Historiker untersuchen gern Adelsbibliotheken, wenn diese in historischen Katalogen dokumentiert sind. Man kann die Listen bequem auswerten und aus ihnen Rückschlüsse auf das geistige Profil der Besitzer ziehen. Wesentlich mühsamer ist es, sich mit erhaltenen Beständen zu befassen. Besitzeinträge und andere provenienzgeschichtlichen Eigenheiten müssen gesichtet werden, mit durchaus ungewissem Erfolg. Befinden sich die Adelsbibliotheken noch in Privatbesitz, ist oft der Zugang schwierig oder unmöglich. Der Wuppertaler Germanist und Gründungsrektor Rainer Gruenter (1918-1993) hat das einzige nennenswerte Forschungsprojekt in diesem Bereich betrieben, aber nach seinem Tod wurden die Studien in Adelsbibliotheken von seinem Schülerkreis nicht fortgeführt.1 Von herausragenden Forschungs- oder Erschließungsleistungen mit Blick auf Adelsbibliotheken liest man eher selten, während ab und an zu beklagen ist, dass wertvolle historische Ensembles versteigert oder im Einzelverkauf in alle Welt zerstreut werden. Der Ausverkauf der Hofbibliothek Donaueschingen, der mit der Versteigerungen der Inkunabeln 1994 begann und mit der Druckschriftensammlung 1999 fortgesetzt wurde, ist nur das krasseste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. 1995 schrieb ich einen Artikel: Vernichtung unersetzlicher Quellen. Der Schutz historischer Buchbestände in Privatbesitz muß dringend verbessert werden.
[...]
Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?
Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.
Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.
Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.
In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.
Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.
Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:
“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.
Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.
Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.
Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.
Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:
Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.
Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.
Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.
Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.
- Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
- Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.
Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?
Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.
Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.
Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.
In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.
Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.
Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:
“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.
Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.
Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.
Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.
Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:
Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.
Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.
Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.
Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.
- Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
- Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.
Spitzenstücke aus der Schweinfurter Bibliothek Otto Schäfer verscherbelt
Im Portal Kulturgutschutz Deutschland ist seit November 2014 ein merkwürdiger Eintrag "Kolorierte und illustrierte Handschriften und Drucke" einsehbar, der die vorläufige Eintragung eines Konvoluts von 194 Einheiten in das Hamburger Länderverzeichnis des national wertvollen Kulturguts betrifft: "Handschriften und Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts mit z.T. kolorierten Holzschnitten und Kupferstichen illustriert, verschiedentlich reich in Holz oder Leder gebunden; Drucker u.a. Gutenberg aus Mainz, Sorg aus Augsburg, Reger aus Ulm, Grüninger aus Straßburg, Lotter aus Wittenberg und Feyerabend aus Frankfurt". Bis auf eine kurze Notiz in Archivalia blieb dieser durchaus brisante Verwaltungsvorgang in der Öffentlichkeit unbemerkt. Die detaillierte Liste der Objekte mit 199 Positionen sei in den Akten der Freien und Hansestadt Hamburg, Kulturbehörde – Staatsarchiv (Az. ST6341/01) einzusehen. Der zuständige Sachbearbeiter Thomas Schmekel im Staatsarchiv Hamburg hat mir noch im November bestätigt, dass die Liste öffentlich sei und mit einer Publikation wohl im Hamburger Transparenzportal zu rechnen. Diese Veröffentlichung ist aber nie erfolgt, und nun war zu erfahren, dass die Bände nach Bayern transportiert wurden und München daher zuständig sei.
Welche Schätze der an eine Hamburger Spedition und den bekannten Handschriftenantiquar Jörn Günther gerichtete Bescheid vom 18. November 2014 betrifft, zeigt der Download (PDF) der Liste. Jedem Kenner ist klar, dass die Annahme der Hamburger Behörde, es handle sich um Stücke aus dem Museum Otto Schäfer in Schweinfurt, offenkundig zutreffend ist. Es geht um die Zimelien der einzigartigen Sammlung, wobei das umfangreiche Fragment der Gutenberg-Bibel nur die bedeutendste der knapp 70 Inkunabeln ist. Die meisten der in einem Bericht über den Besuch der Pirckheimer-Gesellschaft in Schweinfurt erwähnten Spitzenstücke sind vertreten. Nr. 1 ist etwa eine niederösterreichische Sammelhandschrift aus dem Katalog Drucke, Manuskripte und Einbände des 15. Jahrhunderts. Bearbeitet von Manfred von Arnim (1984), Nr. 372. Nr. 146 ist das bekannte Beutelbuch der Katharina Röder aus Kloster Frauenalb von 1540. Nr. 119 ist eine der Forschung anscheinend unbekannte Handschrift "Ebran v. Wildenberg: Chronik der Herzöge Andreas v. Regensburg: Chroniken der Fürsten aus Bayern" (in einem Ottheinrich-Einband).
Man darf durchaus von einem "Ausverkauf" der Sammlung Otto Schäfer sprechen, die bereits durch erhebliche Verkäufe 1994/95 dezimiert worden war (siehe Fabian-Handbuch). Auch bei den exemplarisch im Fabian-Handbuch der historischen Buchbestände erwähnten bedeutenden Buchtiteln zeigt sich eine große Übereinstimmung mit der Hamburger Liste. Das angehaltene Konvolut sei "eine wirklich aufregende, mit größter Kennerschaft zusammengetragene Sammlung, die im Land und zusammen bleiben muß", meinte ein Experte mir gegenüber.
