beispielsweise Texte zeitgenössischer Schriftsteller, ist sicherlich von ehrenwerter Intention. Von der Realität ist sie genausoweit entfernt wie ihre Vorstellungen davon wie ihre Theorie, wie Jugendliche sich durch das Internet bewegen.Die Geschichte des Dritten Reiches und auch des Widerstands dagegen ist genau das - Geschichte. Einige wenige sehr interessierte Jugendliche werden sich sicher über den Geschichtsunterricht hinaus darüber informieren, aber auch von denen wird nur ein Bruchteil soweit gehen, Originaldokumente der damaligen Zeit zu lesen. Selbst im Studium macht man das größtenteils im Rahmen der Forschungsarbeit und nicht zum persönlichen Vergnügen. 

Bruhns kommt hier schlicht ihre eigene Vergangenheit in den Weg. Es ist nachvollziehbar, aber bringt die Debatte kein Stück voran. Die Zeit ist mittlerweile über die wenigen verbliebenen Zeitzeugen hinweggerollt. Die Kämpfte um die Deutungshoheit der NS-Zeit finden inzwischen an anderen Fronten statt. Es wird Zeit, einer neuen, weniger vorbelasteten Generation das Feld zu überlassen. Es ist sicher kein Zufall, dass Anne Wills Talkrunde am Ende scheiterte. Volker Beck war mit 51 der zweitjüngste Teilnehmer der Runde, nach Somuncu. Wenig überraschend hatte auch Somuncu die pragmatischsten und angemessensten Ansätze an das Thema. Der Großteil der Wortmeldungen, ob nun von Geis, Bahring oder Bruhns, wirkte völlig aus der Zeit gefallen. Und das liegt schlicht daran, dass er aus der Zeit gefallen ist. Es wird Zeit, das einzusehen.

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Die Macht der Bilder

Von Stefan Sasse

Kniefall Willy Brandts
Bilder besitzen eine unglaubliche Wirkmächtigkeit. Oftmals definieren sie historische Verläufe und brennen sich in das öffentliche Gedächtnis ein. Es sind diese Bilder, an die man sofort denkt, wenn man ein bestimmtes Ereignis hört. Willy Brandts Ostpolitik ist so ein Beispiel. Wer kennt nicht das Bild von Brandts Kniefall am Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto? Die Frage, die seinerzeit die Republik spaltete - "Durfte Brandt knien?" wollte etwa der Spiegel in einer Leserumfrage wissen - ist längst beantwortet. Die Ikonographie dieses Bildes hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es gibt viele solcher Bilder. Der Lagereingang von Auschwitz etwa wirft jeden sofort in die Holocaust Thematik, man kann sich der Sogwirkung kaum entziehen. Die beschriebenen Eisenbahnwaggons der an die Front fahrenden Truppenzüge 1914 gehören zur kollektiven Erinnerung an das "Augusterlebnis", und ob es so je stattgefunden hat - was Historiker mehr und mehr bezweifeln - spielt angesichts der Symbolkraft des Bildes kaum eine Rolle mehr. Fotographen nutzen diese Effekte bewusst, und die Protokollbeamten sorgen bei offiziellen Anlässen dafür, dass es entsprechende Bilder gibt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Konferenz von Jalta, wo Churchill, Stalin und Roosevelt in den Stühlen nebeneinander sitzen. Nicht, dass man in so einer Pose ernsthaft verhandeln könnte, aber das Bild zeigt uns sofort, um was geht: drei Staatsmänner verhandeln hier offensichtlich gewichtige Dinge. 

Oftmals ersetzt die Ikonographie solcher Bilder die historische Realität und die Beschäftigung mit dem eigentlichen Gegenstand. Manche Bilder - das erwähnte Lagertor etwa - dienen lediglich als kraftvolle Verstärkung eines Themas. Andere dagegen ersetzen den historischen Kontext praktisch völlig. Wer weiß denn heute noch, weswegen Willy Brandt wirklich in Warschau war? Der Kniefall und seine Bildsprache hat das historische Ereignis längst verdrängt und ist zu einem eigenen historischen Ereignis geworden. Dabei ist das heutzutage, wo die Informationen vergleichsweise leicht zu erlangen sind und Fotos auch aus anderen Perspektiven und Zeitpunkten zugänglich sind noch ein relativ harmloser Effekt. Zu einer Zeit, als die Gemäldemalerie die historische Perzeption bestimmte, musste ein Staatsmann eine Inszenierung noch nicht tatsächlich durchführen, ja, nicht einmal an Ort und Stelle sein. Im hochkonstruierten Gemälde wurde mit mächtiger Bildsprache der gewünschte Effekt erzielt, ein Effekt, dem wir uns selbst heute nur schwer entziehen können. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Gemälde "Washington Crossing the Deleware" von Emanuel Leutze, das 1851 entstand. 


