Fünf Fragen an… Élodie Lecuppre-Desjardin (Lille III)

Élodie Lecuppre-Desjardin im Studenteninterview

Élodie Lecuppre-Desjardin im Studenteninterview (Foto: T. Hiltmann)

Frau Lecuppre-Desjardin, herzlichen Dank, dass Sie sich im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe Zeit für ein Interview nehmen. Wir würden Ihnen gerne einige mehr oder weniger persönliche Fragen bezüglich ihrer Erfahrungen als in Frankreich arbeitende Historikerin sowie zum Inhalt Ihrer Präsentation stellen.

Viele französische Absolventen der Geisteswissenschaften gehen nach dem Studium in den Schuldienst. Warum haben Sie sich für eine akademische Laufbahn entschieden?

Zunächst einmal schätze ich mich sehr glücklich, Beruf und Leidenschaft miteinander vereinen zu können. Ich kann mir jedoch auch Forschung nicht ohne Lehre vorstellen. Es wäre egoistisch, sich mit seiner wissenschaftlichen Arbeit zu isolieren und aus dem Erkenntnisgewinn nur eine persönliche Befriedigung zu ziehen. Der wichtigste Aspekt meines Berufs ist wohl die intellektuelle Herausforderung. Ich bin von Natur aus neugierig und als Historikerin vor allem fasziniert von der facettenreichen Gesellschaft des 14. und 15. Jahrhunderts, die oft als Übergangsgesellschaft verstanden wird. Vielleicht auch, weil ich zu den Menschen des ausgehenden Mittelalters eine professionelle Distanz habe. Zu dieser intellektuellen Herausforderung gehört aber auch der Austausch mit Studierenden, der mir für meine Forschung neue Perspektiven eröffnet. Es liegt in der Natur wissenschaftlicher Arbeit, sich in Details zu vertiefen. Erst die Konfrontation mit meinen Studenten zwingt mich, meine Ergebnisse auf verständliche Weise zu vermitteln. Auch wenn es sich paradox anhört, hilft mir dieser Vereinfachungsprozess persönlich weiter. Die Lehre ist mir also besonders wichtig. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Letztendlich habe ich mich ganz einfach aus meiner Leidenschaft für Geschichte für eine wissenschaftliche Karriere entschieden.

Sie sind Maître de conférences für mittelalterliche Geschichte in Lille. Lässt sich die Arbeit als Forscherin mit sehr hoher Lehrverpflichtung mit Privat- und Familienleben vereinbaren?

In Frankreich hat man als Maître de conférences sehr viel Sicherheit und auch Freiheit, da man verbeamtet ist und keiner direkten Kontrolle unterliegt. Trotzdem investiere ich extrem viel Zeit in die Erneuerung und Verbesserung meiner Lehrveranstaltungen. Zudem hat man als Wissenschaftlerin nie wirklich Feierabend, es gibt immer ein neues Werk oder einen wissenschaftlichen Artikel zu lesen. Man hört ja nie mit dem Denken auf. Ich habe das Glück, mit einem Mediävisten verheiratet zu sein, der das Wesen meiner Arbeit kennt und versteht. Wir haben zwei kleine Kinder und wenn ich um 17 Uhr nach Hause komme, bin ich bis abends natürlich ausschließlich für sie da, ab 21 Uhr sitze ich aber wieder am Schreibtisch. Hätte mein Mann nicht zufällig den gleichen Beruf und das damit verbundene Verständnis für meine Forschung, wäre das alles sicher unmöglich.

Wie sind Sie zu Ihrem Forschungsthema gekommen? Worauf beruht Ihre Faszination für Burgund?

Für mich ist Burgund ein interessantes „Labor“ politischer Erfahrungen, die Konzentration aller politischen Spielräume und Möglichkeiten der Menschen des 15. Jahrhunderts. Die Geschichte der Herzöge von Burgund zeigt, wie ich in meinem Vortrag erläutert habe, wie angreifbar die Idee des modernen Staates in Bezug auf das Mittelalter ist. An Burgund kann man das Durchspielen ganz verschiedener Modelle beobachten – das französischen Modell, das imperiale, das Modell des italienischen Stadtstaates und so weiter. Das Faszinierendste an Burgund sind für mich die vielen Brüche und Widersprüche und die Kultur, in der die politischen Kommunikation eine zentrale Rolle spielt. Anhand dieses einen Untersuchungsgegenstandes kann man den Machtapparat einer ganzen Epoche verstehen und nachvollziehen, wie Hof, Stadt oder auch Justiz in dieser Zeit funktionierten. Nicht zuletzt lässt sich die Problematik des Falls Burgund auch auf die heutige Zeit übertragen: Das Beispiel der EU zeigt, wie es Jürgen Habermas kürzlich angesprochen hat, wie schwierig vor dem Hintergrund der verschiedenen Sprachen, Kulturen und Geschichten noch immer die Konstruktion eines überregionalen Staatsgebildes ist.