Das Vorgehen des Eigentümers Otto G. Schäfer (Sohn des namengebenden Sammlers), der die Spitzenstücke seiner öffentlich zugänglichen Sammlung klammheimlich Jörn Günther verkaufte, darf man durchaus skandalös nennen. Dazu passt, dass Schäfer mich am Telefon angelogen hat, als ich mich als betroffener Wissenschaftler nach einem der auf der Liste stehenden Bände erkundigte, nämlich nach der Nr. 4 mit Richenbach-Einband, der dem Schwäbisch Gmünder Kleriker Jörg Ruch gehörte, über den ich im Internet 2002 einen kleinen Artikel publiziert hatte. Auch als ich vorgab, ein Verkaufsgerücht gehört zu haben, tat Schäfer so, als befände sich der Band nach wie vor im Gewahrsam der Bibliothek.
Wir brauchen dringend eine öffentliche Diskussion über die Liste national wertvollen Kulturguts, die ich als virtuelle Kunst- und Wunderkammer der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet habe, über die man sich nur wundern kann. Man muss den Mut anerkennen, mit dem das Hamburger Staatsarchiv erstmals ein solches Transportgut bei der Ausfuhr aus der EU (Günther hat sein Antiquariat ja in die Schweiz verlegt) mit einer vorläufigen Eintragung angehalten hat. Grundlage war der nach der EG-Verordnung über die Ausfuhr von Kulturgütern gestellte Antrag. Die vorläufige Eintragung soll der Prüfung dienen, ob es sich um national wertvolles Kulturgut handelt. Hamburg war überzeugt, dass mindestens einige Stücke definitiv national wertvolles Kulturgut darstellen und hat daher die vorläufige Unterschutzstellung veranlasst. Da Bayern nicht für seinen Mut gegenüber dem Kunsthandel bekannt ist, bewegliche Kulturgüter dreist vernachlässigt und die Bayerische Staatsbibliothek als maßgebliche Fachbehörde nach meinen Erfahrungen ebenfalls keinerlei Interesse an Kulturgutschutz hat, wird man die Rückverlagerung nach Bayern als "schmutzigen Trick" werten dürfen. Kulturgüter sind einmal mehr Opfer des deutschen Föderalismus!
Zum Interesse der Wissenschaft an Kulturgütern in privater Hand habe ich mich in meinem Beitrag "Nachruf auf die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano" ausführlicher geäußert. Dass es sich bei der Schweinfurter Bibliothek Otto Schäfer um eine unikale Kollektion handelt, die ebenso wie eine weltweit einzigartige Käfersammlung unbedingt auf der bayerischen Liste des national wertvollen Kulturguts stehen müsste, erscheint mir sicher. Auf den Schutz solcher wirklich hochrangiger Gesamtheiten aber pfeift der Freistaat: Hat er doch im März 2014 aus der berühmten Pommersfeldener Bibliothek nur eine willkürlich anmutende Auswahl von Handschriften vorläufig auf die Liste gesetzt.
Im Interesse der Wissenschaft müsste ein möglichst vollständiger Ankauf der jetzt angehaltenen Schweinfurter Stücke (bzw. weiterer Bestände der Bibliothek Schäfer) für eine öffentliche Sammlung etwa durch die Kulturstiftung der Länder finanziert werden.
Die vor allem mit Stiftungsgeldern ins Werk gesetzte Digitalisierung ausgewählter Bücher der Bibliothek Schäfer durch das Münchner Digitalisierungszentrum betraf nicht wenige der Werke des verkauften Konvoluts. Aber eben nicht alle. Der beträchtliche Schaden für die Wissenschaft wäre geringer, wenn die verscherbelten Pretiosen komplett digitalisiert vorliegen würden.
Die Schweinfurter Bibliothek geriert sich als ehrenwerte und seriöse Institution, getragen von einem als "Stiftung" bezeichneten eingetragenen Verein, der aber vermutlich nur das abnickt, was der Vereinsvorsitzende Otto G. Schäfer will. Öffentliche und kirchliche Schweinfurter Büchersammlungen befinden sich inzwischen als Leihgaben in der Bibliothek. Dass man in intransparenter Weise und offenkundig ohne Information der bayerischen Behörden die herausragenden Zimelien verkauft hat, zeigt, wie wenig ehrenwert und seriös das Museum Otto Schäfer in Wirklichkeit agiert.
Nachtrag
In INETBIB nahm Falk Eisermann noch am 7. Januar 2015 wie folgt Stellung:
Die Verbringung dieses Bestandes nach Bayern ändert nichts am Umstand seiner absoluten Schutzwürdigkeit. Ich habe dazu Anfang Dezember auf Wunsch des Hamburger Staatsarchivs folgendermaßen Stellung genommen:
"... wie gewünscht möchte ich zu der Frage Stellung nehmen, in welchen Fällen die Abwanderung der in der Liste aufgeführten Stücke einen wesentlichen Verlust für den deutschen Kulturbesitz bedeuten würde, wobei ich mich zuständigkeitshalber nur auf die Nummern 2-69 der Liste (Inkunabeln) beziehe (1.-3.). Darüber hinaus ein Hinweis und eine Empfehlung (4., 5.).