Über 70 Jahre nach der eigentlichen Revolution als Auftragsarbeit in Deutschland entstanden, kann es kaum als authentisch angesehen werden. Trotzdem - oder gerade deswegen - ist es ein Musterbeispiel. Es ist vermutlich das berühmteste "Zeugnis" der amerikanischen Revolution. Sein eigentlicher Gegenstand, die sich anschließende Schlacht bei Trenton, ist kaum jemandem bekannt. Die Überquerung des Deleware selbst steht heute noch im Zentrum der Erinnerung, so sehr, dass niemand etwas dabei fand, eine Folge der Muppet-Serie "The American Revolution" über das Bild zu machen anstatt über das Ereignis der Schlacht von Trenton selbst. Wir wollen im Folgenden exemplarisch anhand des Bildes durcharbeiten, wie diese Historiengemälde arbeiten - denn sie alle haben den Zweck, die Intention, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Das gilt für Washingtons Deleware-Überquerung ebenso wie für die Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles oder Napoleons Kaiserkrönung, die beide in ebenso monumentalen wie historisch falschen Gemälden verewigt wurden. Um Missverständnisse zu vermeiden: die Fehler hier sind keine Dinge, die der Maler übersehen hat. Sie sind Dinge, die der Wirkung im Weg standen oder die schlicht nicht wichtig waren. 

Das beginnt beim vorliegenden Gemälde schon bei dem Eis, das den Fluss hinuntertreibt. Der Deleware führt kein solches Eis; was dem Maler vor Augen stand war der heimatliche Rhein, der solches Eis dagegen sehr wohl führt. Das nächste ist die Lichtquelle. Sie befindet sich genau hinter Washington und gibt ihm die hervorgehobene Stellung, illuminiert ihn als Heilsgestalt. Vom Standpunkt des Beobachters aus müsste das natürlich dazu führen, dass die Bootsbesatzung nur als Silhouetten wahrnehmbar ist. Die Flagge, die der Mann hinter Washington hält ist eine Betsy-Ross-Flag, also die dreizehn Sterne mit den dreizehn Balken. Zum Zeitpunkt der Schlacht von Trenton hab es diese Flagge noch überhaupt nicht, stattdessen führte man noch die "Continental Colors". Auch die Bootsbesatzung ergibt überhaupt keinen Sinn; sie ist bunt zusammengewürfelt, und außer Washington und dem Flaggenträger gibt es niemanden in Uniform. Die Boote sind außerdem viel zu klein, um die Armee, geschweige denn die Pferde, über den Fluss zu transportieren. Bedenkt man zudem, dass es um eine heimliche Übersetzung ging, bei der jederzeit mit Beschuss zu rechnen war, so macht die aufrechte Haltung Washingtons und seine Positionierung im ersten Boot keinerlei Sinn, und der strenge Winter lässt seine Kleidung wie die seiner Mitfahrer als reichlich unangebracht erscheinen.

Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles
Das alles ist natürlich irrelevant. Weder Leutze noch den Auftraggebern in den USA ging es um eine akkurate Darstellung. Stattdessen sollte hier ein Gründungsmythos besiegelt werden. Die Bildsprache selbst ist eindeutig. Washington, der Heros der jungen Nation, wird von der (fast göttlichen) Sonne in der Bildmitte illuminiert. Direkt hinter ihm ist die Flagge der Nation, ebenfalls noch im vollen Licht. Seine Haltung ist heroisch, aufrecht, dem Schicksal und der britischen Übermacht entgegengereckt. Interessanter jedoch als diese jedem Betrachter offensichtlichen Sachverhalte sind die Mitfahrer Washingtons im Boot. Ihre heterogene Erscheinung hat gute Gründe, denn sie repräsentieren die vielen unterschiedlichen Gruppierungen der Kolonien. Die USA sind zu dieser Zeit eine junge Nation, hinter der man noch sehr schwankend steht, und so manche Kolonie ist wesentlich engagierter als andere. In diesem Bild ist davon nichts mehr zu sehen. Alle Bevölkerungsgruppen der USA leisten hier ihren Anteil, ob sie nun Kaufleute, Trapper oder Farmer sind. Auch ihre Nationalitäten lassen sich teilweise auseinanderhalten, zumindest ist erkennbar, dass es Angehörige verschiedener Nationen und nicht nur rebellische Briten sind, die sich hier unter dem Star-Spangled-Banner versammelt haben. 

