Vorbilder aus der Geschichte?

Jugendliche heute sind permanent mit den Fragen konfrontiert, wer sie sind, was sie wollen, wohin sie gehen sollen. Zur Beantwortung dieser Fragen scheinen die Lebensgeschichten anderer Menschen eine große Anziehungskraft zu haben. Jugendliche suchen ihre Vorbilder vor allem in der Gegenwart, zuerst bei ihren Eltern, dann oft bei Medien- und Sportstars. Dass sie auch in der Vergangenheit positive Identifikationsfiguren suchen könnten, wird ihnen kaum gezeigt.

 

Nicht Personen, Strukturen!

Spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre ist ein personenorientierter Zugang im Geschichtsunterricht verpönt. Geschichtsdidaktik wurde nicht müde, die Gefahren der Personalisierung zu betonen. Das mag damit zusammenhängen, dass sich damals die Geschichtswissenschaft von der biografischen Historiografie abgewandt und der Strukturgeschichte zugewandt hatte. Auch wurden Befürchtungen formuliert, dass mit einem personenorientierten Zugang Jugendliche im Geschichtsunterricht manipuliert und überwältigt würden. Parallel zum Verschwinden von positiven Identifikationsfiguren aus dem Geschichtsunterricht verschwanden auch die Emotionen. Jugendliche sollten zur Vergangenheit eine kritische Distanz aufbauen und einen „reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgang mit Geschichte“ erlernen.

Lehrpläne: Die Vorbilder sind verschwunden

So halten sich auch die Lehrpläne Geschichte mit der Nennung von Personen zurück. In den neuen Hessischen Bildungsstandards und Inhaltsfeldern für Geschichte an Realschulen (2011) findet sich kein einziger Name eines Menschen aus der Vergangenheit, den Jugendliche kennen sollten. Hingegen wird großes Gewicht auf die identitätsstiftende Bedeutung von Geschichtsunterricht gelegt: Das Fach Geschichte „stärkt das Einfühlungsvermögen, bietet die Möglichkeit zur Identifikation mit vorbildhaften Personen, vermittelt aber auch die Fähigkeit zur kritischen Distanz“. Die Auswahl der vorbildhaften Personen soll im Geschichtsunterricht den Jugendlichen überlassen werden – so zumindest fordert das die geschichtsdidaktische Theorie: „Es kann und darf im Geschichtsunterricht keine verbindlichen Vorbilder geben, die allen Schülerinnen und Schüler zur Identifikation auferlegt werden; Vorbilder werden aus dem Angebot des Unterrichts von den SchülerInnen individuell ausgewählt“ (Bergmann 1998, 278).

„Mein Vorbild im Fernsehen!“

Und da weder die Geschichtsdidaktik noch die Geschichtswissenschaft konkrete Vorschläge machen, welchen Menschen Jugendliche im Geschichtsunterricht begegnen sollen und welche sich allenfalls als positive Identifikationsfiguren eignen würden, wird dieses Feld von andern Institutionen wie etwa dem Fernsehen besetzt und genutzt. Im November wird die Dokufiction-Serie „Die Schweizer“ in drei Sprachregionen ausgestrahlt. Bei „den Schweizern“ handelt es sich um Werner Stauffacher, Niklaus von Flüe, Hans Waldmann, Guillaume-Henri Dufour, Alfred Escher und Stefano Franscini – alles Männer. Ab November 2013 im Programm der SRG. Diese Männer werden zweifellos künftig prominenter im Schweizer Geschichtsunterricht auftauchen als bisher. Grund dafür sind das attraktive Filmmaterial und die begleitenden Medien. Wohl kann Geschichtsunterricht zur Ausdifferenzierung von Kompetenzen beitragen, wenn beispielsweise beim Porträt von Stauffacher darauf hingewiesen wird, dass einiges davon notgedrungen erfunden werden muss, weil es zu ihm kaum Quellen gibt, oder dass das Geschichtsbild, für das er steht, nämlich der Widerstand “der” Eidgenossen gegen “die” feindlichen Habsburger, erst 200 Jahre später, im Verlaufe des 15. Jahrhunderts entstanden ist. Doch als positive Identifikationsfigur wird Stauffacher heute für Jugendliche nicht mehr dienen können. Wer aber dann?

“nicht nur Völkermörder und Verbrecher”

Der neue Lehrplan 21  für die Deutschschweiz macht hierzu Vorschläge: So sollen SchülerInnen laut Lehrplan einzelne SchweizerInnen porträtieren, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Zusammenlebens oder der sozialen Gerechtigkeit in der Schweiz und der Welt geleistet haben. Als Beispiel – nicht als Vorgabe – werden unter anderen Emilie Kempin-Spyri, Henry Dunant, Marie Heim-Vögtlin, Robert Grimm oder Gertrud Kurz genannt. Mir gefällt dieses Vorgehen in vierfacher Hinsicht: Erstens lebten auch in der Vergangenheit nicht nur Verbrecher und Völkermörder. Viele Menschen haben im Alltag und in verantwortungsvollen Positionen Positives geleistet. Sie sollen wieder stärker in den Blick rücken. Zweitens bekommt damit die Personifizierung und Personalisierung im Geschichtsunterricht wieder einen größeren Stellenwert, was wichtig ist, wenn das Fach zum Aufbau und zur Ausdifferenzierung von Identität beitragen soll. Drittens übernimmt der Lehrplan Steuerungsverantwortung und macht konkrete Vorschläge. Viertens werden diese Vorschläge explizit als Beispiele ausgeschildert. Das ist weniger bestimmend als eine bereits erfolgte Auswahl auf Ebene der Schulgeschichtsbücher. Und die Vorschläge regen zum Weiterdenken an: Wer soll aus der Beispielliste gestrichen werden? Wer fehlt? Und welche Menschen aus Deutschland oder Österreich könnten Schweizer Jugendlichen auch als positive Identifikationsfiguren dienen?

 

 

Literatur

  • Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach/Ts. 1998.
  • von Borries, Bodo: Vorbilder im Geschichtsunterricht. In: ders.: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage, Schwalbach/Ts. 2004, S. 416-424.
  • Schneider, Gerhard: Personalisierung / Personifizierung. In: Barricelli, Michele / Lücke, Martin: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 302-315.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Claudio Minutella, Jugendliche betrachten das Bourbaki Panorama in Luzern.

Empfohlene Zitierweise
Gautschi, Peter: Vorbilder aus der Geschichte? In: Public History Weekly 1 (2013) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-233.

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