Ziel Ihres Projektes ist die Habilitation. Welche Besonderheiten gibt es beim französischen Habilitationsprozess im Unterschied zum deutschen? In Frankreich bleibt man ja während seiner gesamten akademischen Karriere mehr oder weniger beim gleichen Thema. Das ist im deutschen Hochschulsystem ja nicht der Fall.

Voraussetzung für die französische Habilitation ist wie für die deutsche erst einmal die Promotion. In Frankreich muss man für die Habilitation dann aber insgesamt drei Werke präsentieren: eine Sammlung aufeinander aufbauender wissenschaftlicher Artikel, ein neuartiges Forschungsprojekt und zuletzt eine so genannte Égo-histoire, bei der man auf etwa hundert Seiten erläutert, wie und warum man Geschichte schreibt, was man unter Geschichtswissenschaft versteht und wie man sich seinen zukünftigen Beruf vorstellt. Eine Art Karriereplan also. Ich selbst forsche ja am Beispiel Burgunds vor allem zur politischen Kommunikation. Es machte Sinn, nach meiner Dissertation mit diesem Thema und im selben Stil weiterzuarbeiten. Es stimmt nämlich, dass man in Frankreich bei seinem thematischen Schwerpunkt bleibt, denn wenn man sich einmal für Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte oder Rechtsgeschichte entschieden hat, ist es schwierig, das noch einmal zu ändern. Trotzdem gibt es genug Abwechslung. So beschäftige ich mich ja am Beispiel Burgund zugleich mit urbaner Geschichte und der Geschichte von Staatlichkeit.

Können Sie abschließend erklären, warum die Idee des Staates in der französischen Mediävistik eine so große Rolle spielt?

Historiker erforschen ja immer auch ihre eigenen Wurzeln. In Frankreich hat das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Staat, Land, Nation und Region eine lange Tradition. Bei meiner Habilitation habe ich oft einen Satz zu Ende geschrieben und dann gedacht: „Nein, das geht nicht. Das ist zu teleologisch, zu französisch.“ Als französische Forscherin ist es besonders schwer, sich von dieser Denktradition der starken Staatsidee zu lösen. Dabei beschäftige ich mich ja auch mit Vergleichender Geschichte, bei der es außerordentlich wichtig ist, sein Untersuchungsobjekt kritisch zu reflektieren. Ebendiese Reflexion hilft dabei, sich vor Enthusiasmus, vor jeder überhöhten Emotionalität gegenüber seinem Untersuchungsgegenstand schützen.

Frau Lecuppre-Desjardin, wir bedanken uns für das Gespräch. 

Gespräch und Redaktion: Helena Kaschel
Unter Mitwirkung von Laura-Marie Krampe, Yannis Krone, Jan Pieper, Jörg Schlarb und Simon Siegemeyer.

Das Interview entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung “Einführung in die französischsprachige Geschichtsforschung – aktuelle Tendenzen (Lektüre, Übersetzung, Diskussion mit französischen Gästen)”, welche die Vortragsreihe begleitet.

Informationen zu Élodie Lecuppre-Desjardin: hier
zur deutschsprachigen Zusammenfassung des Vortrags: hier

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/840

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CENDARI schreibt Gast-Forschungsstipendien für 2013 aus

Noch bis zum 12. Dezember 2012 nimmt das EU-geförderte Forschungsprojekt CENDARI (Collaborative European Digital Archive Infrastructure) Bewerbungen für das Gaststipendiaten-Programm 2013 entgegen. Forschungsschwerpunke sind der I. Weltkrieg sowie die Kultur des europäischen Mittelalters. Die folgenden Partnerinstitutionen bieten jeweils zwei acht-bis zwölfwöchige Forschungsaufenthalte:

Trinity College Dublin, Ireland
King’s College London, UK
National Library of the Czech Republic, Czech Republic
Georg-August-Universität Göttingen, GCDH
Universität Stuttgart und Bibliothek für Zeitgeschichte

Das auf vier Jahre angelegte Verbundforschungsprojekt CENDARI hat die Integration digitaler Archive und Quellen europäischer Geschichtsforschung des Mittelalters und der Moderne zum Gegenstand. Der aktuelle Call bildet den Auftakt zu einer Reihe von jährlich drei Ausschreibungen.

Weitere Infos und Antragstellung unter
http://www.cendari.eu/research/visiting-research-fellowships-2013/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1036

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