Das wahre historische Ereignis tritt demgegenüber in den Hintergrund. Trenton war der erste Sieg der Amerikaner, gewiss, aber die verlorene Schlacht von Bunker Hill ein halbes Jahr zuvor spielt im öffentlichen Bewusstsein eine weit größere Rolle, und der Krieg würde sich noch jahrelang hinziehen. Welche Bedeutung die tatsächliche Überquerung des Deleware nun hatte ist irrelevant. Relevant ist einzig die Erinnerung daran als eine patriotische Heldentat. Dieser Effekt mag bei Historiengemälden stärker sein, weil sie unsere einzigen Bildquellen sind und wir kaum andere Möglichkeiten haben, uns die vergangenen Zeiten besser vorzustellen als so. Aber auch in unserer heutigen Zeit sind wir vor diesen Effekten nicht gefeit. Selbst Videoaufnahmen können diesen Effekt erzeugen - man denke nur an die immergleiche Aufnahme im grünlichen Filter eines Nachtsichtgeräts, in der eine Bombe präzise ins Ziel fiel und die den Golfkrieg 1991 als sauberen Krieg, der zivile Verluste vermied, darstellte. Wir müssen uns im Umgang mit Bildern stets ein gesundes Misstrauen bewahren. Fast immer soll irgendetwas mit ihnen ausgesagt werden, oder sie werden nachträglich mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie vielleicht ursprünglich gar nicht hatten.

Bildquellen: 
Brandt - Bildarchiv des deutschen Bundestags (Bild: Sven Simon)
Washington - Emanuel Leutze (gemeinfrei)
Spiegelsaal - Anton von Werner (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/04/die-macht-der-bilder.html

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Die Macht der Bilder

Von Stefan Sasse

Kniefall Willy Brandts
Bilder besitzen eine unglaubliche Wirkmächtigkeit. Oftmals definieren sie historische Verläufe und brennen sich in das öffentliche Gedächtnis ein. Es sind diese Bilder, an die man sofort denkt, wenn man ein bestimmtes Ereignis hört. Willy Brandts Ostpolitik ist so ein Beispiel. Wer kennt nicht das Bild von Brandts Kniefall am Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto? Die Frage, die seinerzeit die Republik spaltete - "Durfte Brandt knien?" wollte etwa der Spiegel in einer Leserumfrage wissen - ist längst beantwortet. Die Ikonographie dieses Bildes hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es gibt viele solcher Bilder. Der Lagereingang von Auschwitz etwa wirft jeden sofort in die Holocaust Thematik, man kann sich der Sogwirkung kaum entziehen. Die beschriebenen Eisenbahnwaggons der an die Front fahrenden Truppenzüge 1914 gehören zur kollektiven Erinnerung an das "Augusterlebnis", und ob es so je stattgefunden hat - was Historiker mehr und mehr bezweifeln - spielt angesichts der Symbolkraft des Bildes kaum eine Rolle mehr. Fotographen nutzen diese Effekte bewusst, und die Protokollbeamten sorgen bei offiziellen Anlässen dafür, dass es entsprechende Bilder gibt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Konferenz von Jalta, wo Churchill, Stalin und Roosevelt in den Stühlen nebeneinander sitzen. Nicht, dass man in so einer Pose ernsthaft verhandeln könnte, aber das Bild zeigt uns sofort, um was geht: drei Staatsmänner verhandeln hier offensichtlich gewichtige Dinge. 

Oftmals ersetzt die Ikonographie solcher Bilder die historische Realität und die Beschäftigung mit dem eigentlichen Gegenstand. Manche Bilder - das erwähnte Lagertor etwa - dienen lediglich als kraftvolle Verstärkung eines Themas. Andere dagegen ersetzen den historischen Kontext praktisch völlig. Wer weiß denn heute noch, weswegen Willy Brandt wirklich in Warschau war? Der Kniefall und seine Bildsprache hat das historische Ereignis längst verdrängt und ist zu einem eigenen historischen Ereignis geworden. Dabei ist das heutzutage, wo die Informationen vergleichsweise leicht zu erlangen sind und Fotos auch aus anderen Perspektiven und Zeitpunkten zugänglich sind noch ein relativ harmloser Effekt. Zu einer Zeit, als die Gemäldemalerie die historische Perzeption bestimmte, musste ein Staatsmann eine Inszenierung noch nicht tatsächlich durchführen, ja, nicht einmal an Ort und Stelle sein. Im hochkonstruierten Gemälde wurde mit mächtiger Bildsprache der gewünschte Effekt erzielt, ein Effekt, dem wir uns selbst heute nur schwer entziehen können. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Gemälde "Washington Crossing the Deleware" von Emanuel Leutze, das 1851 entstand. 