1.) Die große Mehrzahl der aufgeführten Inkunabeln läßt sich ohne Weiteres als besonders bedeutsam erkennen, z.T. ist den Stücken ein herausragender wissenschaftlich-kultureller Rang zuzumessen. Dies gilt aufgrund des Alters für die Nummern 2 und 3 (Gutenberg-Bibel/Schöfferdruck von 1457, auch wenn jeweils nur Fragmente), aufgrund ihres Unikatcharakters für Nr 51 und 66, aufgrund der historischen Textzusammenstellungen für Sammelbände wie Nr 22, 49 und 50. Die Nr 22 beispielsweise ist eine Symbiose von z.T. extrem seltenen, deutschsprachigen, illustrierten Erzähltexten, wie es sie in dieser Form kein zweites Mal geben dürfte. Auch die überwiegende Mehrheit der anderen aufgeführten Stücke ist aufgrund ihrer Illustrationen und ihres Charakters als volks- und vor allem deutschsprachige Erzeugnisse des frühesten Buchdrucks als schützenswert einzustufen.
2.) Auch wenn es sich bei den aufgeführten Stücken letztlich nicht um eine „historisch“ gewachsene Sammlung im eigentlichen Sinne handelt – obwohl sie bibliophile Sammlungstendenzen im Nachkriegsdeutschland in exemplarischer Form abbildet, was ihr einen Quellenwert ganz eigener Art verleiht – und die Bibliothek Schäfer bereits seit langem den Ausverkauf der von ihrem Gründer mit großer Sorgfalt gesammelten und durch wissenschaftliche Publikationen erschlossenen Inkunabelzimelien betrieben hat, muß dieser „Restbestand“, der selbst als solcher einen kulturellen Wert von unschätzbarer Dimension hat, als einzigartiges Ensemble betrachtet werden, dessen geschlossene Bewahrung und Erhaltung in Deutschland aus meiner Sicht dringend erforderlich ist.
3.) Die Zerschlagung der Sammlung würde für die verschiedenen an ihr interessierten Wissenschaftszweige (Buchwissenschaft [mit Inkunabel- und Einbandkunde], Germanistik, Kunstgeschichte u.a.) einen erheblichen Informations- und Quellenverlust bedeuten. Ein Beispiel: Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke, der sich in seiner gedruckten Form und in seiner Online-Datenbank immer wieder auf in der Liste aufgeführte Exponate bezieht (recherchierbar: www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de, Allgemeine Recherche mit Suchwort „BSchäfer“ in dieser Schreibweise), sähe sich zu umfangreichen Änderungen im Detail und zu komplizierten Verbleibsrecherchen gezwungen, wenn die Sammlung außer Landes gebracht und zerstreut werden würde, was mit großer Sicherheit zum Verschwinden vor allem der bedeutendsten Stücke in privaten Sammlungen führt.
4.) Es ist darauf hinzuweisen, daß über zwei Dutzend Inkunabeldrucke der Bibliothek Schäfer (und zahlreiche andere Spitzenstücke), darunter etwa der bemerkenswerte Sammelband Nr 50, auf Kosten der öffentlichen Hand digitalisiert wurden. Die Digitalisate werden ebenfalls vom Münchener Digitalisierungszentrum vorgehalten (siehe http://www.digitale-sammlungen.de/index.html?c=sammlungen&kategorie_sammlung=2&l=de).
5.) Ich empfehle dringend eine zeitnahe Veröffentlichung der gesamten Liste in der uns vorliegenden Form im Internet und bin gerne bereit, weitere Informationen (z.B. fehlende GW-Nummern) vorab beizusteuern.
Fazit: Die Abwanderung der Sammlung würde einen wesentlichen Verlust für den deutschen Kulturbesitz bedeuten. Die Sammlung ist aus meiner Sicht als schutzwürdig einzustufen und sollte als Ensemble in Deutschland erhalten bleiben."
Dr. Falk Eisermann
Referatsleiter
Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
Gesamtkatalog der Wiegendrucke / Inkunabelsammlung
Nachruf auf die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano
Wie gewonnen, so zerronnen. Vorgestern konnte ich feststellen, dass die in Privatbesitz befindliche zweite handschriftliche Überlieferung des Registrum coquine (um 1430?) des Johannes Bockenheim (Hofkoch von Papst Martin V.) einem in der Zwischenkriegszeit verkauften verschollenen Sammelband aus der Bibliothek des Salzburger Benediktinerklosters St. Peter entstammte. Als Aufbewahrungsort der 12 Blätter wurde von Robert Maier die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano angegeben, der sich dabei auf die im März 2013 eingesehene Website (Version von 2011 im Internet Archive) der Bibliothek stützte. Zuvor hatte der Textzeuge sich in der Sammlung Segal in London befunden. Bruno Laurioux hat das Werk nach dieser Handschrift 1988 ediert.
Leider existiert die wertvolle Bibliothek in Lugano inzwischen nicht mehr. Sie wurde kürzlich verkauft, und ihr weiteres Schicksal ist ganz unklar. Die in Liechtenstein ansässige Stiftung Fondation B.IN.G, der Bibliotheksträger, wurde im Herbst 2013 liquidiert (als Stiftungspräsidentin fungierte die Witwe des Gründers). Man weiß nicht einmal, ob eine Institution die Bestände erworben hat. Man wird abwarten müssen, ob die kostbaren Stücke im Handel auftauchen oder ein Privatsammler sich als neuer Eigentümer zu erkennen gibt.
