Voynich Manuskript das Werk eines Autokopisten?

“Schon wieder eine neue Theorie zum Voynich Manuskript?” mögen sich die geneigten Leserinnen und Leser dieses Blogs fragen. “Da lässt der Hermes doch bestimmt wieder kein gutes Haar dran.” Tatsächlich warfen die jüngsten Veröffentlichungen zum Thema weit mehr Fragen bei mir auf, als sie nachvollziehbare Antworten gaben. Um so erfreulicher finde ich, dass ich nun endlich einmal von einer aktuellen Veröffentlichung berichten kann, die ich für sehr überzeugend halte, vielleicht sogar für überzeugender als meine eigene Theorie.

Vor etwa vier Monaten wurde ich per Mail nett gefragt, ob ich bereit wäre, einen Paper-Entwurf zum Voynich Manuskript kritisch gegenzulesen. Die Bitte kam von Torsten Timm, der – wie so viele Voynich-Forscher – nicht mit der Wissenschaft sein Geld verdient. Wer weiß, wie gerne ich mich zwischendurch immer wieder mit dem Voynich Manuskript (VMS) beschäftige, kann natürlich ahnen, wie bereitwillig ich dieser Bitte nachkam. Vom ersten Augenblick an erschien mir Timms Hypothese plausibel und einen fruchtbaren Austausch per Mail und Skype später bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass seine Theorie das Potential hat, die Entstehung des VMS-Textes zu erklären. Timm hat sie inzwischen (lobenswerterweise als Open Access Paper, daran bin ich auch nicht ganz unschuldig, glaube ich) auf arxiv.org veröffentlicht, so dass sich jede|r selbst ein Bild machen kann. Zu wünschen ist, dass sich Peer Reviewers finden, so dass das Paper auch auf einer publikumswirksameren Plattform veröffentlicht werden kann.

Kurz zum Inhalt: Timm begibt sich – wie ich das auch tat – auf die Suche nach einer Textgenerierungsmethode, deren Anwendung ein Resultat ergibt, dass die sonderbare distributionellen und statistischen Eigenschaften des VMS-Textes wiederspiegelt. Timm bezieht sich dabei vor allem auf die seltsame Eigenschaft, dass sich das Auftreten, die Häufigkeit und die Position (n-te Zeile, n-te Position in der Zeile) von VMS-Wörtern relativ gut vorhersagen lassen aus dem Auftreten, der Häufigkeit und der Position ähnlich aussehender Wörter. Da Timm ausschließt, dass dem Schreiber/der Schreiberin des VMS im späten Mittelalter/der frühen Neuzeit ein Instrumentarium zur Verfügung stand, das es erlaubte, eine solche Verteilung mathematisch herzuleiten, vermutet er, dass sie das Resultat eines Seiteneffekts einer einfacheren Methode der Textgenerierung ist.

Kern dieser angenommenen Methode ist ein Kopiervorgang des Schreibenden: Dieser erfand initial eine Reihe von unterschiedlichen Zeichenfolgen, die er im Anschluss immer wieder abwandelte. Timm weist nach, das teilweise ganze Zeilen voneinander kopiert scheinen, wobei immer leichte Abwandlungen in den Kopierprozess eingeflochten wurden, so dass nie gleiche, sondern immer nur ähnliche Zeichenketten entstanden. Auf den ersten Blick mag diese Methode als zu simpel bzw. zu abwegig erscheinen – wer zur Hölle soll sich hinsetzen und mehr als hundert Seiten auf diese sinnlose Art füllen? Allerdings wird die Hoax-Hypothese zum VMS (die Zeichen des VMS tragen keinen Inhalt, es wurde nicht zum Austausch bzw. zur Bewahrung von Information angefertigt) schon länger verbreitet und Timm belegt seine Vermutungen durch eine ganze Reihe von Indikatoren, im Paper selbst und vor allem in seinem Anhang, dem man ansieht, dass sich da jemand gewissenhaft mit der Materie auseinandergesetzt hat.

Timm

Ausschnitt aus der Seite f100r des VMS. Darauf farblich markiert von Timm angenommene kopierte, abgewandelte “Wörter” in wiederkehrenden Positionen.

Zum Ende geht Timm auch noch auf meine PIII-Hypothese ein, zu der er – nach meiner Ansicht – die bisher beste Alternativhypothese aufgestellt hat. Wir vermuten beide eine Textgenerierungsmethode hinter dem VMS-Text, und doch es gibt zwei entscheidende Unterschiede:

  1. Für meine PIII-Hypothese ist ein Codebuch notwendig, da dort die verschiedenen Chiffren auf Klartextbuchstaben abgebildet werden. Ein solches Codebuch wurde bisher nie gefunden, die Chiffrierungsmethode ist (wie ich selbst zugebe und Timm noch einmal schön ausführt) extrem kompliziert handzuhaben, v.a. bei der Dechiffrierung. Da Timms Kopisten-Hypothese ohne ein solches Codebuch auskommt, weil der Text einfach durch dauernde Abwandlung von sich selbst zustande kommt, sehe ich meine Hypothese hier klar im Nachteil.
  2. Das Resultat der Kopisten-Methode ist ein sinnfreier Text (den man textlinguistisch wohl noch nicht mal als Text bezeichnen dürfte). Mit ihm kann man nichts weiter anfangen, als jemanden zu täuschen, um sich dadurch irgendeine Art von Vorteil zu verschaffen. Ob dies tatsächlich eine solche Mühe, welche die Erzeugung des VMS gekostet haben muss, rechtfertigen kann, sei dahingestellt. Mit einer PIII-artigen Methode aber ist es möglich, Informationen zu verbergen, und zwar so gut, dass diese evtl. mit der Technik des 21. Jahrhunderts nicht entschlüsselt werden können. Lässt sich das nicht vielleicht als stärkerer Antrieb annehmen?

Ich gebe hier Occams Rasiermesser den geneigten Leser|inne|n in die Hand. Mögen sie beurteilen, welche Hypothese sie für plausibler halten. Mir sind ein paar Dinge in den Kopf gekommen, die man überprüfen und das Lot damit in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen könnte. Das ist mir aber noch zu unausgegoren, als dass ich mich dazu jetzt schon äußern möchte. Ich freue mich jedenfalls, dass Torsten die Muße und den Mut gefunden hat, seine Theorie so gewissenhaft auszuarbeiten und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Möge dies ein weiterer Anstoß sein, die zukünftige VMS-Forschung auf eine solidere Basis zu stellen.

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Timm, Torsten (07/2014): How the Voynich Manuskript was created. Publication: eprint 2014arXiv1407.6639T

Hermes, Jürgen (2012) Textprozessierung – Design und Applikation. Dissertation, Universität zu Köln. Publication eprint http://kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/4561

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1076

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