Über 70 Jahre nach der eigentlichen Revolution als Auftragsarbeit in Deutschland entstanden, kann es kaum als authentisch angesehen werden. Trotzdem - oder gerade deswegen - ist es ein Musterbeispiel. Es ist vermutlich das berühmteste "Zeugnis" der amerikanischen Revolution. Sein eigentlicher Gegenstand, die sich anschließende Schlacht bei Trenton, ist kaum jemandem bekannt. Die Überquerung des Deleware selbst steht heute noch im Zentrum der Erinnerung, so sehr, dass niemand etwas dabei fand, eine Folge der Muppet-Serie "The American Revolution" über das Bild zu machen anstatt über das Ereignis der Schlacht von Trenton selbst. Wir wollen im Folgenden exemplarisch anhand des Bildes durcharbeiten, wie diese Historiengemälde arbeiten - denn sie alle haben den Zweck, die Intention, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Das gilt für Washingtons Deleware-Überquerung ebenso wie für die Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles oder Napoleons Kaiserkrönung, die beide in ebenso monumentalen wie historisch falschen Gemälden verewigt wurden. Um Missverständnisse zu vermeiden: die Fehler hier sind keine Dinge, die der Maler übersehen hat. Sie sind Dinge, die der Wirkung im Weg standen oder die schlicht nicht wichtig waren. 

Das beginnt beim vorliegenden Gemälde schon bei dem Eis, das den Fluss hinuntertreibt. Der Deleware führt kein solches Eis; was dem Maler vor Augen stand war der heimatliche Rhein, der solches Eis dagegen sehr wohl führt. Das nächste ist die Lichtquelle. Sie befindet sich genau hinter Washington und gibt ihm die hervorgehobene Stellung, illuminiert ihn als Heilsgestalt. Vom Standpunkt des Beobachters aus müsste das natürlich dazu führen, dass die Bootsbesatzung nur als Silhouetten wahrnehmbar ist. Die Flagge, die der Mann hinter Washington hält ist eine Betsy-Ross-Flag, also die dreizehn Sterne mit den dreizehn Balken. Zum Zeitpunkt der Schlacht von Trenton hab es diese Flagge noch überhaupt nicht, stattdessen führte man noch die "Continental Colors". Auch die Bootsbesatzung ergibt überhaupt keinen Sinn; sie ist bunt zusammengewürfelt, und außer Washington und dem Flaggenträger gibt es niemanden in Uniform. Die Boote sind außerdem viel zu klein, um die Armee, geschweige denn die Pferde, über den Fluss zu transportieren. Bedenkt man zudem, dass es um eine heimliche Übersetzung ging, bei der jederzeit mit Beschuss zu rechnen war, so macht die aufrechte Haltung Washingtons und seine Positionierung im ersten Boot keinerlei Sinn, und der strenge Winter lässt seine Kleidung wie die seiner Mitfahrer als reichlich unangebracht erscheinen.

Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles
Das alles ist natürlich irrelevant. Weder Leutze noch den Auftraggebern in den USA ging es um eine akkurate Darstellung. Stattdessen sollte hier ein Gründungsmythos besiegelt werden. Die Bildsprache selbst ist eindeutig. Washington, der Heros der jungen Nation, wird von der (fast göttlichen) Sonne in der Bildmitte illuminiert. Direkt hinter ihm ist die Flagge der Nation, ebenfalls noch im vollen Licht. Seine Haltung ist heroisch, aufrecht, dem Schicksal und der britischen Übermacht entgegengereckt. Interessanter jedoch als diese jedem Betrachter offensichtlichen Sachverhalte sind die Mitfahrer Washingtons im Boot. Ihre heterogene Erscheinung hat gute Gründe, denn sie repräsentieren die vielen unterschiedlichen Gruppierungen der Kolonien. Die USA sind zu dieser Zeit eine junge Nation, hinter der man noch sehr schwankend steht, und so manche Kolonie ist wesentlich engagierter als andere. In diesem Bild ist davon nichts mehr zu sehen. Alle Bevölkerungsgruppen der USA leisten hier ihren Anteil, ob sie nun Kaufleute, Trapper oder Farmer sind. Auch ihre Nationalitäten lassen sich teilweise auseinanderhalten, zumindest ist erkennbar, dass es Angehörige verschiedener Nationen und nicht nur rebellische Briten sind, die sich hier unter dem Star-Spangled-Banner versammelt haben. 

Das wahre historische Ereignis tritt demgegenüber in den Hintergrund. Trenton war der erste Sieg der Amerikaner, gewiss, aber die verlorene Schlacht von Bunker Hill ein halbes Jahr zuvor spielt im öffentlichen Bewusstsein eine weit größere Rolle, und der Krieg würde sich noch jahrelang hinziehen. Welche Bedeutung die tatsächliche Überquerung des Deleware nun hatte ist irrelevant. Relevant ist einzig die Erinnerung daran als eine patriotische Heldentat. Dieser Effekt mag bei Historiengemälden stärker sein, weil sie unsere einzigen Bildquellen sind und wir kaum andere Möglichkeiten haben, uns die vergangenen Zeiten besser vorzustellen als so. Aber auch in unserer heutigen Zeit sind wir vor diesen Effekten nicht gefeit. Selbst Videoaufnahmen können diesen Effekt erzeugen - man denke nur an die immergleiche Aufnahme im grünlichen Filter eines Nachtsichtgeräts, in der eine Bombe präzise ins Ziel fiel und die den Golfkrieg 1991 als sauberen Krieg, der zivile Verluste vermied, darstellte. Wir müssen uns im Umgang mit Bildern stets ein gesundes Misstrauen bewahren. Fast immer soll irgendetwas mit ihnen ausgesagt werden, oder sie werden nachträglich mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie vielleicht ursprünglich gar nicht hatten.