Was bleibt (vorerst) von der Bibliothek, die auf der Website von Lugano nach wie vor als ” la piu grande raccolta al mondo di testi antichi di gastronomia” gerühmt wird? Mit 17 mittelalterlichen Handschriften war sie von codices.ch unter die “größeren” Schweizer Handschriftensammlungen eingereiht worden.
- Ein feudaler dreibändiger Katalog, in dem 1994 der Eigentümer der 1992 in Sorengo bei Lugano gegründeten Bibliothek die 2073 Drucke und 77 Handschriften in italienischer und lateinischer Sprache beschreiben ließ (Besprechung; einige Bilder). Es war der italienische Unternehmer und Krimiautor Orazio Bagnasco (1927-1999).
- Ein Aufsatz der langjährigen Kuratorin Marta Lenzi Repetto – Marta Lenzi: La fondation B.IN.G.: une collection de gastronomie. In: Passion(s) et collections: actes du colloque (Chambéry, 21 et 22 octobre 1998), Paris 1999, S. 38-51.
- Reste einer Website, aufrufbar im Internet Archive, zu der anscheinend auch ein verschwundenes Handschriftendigitalisat gehörte, und einige Nennungen im Internet, darunter der unten wiedergegebene Artikel von Gerhard Lob 2005, der nach den Nutzungsbedingungen von swissinfo.ch hier ganz wiedergegeben werden darf.
Für die Historiker, die sich mit Essen und Trinken befassen, und die bibliothekarische Infrastruktur dieses Forschungsgebiets ist die Auflösung der Bibliothek ein herber Verlust. Noch so herausragende und für die Forschung bedeutsame Privatsammlungen werden immer wieder aufgelöst oder dezimiert, obwohl das nicht im Interesse der Wissenschaft sein kann.
Einige Beispiele, auf die ich im Lauf der Zeit gestoßen bin:
- 2012 wurden aus der norwegischen Schoyen Collection, der laut Wikipedia größten privaten Handschriftensammlung der Welt, Handschriftenfragmente bei Sotheby’s versteigert.
- 2010 wurde mir eine Petition bekannt, die sich gegen die Auflösung der privaten Ritman Library Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam richtete, der bedeutendsten Sammelstätte für hermetisches Schrifttum. Einen Kernbestand sicherte die KB Den Haag. 2011 konnte die Bibliothek wiedereröffnet werden, doch zahlreiche wertvolle Werke, darunter auch deutschsprachige mittelalterliche Handschriften, hatten verkauft werden müssen (Berichterstattung in Archivalia).
- 2006 wurde gegen den Verkauf einiger Papyri der von Martin Bodmer begründeten Fondation Bodmer in Genf-Coligny protestiert. Es war nicht der erste Verkauf, der die Sammlungsbestände schmälerte.
- “Die Bibliotheca Tiliana war eine von dem Unternehmer und Jagdwissenschaftler Kurt Lindner zusammengetragene Buchsammlung mit annähernd 13.000 jagdlichen und forstlicher Schriften. Nach seinem Tode (1989) konnte sie trotz Bemühungen des Landes Bayern und des DJV nicht geschlossen übernommen werden. 2001 erwarb ein privater Sammler die Bibliothek für 2,7 Millionen DM, entnahm ihr einige Bände und ließ den Rest 2003 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner, München und 2004 bei E + R Kistner Buch- und Kunstantiquariat Nürnberg in Einzelteilen versteigern” (deutsches-jagd-lexikon.de, zu Jagdbuchsammlungen siehe auch die VÖB-Mitteilungen 2006, zur Tiliana erschienen in ihnen zuvor drei wichtige Beiträge von Gerald Kohl und Rolf Rosen: 2003, 2004, 2005).
-Über die berühmte Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt liest man im Handbuch der historischen Buchbestände: “Aufgrund finanzieller Probleme mußte sie im Sommer 1994 geschlossen und der eigene wissenschaftliche Betrieb eingestellt werden. Im Herbst 1994 wurde zusammen mit der Stadt Schweinfurt ein neues Konzept für die Bibliothek erarbeitet. Es sah zur Schaffung von weiterem Stiftungskapital den Verkauf aller nicht im deutschen Sprachgebiet gedruckten Werke der Illustrata-Sammlung und der gesamten Collection Jean Furstenberg vor. Ausgeschlossen vom Verkauf waren nur alle Unikate und die fünf Drucke aus der Bibliothek Jean Groliers als Spitzenstücke der Einbandsammlung. In vier Auktionen bei Sotheby’s von Dezember 1994 bis Dezember 1995 wurden die entsprechenden Bestände veräußert”. Inzwischen darf man die Institution wohl als konsolidiert betrachten, hat sie doch als Leihgaben die Schweinfurter Reichsstädtische Bibliothek und 2013 auch die Kirchenbibliothek St. Johannis übertragen bekommen.
- 1983 verkaufte der Kölner Sammler Peter Ludwig seine herausragende Handschriftensammlung an das Getty-Museum (damals) in Malibu. Die 144 illuminierten Codices waren auf Kosten des Steuerzahlers im Kölner Schnütgen-Museum katalogisiert worden. Die Stadt Köln, die sich lange berechtigte Hoffnung auf die Stücke machen durfte, wurde von dem Sammler kaltschnäuzig mit dem Hinweis, es habe sich nicht um eine Zusage im juristischen Sinn gehandelt, abgespeist. Ein Stifter geht stiften, kommentierte die ZEIT. Wie viele US-Institutionen sieht sich das Getty-Museum leider nicht als dauerhaftes Archiv und hat einen Teil der Stücke in den Handel gegeben. Davon sind nur ganz wenige in öffentlichen Sammlungen gelandet (PDF von Conway/Davis S. 6 mit Nachweisen aus Katalogen, Liste der 2011 vorhandenen Handschriften in Archivalia).
