Der visuelle Kanon, der ‘China’ und ‘Chinesisch-Sein’ markiert, ist äußerst langlebig. China-Bilder (im Wortsinn), die von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung längst überholt sind, bleiben lange im kollektiven Bewusstsein hängen, wie etwa die nebelverhangenen Bilder von den Schluchten des Changjiang 長江 (die durch den Drei-Schluchten-Staudamm überflutet wurden) und viele andere.
Ein Grund für die nur zögernde Aktualisierung dieser Bilder dürfte der Nimbus des Exotischen sein, der allem Chinesischen anzuhaften scheint und der unabhängig von der medialen Präsentationsform ist. Dieses rätselhafte China wird in Text und Bild dargestellt, in Dokumetationen ebenso wie in rein fiktionalen Darstellungen.
Fast alle ‘klassischen’ Comics-Serien haben zumindest eine China-Episode. [1], auch unter Les aventures de Tintin [dt. Tim & Struppi] gibt es mit Le lotus bleu [dt. Der blaue Lotus] einen China-Band. Le lotus bleu, das 5. Album der Reihe, erschien zunächst im Petit Vingtième, einer Beilage zur konservativen Zeitung Le Vingtième Siècle, in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Die einzelnen Abschnitte der Serie – unter dem Titel “Tintin en Extrême-Orient” – erschienen zwischen 9. August 1934 und 17. Oktober 1934. Als Album (in Farbe) erschien die Geschichte in stark überarbeiteter Form 1946.
Der blaue Lotus wird häufig als Wendepunkt in der Arbeit Herge’s bezeichnet – in mehrfacher Hinsicht: Häufig genannt wird die Abkehr von der Reproduktion populärer Vorurteile [2] und die Hinwendung zu einer differenzierteren Darstellung. Dieser Aspekt wird explizit thematisiert: In einer Szene rettet Tim einen chinesischen Jungen aus einem reißenden Fluss – und der Junge frage, warum Tim ihn gerettet habe.[3] Tim antwortet “Tous les blancs sont pas mauvais, mais les peuples se connaissent mal.” .[4]
Hergé greift ein Anfang der 1930er sehr aktuelles Thema – die Mandschurei-Krise – auf und ergreift für die chinesische Seite Partei. Das China, für das er Partei ergreift, ist allerdings nicht das China der 1930er, sondern das China der späten Qing-Zeit. Das China, das gezeigt wird, ist nicht das mondäne Shanghai der 1930er Jahre mit all seinen Widersprüchlichkeiten (das Mao Dun 矛盾 (1896-1981) in Ziye (1933, dt. “Shanghai im Zwielicht”) so einprägsam dargestellt hat), sondern ein sehr traditionelles/traditionalistisches China: Tim erwacht in traditionellen Gebäude [四合院 sìhéyuàn] mit Gitterwerk an den Fenstern und Rollbildern an den Wänden. Die Möbel sind vorwiegend an den Wänden entlang aufgestellt, zahlreiche ‘chinesische Vasen’ in allen Größen schmücken die Räume (Petit Vingtième n°47 du 22 novembre 1934/Album S. 18 f.). Sein Gastgeber, Wang Jen-Chie erscheint in der Kleidung eines chinesischen Gelehrten (Petit Vingtième n°48 du 29 novembre 1934/Album S. 19) – in einem knöchellangen Kleid, darüber eine ärmellose Weste mit Stehkragen und Knebelverschlüssen, das Haar unter einer kleinen schwarzen Kappe, weiße Socken und schwarze Stoffschuhe an den Füßen.
Die Shanghaier Straßenszenen, die Hergé entwirft, entsprechen dem Bild, das von frühen Bildpostkarten und frühen Fotografien vertraut ist – und diese Bilder sind durchaus langlebig: sehr belebte Straßen, von Läden gesäumt, die mit auffälligen Aufschriften und Fahnen Werbung machen, mächtige Stadtmauern mit wuchtigen Tortürmen, deren Dächer apotropäische Figuren (yánshòu 檐獸) tragen.
Quelle: http://fr.tintin.com/news/index/rub/100/id/3711/0/la-chine-lointaine-et-proche
Die elektrische Beleuchtung und die zahlreichen Strommasten und elektrischen Leitungen erscheint vor diesem Hintergrund besonders auffällig, gehörten aber seit den 1880ern zum Stadtbild in Shanghai. [5] In den 1930ern standen die Stadtmauern von Shanghai , die in Le Lotus Bleu immer wieder auftauchen,lange nicht mehr, diese waren 1912 unter Gouverneur Chen Qimei zerstört worden. [6]
Dass Hergé zwischen dem Modernen und dem Alten schwankt, erscheint wenig verwunderlich – hatte er doch nur eingeschränkt Zugang zu dokumentarischem Bildmaterial und musste mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand auskommen.
Umso verwunderlicher erscheint es, dass Versatzstücke aus Le Lotus Bleu fast siebzig Jahre später wieder verwendet werden. Der Kanadier Guy Delisle (*1966) verarbeitet in der Graphic Novel Shenzhen (2000, dt. 2006) seinen Aufenthalt in Shenzhen 深圳市. Delisle kam Ende 1997 für drei Monate in die Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, um für ein Trickfilmstudio Arbeiten zu überwachen. In tagebuchartigen Szenen beschreibt Delisle seine Wahrnehmung des ‘chinesischen Alltags’, den Umgang mit kulturellen Besonderheiten und interkulturellen Missverständnissen.
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Comic Salon Erlangen 2008 | Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
- Ausstellung: Guy Delisle – Lost in Translation
Copyright: Guy Delisle: Shenzhen. Seite 103 – Reprodukt
In einem ganzseitigen Panel (p. 103) werden Versatzstücke aus Le Lotus Bleu kombiniert zu einer Staßenszene: das Werbebanner und das Geschäftsschild aus dem oben besprochenen Panel [7], ein Rikschaläufer (vgl. Le Lotus Bleu Petit vingtième n°36 du 6 septembre 1934 [Panel unten rechts]/Album S. 7) und ein Lastenträger, der an einer langen Schulterstange schwere Lasten transportiert.
Die Banner über Geschäftseingängen gehören weiter zum Straßenbild [8], Rikschaläufer allerdings weniger und alte Männer in langen Gewändern sieht man ebenfalls selten …
Mind the gap(s) …
- wenn ein Comic der 1930er mit Elementen aus dem China der 1900er/1910er Jahre arbeitet und
- eine Graphic Novel im Jahr 2000 die Boomtown Shenzhen mit dem visuellen Vokabular der 1930er darstellen will.
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[1] Die große Ausnahme ist Asterix, der kleine Gallier kam nie nach China.
[2] Die ersten Bände, vor allem ‘Tim & Struppi. Im Kongo’ erzählen von rassistischen Vorurteilen geprägte Geschichten, die den westlichen Imperialismus und Kolonialismus positiv herausstreichen.
[3] Erstfassung: Le petit vingtième No. 22 du 30 mai 1935 und Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 44 f.
[4] Erstfassung: Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 45 f.
[5] S. dazu: Frank Dikötter, Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in China (Columbia University Press, 2007) 133 und 135.
[6] Heute steht nur ein kleiner Rest, der als Museum genutzt wird [Dàjìng Gé Pavillon 上海古城墙和大境阁).
[7] Der Bezug ist eindeutig, Form (farblich abesetzter Rand mit Bogenkante) und Aufschrift des Banners sind identisch.