Bildquellen: 
Brandt - Bildarchiv des deutschen Bundestags (Bild: Sven Simon)
Washington - Emanuel Leutze (gemeinfrei)
Spiegelsaal - Anton von Werner (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/04/die-macht-der-bilder.html

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Nachtrag zu Steinbach

Von Stefan Sasse

Götz Aly äußert sich in der FR zum Thema und erklärt, dass die Fans von links und rechts ihre jeweiligen Lager in Weimar reichlich fließend wechseln konnten und dass die Idee einer Verschmelzung von Nation und Sozialismus damals sehr beliebt war. Sicher, damit hat er natürlich auch Recht. Aber das erklärt immr noch nicht, ob die NSDAP links oder rechts war. Festzustellen, dass ein Großteil ihrer Anhänger zu blöd oder indifferent war, die Unterscheidung zu treffen, sagt ja über die Ideologie noch nichts aus. Deren Gehalt ändert sich ja nicht dadurch, dass sie falsch verstanden wird, auch wenn ihre Vertreter dieses Fehlverständnis aus strategischen Gründen aktiv unterstützen. Aly verweist auch auf die Tatsache, dass es unter den Ostblockdiktaturen Verfolgung und Mord gegeben hat. Das bezweifelt ja auch gar niemand, aber es führt von der Frage erneut weg. Das Problem ist, dass "links" und "rechts" nur sehr schwammig definierte Begriffe sind. Wenn man jeweils die Stücke nimmt, die einem in den Kram passen, kann man die NSDAP natürlich zu einer linken Partei machen. Damit kann ich aber auch die KPdSU zu einer rechtsextremen Partei machen, was komischerweise im Umkehrschluss niemand jemals tut. Denn unter Stalin gab es ebenfalls einen starken Nationalismus, er verfolgte ethnische Minderheiten und breitete das eigene Territorium aggressiv aus. Nur, was davon konstituiert einen nun als rechts oder links? Der Terror alleine ist es jedenfalls nicht, darin kann man Steinbach, Aly und alle anderen problemlos beeinander finden. 

Ich bleibe dabei, dass die NSDAP nicht links war. Versuchen wir erst einmal einige Begriffe zu definieren, damit wir sicherstellen, dass wir überhaupt vom Gleichen reden. Was ist "links", was ist "rechts"? Ich habe bereits in meinem Eingangsartikel zu Steinbach gesagt, dass jeglichem "links"-Sein ein Zug von Internationalismus und Pazifismus beiwohnt. Das sind elementare ideologische Merkmale, die von der Sowjetunion auch mit großem Erfolg ausgeschlachtet wurden (ihr gelang es noch in den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt des Afghanistankrieges, bei großen Teilen der deutschen Friedensbewegung propagandistisch als friedliebendes Land dazustehen), auch wenn die Realität anders aussah. Ein weiteres konstituives Element ist die Egalisierung. Unter linken Ideologien sind alle Menschen gleich, sollen alle Menschen zudem möglichst emanzipiert sein (erneut: wir reden hier von den Ideologien, nicht von der Wirklichkeit). Im Gegensatz dazu sind rechte Ideologien betont national und leben von der Abgrenzung der eigenen Nation oder des eigenen Volkes von anderen, konstituieren also gerade nicht die Gleichheit aller Menschen. Dieser Punkt ist der größte Reibungspunkt von Rechten und Linken, hier unterscheiden sie sich am deutlichsten. Und dieser Punkt ist es auch, der nicht nur die Einordnung der NSDAP, sondern eben auch der KPdSU erschwert, denn dieses Element macht letztere ebenfalls reichlich rechts. Auch vom Pazifismus halten Rechte bekanntlich wenig. 