Das Interesse der Wissenschaft an Kulturgütern – das sind immer wichtige Geschichtsquellen – in privater Hand lässt sich ohne weiteres beschreiben:
1. Bestandserhaltung/Ersatzdokumentation: Sammlungen sind möglichst als Ensemble zu erhalten, wenn sie als Ganzes eine bedeutende Geschichtsquelle darstellen. Ist dies nicht möglich, muss es eine öffentlich zugängliche Dokumentation geben. Die dauerhafte Aufbewahrung in einer öffentlichen Institution schont die Stücke und setzt sie keinen unnötigen Transporten aus. Das Verlustrisiko ist bei öffentlichen Sammlungen geringer. Öffentliche Sammlungen zerstückeln auch keine mittelalterlichen Codices (siehe “Auf den Spuren eines Frevlers” in diesem Blog und Breaking Bad).
2. Zugänglichkeit für Öffentlichkeit und Forschung: Wenn private Sammler ihre Schätze nicht wegschließen, sondern sie der Forschung und auch der breiten Öffentlichkeit – im Original oder digital – zugänglich machen ist gegen Kulturgüter in privater Hand nichts einzuwenden. Aber das ist leider nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.
3. Dauerhafte Zitierbarkeit: Besitz- und Ortswechsel von Kulturgütern könnten im semantischen Netz über
Uniform Resource Identifier (analog zu Persistent Identifiern wie URN oder DOI) dokumentiert werden.
Die Interessen des Handels und der privaten Eigentümer sehen meist anders aus. Alles was die Profite schmälert und die Handlungsautonomie der Eigentümer, die sich nicht selten gegen jede Art von Kulturgut-Etikettierung wenden, einschränkt, wird als störend empfunden.
Um den Interessen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit (“Kulturgut muss frei sein!”) zu ihrem Recht zu verhelfen, müssen die jeweils betroffenen Staaten und die Bürgergesellschaft zusammenarbeiten. Auf Denkmal- oder Kulturgutschutz ist bei solchen privaten Kollektionen kaum Verlass (er versagt ja schon bei öffentlichen Sammlungen), wenngleich nicht verschwiegen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht 1992 die Käfersammlung Frey höchstrichterlich als nationales deutsches Kulturgut anerkannt hat.
Nicht alle Sammlungen lassen sich über einen Kamm scheren, aber ein Dreischritt Inventarisierung (Dokumentation ihrer Existenz durch den Staat, Forscher oder interessierte Bürger), vertragliche Abmachungen (Vorkaufs- und Informationsrechte) und – im Krisenfall – Rettungsmaßnahmen erscheinen sinnvoll. Wir brauchen vor allem ein Netzwerk reicher Stiftungen, das bereit ist, für bedrohte Sammlungen und Sammlungsbestandteile ein Rettungsnetz aufzuspannen. Um das Detroit Institute of Art zu retten (siehe Artikel in diesem Blog), haben sich in den USA einige vermögende Stiftungen erstmals zusammengeschlossen. Voraussetzung ist, dass man überhaupt etwas von der Gefahr oder drohenden Verkäufen erfährt und dass genügend Zeit bleibt, ohne Hektik vernünftige Lösungen zu finden. Dies könnte man in den meisten Fällen durch vertragliche Abmachungen sicherstellen.
Wissenschaftlich wertvolle Sammlungen wie die jetzt verschwundene Gastronomie-Bibliothek von Lugano brauchen Lobby-Gruppen, die sich ihrer annehmen und auf dauerhaften Erhalt dringen. Selbstverständlich bietet das Web 2.0 ausgezeichnete Möglichkeiten, solche Lobby-Arbeit zu organisieren. Erinnert sei nur an unsere Facebook-Seite “Rettet die Stralsunder Archivbibliothek” mit Neuigkeiten zum Kulturgüter-Schutz.
Lugano hütet ein gastronomisches Juwel
31. Mai 2005 – 10:33
Die “Bibliothèque Internationale de Gastronomie” in Lugano beherbergt einen weltweit einzigartigen Schatz an gastronomischen Schriften. Die Sammlung ist nicht eine Anhäufung von Rezepten, sondern ein Spiegel kulinarischer und gesellschaftlicher Traditionen.
Die Villa Bagnasco thront auf einem Hügel in Sorengo, einem noblen Vorort Luganos. Hier ist die Stiftung B.IN.G zu Hause; das Kürzel steht für Bibliothéque Internationale de Gastronomie.In der Schweiz ist diese Institution weitgehend unbekannt, doch der internationalen Forschergemeinschaft ist sie durchaus ein Begriff. “Es stimmt: Wir sind im Ausland bekannter als in der Schweiz”, lacht Bibliothekarin Marta Lenzi, die über die einzigartige Sammlung mit rund 4000 Handschriften und Büchern wacht.
