Rekonstruktion: Sehhilfe oder Dogmatisierung?

Gedankenexperiment: Nachdem Mainz 2018 von Wiesbaden übernommen und zerstört worden ist, verfällt es in einen 2000 Jahre dauernden Schlaf und hüllt sich in eine Decke aus Schutt und Sedimenten. Aufgrund alter Quellen fangen Archäologen 4018 an, an dieser Stelle nach der “antiken” Stadt Mainz zu graben und finden unsere Universität auf dem Siedlungshügel Saarstraße. Was geblieben ist, sind einige Fundamente, die auf rechteckig angelegte Gebäude hindeuten und eventuell ein paar Tassen und Teller des Studentenwerks. Wie wird man diese Daten nun deuten? Stand auf diesem Hügel eine Herrscherresidenz, worauf die Größe der Gebäude schließen lassen würde? War es eine Kaserne, wie in einigen Quellen angedeutet? Oder vielleicht doch eine Universität – obwohl sich im Bereich des Forums keine echten Seminarräume finden lassen?

In einer ähnlichen Situation befinden sich heute auch die Archäologen in Israel und Palästina. Wir haben viele ihrer Ausgrabungen besucht und vor Ort vor allem Rohdaten gefunden, nämlich Mauerreste. Die Aufgabe von Archäologie und Geschichtsschreibung ist es, zu diesen Daten eine plausible Geschichte zu erzählen, also eine Deutung zu finden. Dabei helfen auch die Funde, die wir nicht vor Ort besichtigen konnten, weil sie etwa wie Keramikscherben längst weggebracht worden sind oder wie besonders wertvolle Funde im Museum ausgestellt werden.
Wir als Besucher sind darauf angewiesen, dass man uns diese Geschichten weitererzählt, weil es uns an Erfahrung, Daten und vielleicht auch an Vorstellungskraft fehlt, um das, was wir sehen, zu deuten.

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Es braucht Erfahrung und Vorstellungsvermögen, um in den ausgegrabenen Grundmauern einen bestimmten Gebäudetyp (hier: Residenz in Banyas) zu identifizieren. (Foto: Benedict Schöning)

Ein Weg, Außenstehenden einen Eindruck von historischen Gegebenheiten zu verschaffen, ist die Rekonstruktion. Oft begegneten uns zum Beispiel Rekonstruktionen des zweiten Tempels, etwa im Israel-Museum. Diese Rekonstruktionen sind in der Regel Zeichnungen oder Modelle – die sich durchaus voneinander unterscheiden können, je nachdem, wie und von wem die vorliegenden Daten gedeutet werden.
Andere Rekonstruktionstypen sind deutlich handgreiflicher, etwa in Tel Arad, wo entscheidende Teile des israelitischen Heiligtums wieder aufgebaut (d.h. re-konstruiert) wurden. Meistens werden solche baulichen Rekonstruktionen gekennzeichnet, etwa mit einer Linie im Mauerwerk. Nicht immer sind solche Linien aber vorhanden. Und wenn in Tel Arad die im Boden vergrabene Mazzebe wieder aufgestellt wird, dann ist das auch nur schwerlich als Rekonstruktion kenntlich zu machen.

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In Masada gut zu erkennen: Die Linie, ab der die Mauer rekonstruiert ist. (Foto: Benedict Schöning)

Diese Art der Rekonstruktion erscheint mir deutlich problematischer. Zum einen überbaut sie die Rohdaten, d.h. das ausgegrabene Mauerwerk wird um neues ergänzt. Das macht bei einer schlecht oder gar nicht dokumentierten Grabung aber die Überprüfung der Funde schwierig und schränkt die Wiederholbarkeit der archäologischen Deutung ein. Zum anderen wird durch diese Wiederaufbauten eine der vielen möglichen Deutungen (zum Glück meistens nur sprichwörtlich) zementiert. Trotzdem sind die wieder aufgebauten Ruinen für den Besucher der archäologischen Ausgrabungen sehr hilfreich. Plastischer lässt sich das Bad des Herodes auf Masada nicht erfahren, als wenn man es selbst durchschreitet. Die baulichen Rekonstruktionen erfüllen so in erster Linie ein museumspädagogisches Anliegen.

Wie ist mit dieser Spannung zwischen wissenschaftlichem Anspruch auf Deutungsoffenheit und dem Bedürfnis nach Vermittlung an Besucher umzugehen? Mit dieser Frage setzt sich die Charta von Venedig auseinander. In ihrem neunten Artikel steht dort “Die Restaurierung [im Sinne dieses Beitrags: die Rekonstruktion; B.S.] ist eine Maßnahme, die Ausnahmecharakter behalten sollte. Ihr Ziel ist es, die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschließen. Sie gründet sich auf die Respektierung des überlieferten Bestandes und auf authentische Dokumente. Sie findet dort ihre Grenze, wo die Hypothese beginnt. […]”1.

Eine Möglichkeit, um zukünftig dem Bedarf nach physischer Rekonstruktion auszuweichen, sehe ich in den sich etablierenden Techniken von Augmented bzw. Virtual Reality. Endgeräte, die eine solche visuelle Vermittlung zulassen, sind inzwischen sehr weit verbreitet: Mit günstigen Linsen und etwas Pappe kann aus nahezu jedem Smartphone eine Virtual Reality Brille werden, die die vorhandenen Ruinen mit Rekonstruktionen aller Art überlagern könnte – im Idealfall fotorealistisch und begehbar. Einerseits ließe sich dadurch der Unterschied zwischen Fund und wissenschaftlicher Deutung besser herausstellen, andererseits bliebe die jeweilige Deutung der Funde offen für neue Impulse.

Literatur zur Rekonstruktion/Restaurierung

Vieweger, Dieter: Archäologie der biblischen Welt, Gütersloh 2012, 366-371.

  1. Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles. “Charta von Venedig”, 1964; zitiert nach http://oehl_br_j2.beepworld.de/charta.htm

Quelle: http://spuren.hypotheses.org/476

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