Ein Element, das in beiden Definitionen bislang nicht vorkam, war der Sozialpopulismus, der von Aly (wie auch anderen diese These vertretenden Historikern) immer wieder als Beweis für das Linkssein der NSDAP herangezogen wird. Ja, sicher, die NSDAP führte diverse soziale Wohltaten ein, die es größtenteils in die BRD hinübergeschafft haben. (Aly: "Wer den deutschen Mieter- und Kündigungsschutz, das Kindergeld, die Krankenversicherung für Rentner oder den Naturschutz für fortschrittlich hält, sollte bedenken, dass die Gesetze 1937, 1934, 1937, 1941 und 1938 erlassen oder in ihrer Schutzfunktion erheblich gestärkt wurden.")Sozialpopulismus aber ist kein linkes Alleinstellungsmerkmal. Er ist ein Wahlkampfmechanismus, ein PR-Gag (bestenfalls mit positiven Folgen). Ein rechtes Regime kann genauso problemlos soziale Wohltaten verteilen wie ein linkes. Sogar konservativ-demokratische Regierungen können das, völlig problemlos. Ja, ich meine Sie, Herr Adenauer. Ob die jeweilige Maßnahme rechts oder links einzuordnen ist, hängt wieder von dem emanzipativen Aspekt ab. Und hier sieht die Bilanz der Nazis nicht besonders links aus, denn die meisten ihrer sozialpolitischen Taten dienten der Zementierung eines sehr reaktionären Männer- und Frauenbilds (Muttertag, Kindergeld, etc.) und kaum dem Versuch, alle zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft zu bewegen. Daher muss man vorsichtig sein, wenn man so leichtfertig Dinge durcheinander wirbelt, weil sie einem gerade in den Kram passen. 

Das größte Problem an der Debatte ist aber eigentlich, dass die "links"- und "rechts"-Begrifflichkeiten überhaupt keinen großen Erklärungswert mit sich bringen. Sie sind politische Kategorien. Es geht um die Diskreditierung eines politischen Gegners, und Aly macht das in seinem Statement auch bemerkenswert deutlich:
Viele Deutsche identifizieren Rechts mit Böse und Links mit Gut. Ihrem geschichtlichen Durchblick hilft das nicht.
Richtig, Herr Aly, dem geschichtlichen Durchblick hilft das überhaupt nicht. Stalins Sowjetunion und Hitlers Deutschland waren beides totalitäre Regime, die Millionen Menschen auf dem Gewissen haben. Was also soll die Frage, ob irgendetwas darin links oder rechts war? Beide benutzten die Ideologien, denen sie anzuhängen vorgaben, als reinen Deckmantel und Legitimationsinstrument. Die Internationale war Stalin ein Außenbüro der KPdSU in jeder Hauptstadt und Zuflucht für den KGB, und er verfolgte nationale Minderheiten mit einer ähnlichen Begeisterung wie sein Pendant in Berlin. Hitler, auf der anderen Seite, ignorierte praktisch alle revolutionären Aspekte seiner eigenen Ideologie. Die "Volksgemeinschaft" war letztlich nur ein anderes Wort für "Maul halten und parieren", und in seinem Deutschland waren die in den Wahlkämpfen der 1920er Jahre so vehement kritisierten Unternehmer ebenso eine Stütze des Staates wie die Militäraristokratie. Das änderte sich erst nach dem Juli 1944, als das Reich bereits brennend in den Untergang taumelte und danach trachtete, so viele wie möglich mit in den Abgrund zu reißen. Letztlich bedeutsam ist wohl die Frage, als was Stalinismus und Hitlerismus wahrgenommen wurden. Und in dieser Wahrnehmung ist Hitler rechts und Stalin links, und beide Ideen tragen seither an diesen Exponenten und werden zur ständigen Selbstreflexion mit ihren totalitären Auswüchsen gezwungen. Das tut weh, und es provoziert Reaktionen.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/02/nachtrag-zu-steinbach.html

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Zur Steinbach-Debatte

Von Stefan Sasse

Erika Steinbach
Steinbachs Twitter-User-Bild
Mit ihrer weithin gerühmten Feinfühligkeit hat Erika Steinbach, Vertriebenenvertreterin und Menschenrechtsexpertin der CDU (kein Witz), über Twitter eine Diskussion losgebrochen, in der sie die NSDAP als linke Partei bezeichnete und implizit den nationalsozialistischen Terror mit dem stalinistischen gleichsetzte. Dabei stieß sie erwartungsgemäß auf harsche Kritik. Begonnen hatte es wohl damit, als sie sich über eine Aktion der Adenauer-Stiftung gegen Rechtsextremismus beschwerte, da diese den Linksextremismus nicht erwähne. Von dort machte sie dann den Sprung zu der Theorie, die auch Arnulf Baring beharrlich vertritt, dass es sich bei der NSDAP um eine linke Partei handle, begegnete den Vorwürfen durch den Verweis darauf, dass sie Nazis schlimm und ihre Familie Opfer sei (ihr Großvater war im KZ) und betonte, dass jegliche Art von Extremismus schlimm sei. Damit hat sie natürlich nicht Unrecht; trotzdem ist es höchst problematisch, die DDR, die Sowjetunion und Hitlerdeutschland in einen Topf zu werfen. Wir wollen uns deswegen diesen beiden problematischsten Teilen ihrer Aussagen getrennt widmen. Vorher noch einmal die Klarstellung: Steinbach hat definitiv Recht damit, dass jeglicher Extremismus schlimm ist, und auch waren weder DDR noch UdSSR Staaten, in die ich freiwillig einen Fuß hätte setzen wollen. So, nachdem wir das geklärt haben, ab in medias res. 