Dokumente in vielen Sprachen
Die Sammlung umfasst Handschriften und Drucke vom 14.Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. “Die gastronomische Literatur war die grosse Leidenschaft des Gründers Orazio Bagnasco”, sagt Lenzi.Der ins Tessin übersiedelte italienische Unternehmer, der 1999 starb, hat weltweit Manuskripte und Handschriften mit gastronomischem Charakter gesucht und erworben, vor allem solche in lateinischer und italienischer Sprache. Dies erklärt auch, weshalb der grösste Teil des Bestandes in diesen beiden Sprachen vorhanden ist. Kleiner sind die Abteilungen auf Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch.
Grosser Reichtum für Fachleute aus aller Welt
Die herausragende Rolle der gesammelten lateinischen und italienischen Schriften spiegelt sich im Katalog, der diesem Bestand gewidmet ist. Der dreibändige “Catalogo del fondo italiana e latino delle opere di Gastronomia Sec. XIV-XIX” ist ein Standardwerk der Gastro-Historie und steht als Bibliographie in allen grossen Bibliotheken.Kein Wunder, dass Fachleute aus der ganzen Welt zur Konsultation der Originale nach Lugano-Sorengo kommen. “Seit Gastronomie in den letzten Jahren noch mehr in Mode gekommen ist, häufen sich die Anfragen bei uns”, erklärt Lenzi. Der Zutritt zur Bibliothek ist allerdings nicht öffentlich. Nur Fachleute, Studenten oder Journalisten haben Zutritt. Ein kleiner, aber schmucker Lesesaal lädt zur Lektüre ein.
Juwele aus alten Zeiten
Dank der Katalogisierungsarbeit kennt Lenzi die Sammlung im Detail. Und zu fast jedem Volumen kann sie eine kleine Geschichte erzählen. Verständlicherweise gerät sie ins Schwärmen, wenn sie Schätze wie den hochmittelalterlichen Kodex “Tacuinum Sanitatis” zeigt: “Er ist ein einzigartiges Zeugnis des Lebens und der Sitten aus dieser Epoche.”
Ein Unikum ist auch das Manuskript “Libreto de tutte le cosse che se magnagno” von Giovanni Michele Savonarola aus dem Jahr 1450 zeigt (Das Buch über alle Dinge, die man isst).Auch in der deutschsprachigen Abteilung finden sich kleine Juwele, darunter “Das Buch von der rechten Kunst zu distillieren” von Hieronymus Brunschwygh aus dem Jahr 1500.
Spiegel früherer Lebensweise
Gerade diese historischen Abhandlungen zeigen auf, dass die gastronomische Kultur nicht im Sinne heutiger Kochbücher zu verstehen ist. Die Schriften bilden eher einen Spiegel medizinischer, biologischer, landwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnisse. Das reicht von den Wirkungsweisen bestimmter Kräuter und Pflanzen über das Tranchieren eines Schweins bis zur Beschreibung eines Hochzeitsessen von Isabelle von Aragonien mit Gian Galeazzo Sforza unter dem Titel “Ordine de le imbandisone” aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. “Dieses Buch eröffnet uns die ganze Choreografie der Hochzeit”, sagt Lenzi.
Stolz ist Lenzi auch auf ein Volumen von Maestro Martino, der als Erfinder der modernen Kochkunst gilt – ein Koch aus dem Bleniotal, der Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand Karriere machte. “Er hat die Kochkunst im weitesten Sinn unserem heutigen Geschmack angepasst”, so Lenzi.
Heutigen Bestand bewahren
Die von Bagnasco aufgebaute Sammlung, die 1992 in eine Stiftung überführt wurde, wird heute nicht mehr durch Neuankäufe erweitert. “Wir verwalten das Bestehende so gut es geht”, sagt Lenzi.Ausgebaut wird allerdings die Zusammenarbeit mit externen Interessenten, darunter Fakultäten für Gastronomie an einigen italienischen Universitäten, vor allem der neu gegründeten Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo bei Cuneo (Piemont), wo sich auch ein Forschungszentrum für Slow Food befindet.
Nicht nur langsames Essen, auch historisches Speisen in Burgen und Schlössern hat Hochkonjunktur. Lenzi ist allerdings der Ansicht, sich keine Illusionen zu machen: “Mittelalterlich zubereitetes Essen könnten wir heute beim besten Willen nicht mehr verzehren.”Die verschiedensten Gewürze, süss-sauer, alles in einem Topf: Das sei für den heutigen Geschmack unerträglich. Sie rät daher, sich allenfalls von der historischen Umgebung und einstigen Sitten inspirieren zu lassen, beim Essen aber durchaus auf Modernität zu setzen.
Wigan Public Library: Altbestand 2012 verscherbelt
Man darf es getrost als wissenschaftliche Sensation bezeichnen, was Stephan Kessler (Greifswald) und Stephen Mossman (Manchester) im “Archivium Lithuanicum 15, 2013″ (online) vorstellen: Einen bisher von der Forschung nicht wahrgenommenen kurzen Text in einer baltischen Sprache, niedergeschrieben von einem Schreiber Petrus Wickerau 1440 und zwar auf Kreta, im damals venezianischen Chania. Wahrscheinlich, so die Autoren, handelt es sich um Altpreußisch (Erstbezeugung: Baseler Epigramm, 1369). Würde es sich um Altlitauisch handeln, so wären die vier Zeilen das älteste bekannte schriftliche Denkmal für diese Sprache überhaupt. Die gründliche Recherche der Verfasser ergab, dass die lateinische Handschrift (Logica parva des Augustinereremiten Paulus Ventus) sich im 17. Jahrhundert in Venedig befand. 1904 wurde sie für die Wigan Public Library erworben, 2012 mit dem anderen Altbestand abgestoßen (Kessler/Mossman S. 515) und zwar auf einer Versteigerung bei Bonhams. Nun gehört sie “Les Enluminures” (Katalog mit Abbildungen), einer Firma, die neben Fogg, Günther und Tenschert zur Spitzengruppe der Handschriftenantiquariate zählt.