Das erste Problem ist Steinbachs Gleichsetzung der linken und rechten Diktaturen. Sie ist spätestens seit dem Historikerstreit der 1980er Jahre unter konservativen Denkern sehr beliebt, jedoch bis heute eine Minderheitenposition geblieben. Und das nicht ohne Grund: zwar kann man Stalins System ebenso mit Fug und Recht totalitaristisch nennen wie Hitler-Deutschland. Millionen starben in der Sowjetunion unter staatlicher Verfolgung oder krasser Vernachlässigung, daran gibt es eigentlich nichts zu rütteln. Trotzdem fehlt der Sowjetunion die letzte Eskalationsstufe, die Nazi-Deutschland spätestens mit dem Kriegsausbruch erklomm: die planmäßige Vernichtung einer kompletten Volksgruppe aus ideologischen Motiven, die mörderische, kriegerisch nach außen gerichtete Gewalt. Diese letzte Eskalationsstufe ist nicht besonders viel, das muss betont bleiben. In der Hölle ist vermutlich ein Plätzchen für Hitler wie für Stalin reserviert. Beide waren mörderische Diktatoren, und nur weil einer von beiden den 1. Platz deutlich erringt, macht dies den anderen nicht besser. Steinbach muss sich aber selbst einen ideologievernebelten Blick vorwerfen lassen, wo sie die DDR in denselben Topf wirft. Das SED-Regime war ein Unrechtsstaat, es verfolgte politische Gegner, sperrte sie ein und machte sie mundtot, aber es entwickelte niemals mörderische Tendenzen. Zwischen Paradeexemplaren der Abgründe menschlicher Existenz wie Stalin und Hitler haben ultimativ langweilige Bürokraten wie Ulbricht und Honecker kaum einen Platz. 

Arnulf Baring 2002 (Foto: Thoma, GNU 1.2)
Der zweite Punkt Steinbachs (wie auch etwa Barings) betrifft die Einordnung der NSDAP als linke Partei. Den meisten Menschen dürfte diese Einschätzung mehr als seltsam vorkommen, sind "Nazis" doch quasi die Poster-Boys des Rechtsextremismus. Viel rechter als die NSDAP kann man kaum sein, richtig? Die Theorie, dass dem eben nicht so ist, genießt besonders unter Radikalliberalen und Konservativen eine gewisse Zuneigung. Diese können im Normalfall mehr Gründe vorweisen als Steinbach, die in ihren Twitterbotschaften vor allem auf die Namensbestandteile NationalSOZIALISTISCHE ARBEITERpartei verweist. Aber Namen sind Schall und Rauch; entscheidend ist, um Kohl zu zitieren, was hinten raus kommt. Und dieses Ergebnis war mit Sicherheit nichts links. Zum Links-Sein gehört immer ein pazifistischer und internationalistischer Zug, den die Sowjetunion wenigstens in ihrer Rhetorik besaß. Die NSDAP dagegen war dezidiert national, sie verlangte Aufrüstung und das Recht des Stärkeren, der auf dem Schlachtfeld zu bestimmen war. Die Nazis lehnten außerdem jeglichen Egalitarismus, wie ihn die Linken pflegten, entschieden ab - mussten das ja, anders hätten sie kaum einen Führer in fast religiöser Verzückung anbeten können. Dazu kam der Anti-Marxismus, der ein starkes konstitutives Element der NSDAP war. Die populistischen Elemente in der Partei bedienten sich zwar der gleichen Forderungen wie die Linken, aber das alleine macht sie nicht links - dieser Irrtum allerdings auch dem ständigen Gerede von der "Sozialdemokratisierung der CDU" zugrunde. 

Steinbach schob aufgrund der Kritik einen weiteren "Beweis" für diese These hinterher:  
Wutgeheul abgeflaut? Biete Alternative: Kurt Schumachers These "Kommunisten sind rot lackierte Faschisten" gefällt euch Linken das besser?
Leider nannte Steinbach nur die eine Hälfte dieses historischen Fakts: nicht nur bezeichnete die SPD die KPD als Rotfaschisten, die Kommunisten schleuderten den Sozialdemokraten denselben Vorwurf entgegen. Zurück geht dieser auf die Änderung der KPD-Strategie von 1926. Damals wurde die Partei noch straffer auf Moskau ausgerichtet, als dies ohnehin der Fall gewesen war, und effektiv zu einer Außenstelle der KPdSU. Die Weisung aus Moskau war, den gefährlichsten Feind nicht im Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus zu sehen, und damit dem direkten ideologischen Gegner, sondern vielmehr im Reformismus der Sozialdemokratie. Die Bezeichnung der "rot lackierten Faschisten" stammte ebenfalls von diesen Moskauer Direktiven. Diese unverbrüchliche Feindschaft zwischen KPD und SPD, der sich übrigens auch die SPD nicht gerade unfreiwillig hingab, war einer der entscheidenden Faktoren beim Untergang der Weimarer Republik und führte zu so absurden Situationen wie der Zusammenarbeit von KPD und NSDAP beim Streik der Verkehrsbetriebe 1932 gegen die SPD und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Zu einer Linkspartei macht die NSDAP nichts von alledem. 