Dass der Aufsatz den ansonsten nur lokales Aufsehen erregenden Verkauf 2012 thematisiert, ist verdienstvoll. Felicitas Noeske, Mitglied unseres Kulturgut-Teams, hatte von Stephan Mossman eine private Rundmail erhalten, in der die “schamlose” Auktion erwähnt wurde. Am 1. Oktober 2012 hatte mich ein Archivalia-Kommentator ins Bild gesetzt: “Dass die letzten Provenienzen gerne verschwiegen werden ist ja nicht so selten. Bonhams (London) versteigert am 2. Oktober 2012 (auction 20412: lots 116-230) fast sämtliche Inkunabeln (80 von den 82 im ISTC unter ‘Wigan PL’ gelisteten) der ‘Free Public Library Wigan’, ohne dies im Online-Katalog zu erwähnen. Ein zugehöriger Blindstempel kann nur aufgrund der Abbildungen (mit Zoom) identifiziert werden. z.B.: http://www.bonhams.com/auctions/20412/lot/150/ ”. Ich hatte allerdings keine Zeit, der Sache nachzugehen. Von dem lokalen Presseartikel und weiteren Stellungnahmen (Wigan Today, Hinweis in einem UK-Forum zur Buchgeschichte, Kritik in einem Blog) erhielt ich erst durch Frau Noeske Kenntnis. Kessler/Mossmann erwähnen zusätzlich die Notizen von Scott Gwara über die Handschriftenverkäufe in seinem Newsletter (PDF S. 4f. ). Gwara unterstreicht die Beziehungen der Handschriften zu Padua.
Man muss es immer wieder wiederholen, auch wenn sich das Verständnis für diese Argumentation im Handel und auf Seiten der US-Buchszene in Grenzen hält: Die um 1900 zusammengekaufte bibliophile Sammlung der Wigan Public Library, Handschriften und Inkunabeln, war eine schützenswerte wissenschaftlich wertvolle Geschichtsquelle, die durch die Auktion zerstört wurde. Wie der soeben erwähnte Padua-Bezug zeigt, handelte es sich nicht nur um Einzelstücke, sondern um Provenienzreste, die nun zersplittert wurden. Eine 2012 verkaufte Inkunabel war das einzige bekannte Exemplar auf den britischen Inseln.
Wie schon in der Causa Stralsund wurde mit mangelndem lokalen Bezug und mangelndem Interesse an dem Bestand argumentiert. Katie Birkwood hat dafür die richtigen Widerworte gefunden: “It doesn’t take a genius to realise that if no-one knows that something is in a library, no-one will access it. The onus is on the library service to promote its collections.”
Bibliotheken weltweit müssen ihren Altbestand im Interesse der Wissenschaft als buchhistorische “Archive” dauerhaft bewahren. Das betrifft auch die “öffentlichen Bibliotheken”, deren Kerngeschäft die aktuelle Literaturversorgung ist. Bestandsverlagerungen können kein absolutes Tabu sein, aber sie müssen das Ziel haben, den Schaden für die Wissenschaft zu minimieren. Ohne einen transparenten Aussonderungs-Prozess, der nicht wie im Fall Wigan von Heimlichtuerei begleitet wird und der vor allem ohne Zeitdruck stattfinden muss, profitiert nur der Handel, der nach erlesenem Material und hohen Gewinnen giert, und der bornierte Eigentümer, dem die wissenschaftlichen Implikationen wurscht sind. In einem ergebnisoffenen Prozess hätte man versuchen können, die Wigan-Bestände möglichst provenienzschonend auf eine andere öffentliche Sammlung (oder mehrere) zu verteilen. So hätte man womöglich einen Mäzen dafür gewinnen können, die Handschrift mit dem baltischen Text einer litauischen Institution zu stiften. Auktionen haben den Vorteil, dass sie oft (nicht immer) den Gewinn für den Eigentümer maximieren, und den gravierenden Nachteil, dass sie Zusammengehöriges zerreißen und das Versteigerungsgut überwiegend in private Hände spülen, da diese meist kaufkräftiger sind als öffentliche Institutionen. In den privaten Tresoren dienen die Stücke weder der Wissenschaft noch der Allgemeinheit, obwohl sie das als Kulturgut tun sollten. Es gibt Sammler, die gern Zugang für die Wissenschaft gewähren und ihre Pretiosen für Ausstellungen zur Verfügung stellen. Aber auch das setzt voraus, dass der jeweilige Standort bekannt ist. Üblicherweise teilen Auktionshäuser nichts über (auch institutionelle) Erwerber mit, leiten allenfalls Anschreiben weiter.
Einen wirksamen Schutz von beweglichem “Heritage” kennt das Vereinigte Königreich nicht, wie zuletzt die skandalöse Zerstreuung der Mendham-Collection 2013 durch die Law Society gezeigt hat, die der deutsche Inkunabel-Experte Falk Eisermann “widerwärtig” nannte. Auch der einstige Stifterwille zählt juristisch dort so gut wie nichts. Wiederholt las ich von englischer Kulturgut-Barbarei im Kontext historischer Bibliotheken. Ebenfalls 2012 wurde der Altbestand des Birmingham Medical Institute zerstückelt. Mit Müh und Not konnte 2010 die Rare Books Collection von Cardiff gerettet werden.