Steinbach vertritt hier ein Geschichtsbild, das ich persönlich ablehne. Meiner Meinung nach simplifiziert es einerseits eine prägende Epoche des 20. Jahrhunderts viel zu sehr, andererseits relativiert es die Schrecken sowohl der Nazi-Zeit als auch des stalinistischen Terrors durch das undifferenzierte Zusammenwerfen etwa mit der DDR-Diktatur. Und zum Dritten besitzt sie auch keinen ernsthaften Erklärungsgehalt. Das soll nicht bedeuten, dass es sich um eine unzulässige Theorie handelt. Es mag eine Minderheitenposition sein, aber man kann sie vertreten; es ist kein Revisionismus im bösartigen Sinne. Ich hoffe allerdings, einige gute Argumente dagegen geliefert zu haben. Wenn nicht - die Kommentarsektion steht euch offen. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/02/zur-steinbach-debatte.html

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Die Basics über Auschwitz

Von Stefan Sasse

Der Stern hat eine wahre Horrorstory anzubieten: ein Fünftel aller Deutschen unter 30 weiß nicht, was Auschwitz ist (nur ein Zwanzigstel bei denen über 30). Über ein Drittel aller Deutschen weiß nicht, wo genau es stand. Und 43% haben noch nie eine KZ-Gedenkstätte besucht. Der Spiegel findet die Zahlen furchtbar. Allein, besonders aussgekräftig sind sie so noch nicht, und eine Interpretation bieten weder Stern noch Spiegel. Das erste Problem ist schon das "nicht wissen, was Auschwitz ist". Jeder der mit "ein kleiner Ort in Polen" antwortet, läge wohl schon mal falsch. Wie genau die Fragestellung war, geht leider nicht hervor. Ohnehin ist anzunehmen, dass die unter 30jährigen im Verlauf ihres Lebens noch eine genauere Einordnung werden vornehmen können. Zwar ist Auschwitz ein omnipräsentes Thema und steht symbolisch für alle KZs; es ist allerdings anzunehmen, dass die Zahl derer, die es korrekt als "Todes- und Vernichtungslager" einordnen können (O-Ton Stern) noch steigt, wenn man Assoziationshilfen wie das Bild des Lagereingangs und den "Arbeit macht frei"-Schriftzug hinzunimmt. Völlig abwegig dagegen ist die nächste Zahl: ein Drittel weiß nicht, wo das Ding steht. Warum es zum Verständnis des Holocaust essentiell ist zu wissen, dass Auschwitz in Polen liegt, bleibt ein Geheimnis der Umfragenmacher beim Stern. Vielleicht hoffte man damit eine besonders krasse Zahl zu bekommen? Im Ergebnis wird man dann enttäuscht sein; nur ein Drittel weiß es nicht. 

Die weiteren Zahlen, die vom Spiegel als schlecht verkauft werden, sind sogar noch besser: nur 43% haben noch nie ein KZ besucht. Das heißt dass über die Hälfte aller Deutschen schon einmal eines besucht hat - und da vermutlich mehr junge als alte Menschen darunter sind, weil man sich erst seit den 1980ern intensiv mit dem Holocaust-Thema beschäftigt, dürfte dieser Prozentsatz in Zukunft noch steigen. Der Holocaust und seine Aufarbeitung haben also keinesfalls an Prägnanz und Aktualität verloren, und die Dichte dieser Aufarbeitung ist überraschend gut. 

Die beste Zahl aber ist die letzte: 56% aller Deutschen sprechen sich dagegen aus, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Holocaust zu ziehen. Unter den Deutschen unter 30 sind es sogar atemberaubende 65%, die einen Schlussstrich ablehnen! Noch 1994 war eine Mehrheit von 52% für einen Schlussstrich. Es hat hier also ein echtes Umdenken stattgefunden, möglicherweise verursacht durch das Ende der eine diesbezügliche Agenda vertretenden Kohl-Regierung ("geistig-moralische Wende") als auch durch die vermehrten Negativ-Schlagzeilen über Neonazis. Menschen unter 30 sind frühestens in den frühen 1980er Jahren geboren worden, viele dieser Befragten eher in den 1990er Jahren. Sie kennen Kohl und die Wiedervereinigung nur aus den Geschichtsbüchern und haben einen anderen, wohl unverkrampfteren Umgang mit der Vergangenheit. Normalerweise fürchtet man an dieser Stelle das Aufkeimen eines neuen deutschen Nationalismus'; die Zahlen dagegen lassen durchaus hoffen.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/01/die-basics-uber-auschwitz.html

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