Nein, ein Musterland in Sachen Kulturgutschutz ist das United Kingdom gewiss nicht! Glücklicherweise scheiterte der geplante Verkauf von Shakespeare-Folios durch die University of London 2013. Der Shakespeare-Forscher Henry Woudhuysen zeigte aber in einem lesenswerten Beitrag, dass der glückliche Ausgang eher nicht die Regel ist: “There have been many other such campaigns against the sales of historic libraries and items from them; why did this one raise such strong feelings and why did it succeed? Most recently there has been controversy about the Law Society’s decision to sell the Mendham Collection of 15th and 16th-century English Bibles and controversial literature, bequeathed by Joseph Mendham (1769-1856) and, since 1984, kept at the University of Kent at a cost to the society of about £10,000 a year. Opposition to the sale failed and the books were sold at Sotheby’s. Of course, it is easier to animate people about the sale of anything associated with Shakespeare (the 450th anniversary of his birth will be marked in 2014) than it is to engage them with the preservation of a 19th-century collection of pre-Reformation books. Even so, similar protests against the sales of First Folios by Oriel College, Oxford, and by Dr Williams’s Library (just around the corner from Senate House) both failed to stop them. There were equally unsuccessful campaigns against the sale of rare 15th and 16th-century continental printed books from the John Rylands Library in 1988 and, a decade or so later, of runs of historic newspapers from the British Library-a shameful event that helped inspire Nicolson Baker’s Double Fold: Libraries and the Assault on Paper (2001).”
Man müsste noch mehr aus dieser einsichtsvollen Stellungnahme zitieren. Nur zu bekannt ist auch hierzulande das abscheuliche Dublettenargument: “Despite a century and more of the painstaking investigation of books printed before 1800 on the hand-press, it is surprising to have to explain to professional librarians and others that there is no such thing as a “duplicate” of this kind. [...] Books from the hand-press period are not “duplicates” and the more we learn about them, the more their unique individuality becomes apparent.”
Zurecht betont Woudhuysen, dass digitale Kopien kein Ersatz für die Originale sein können. Aber sie können, möchte ich ergänzen, für die alten musealen Bestände werben, deren Auswertung mit naturwissenschaftlichen Methoden (etwa zur Provenienzforschung) noch kaum begonnen hat. Wissenschaftlich wertvolle Ensembles wie der Altbestand der Bibliothek von Wigan müssten zusammengehalten werden!
Über 170 Jahre alte Festschrift kehrt zurück ins Stralsunder Stadtarchiv
Einmal in die USA und zurück – nach Stralsund
Über 170 Jahre alte Festschrift kehrt zurück ins Stralsunder Stadtarchiv
(Presemitteilung der Hansestadt Stralsund)
Holger Roggelin bei der Übergabe des Stralsunder Konvoluts an Dr. Burkhard Kunkel (rechts)
„Das ist mein Beitrag zur Erhaltung des Stralsunder Archiv-Bestandes der Gymnasialbibliothek!“ Mit diesen Worten übergibt der eigens aus dem US-amerikanischen Baltimore angereiste Pastor und Historiker, Dr. Holger Roggelin, den Sonderdruck mit handschriftlichen Vermerken von 1839 an den Beauftragten für Archiv, Historische Handschriftensammlungen und Bibliotheken der Hansestadt Stralsund, Dr. Burkhard Kunkel.
Das Buch ist weit gereist. Aus dem Stralsunder Stadtarchiv in die USA und jetzt an seinen ursprünglichen Standort zurück, hat es mehr als 13.000 km zurückgelegt. Nun befindet es sich wieder im Stralsunder Stadtarchiv, „wo es auch hingehört“, wie Kunsthistoriker und Restaurator Burkhard Kunkel betont.
Über das Internet hatte Holger Roggelin, der sich besonders für die Hanse- und Schulgeschichte Vorpommerns interessiert, vergangenes Jahr von der Veräußerung von Teilen des Bestands des Stadtarchivs erfahren.
Daraufhin begann der ehemalige Lübecker systematisch nach Büchern aus der Stralsunder Gymnasialbibliothek im Netz zu suchen. Bei seinen Recherchen stieß er auf die „Festgabe“, die anlässlich des 50-jährigen Dienstjubiläums des damaligen Schulrats des Stralsunder Gymnasiums, Dr. Friedrich Koch, gedruckt worden ist. Diese enthält neben den Festschriften von Lehrerkollegen und der in Greifswald ausgestellten Ehrendoktorurkunde außerdem historische Grundrisse des Putbuser Pädagogiums und des Stralsunder Gymnasiums.
Der seit 2000 in den USA lebende Pastor hofft, durch sein gemeinnütziges Engagement für den Erhalt der Stralsunder Gymnasialbibliothek noch mehr Menschen zu ebensolchen Taten anzuregen. Er meint, dass Bücher, die aus dem Bestand des Stralsunder Stadtarchivs verkauft worden sind, wieder an ihren eigentlichen Bestimmungsort zurückgegeben werden sollten. Denn, da sind sich beide Wissenschaftler einig, der historische Wert der Gymnasialbibliothek liegt in der Vollständigkeit des Bestandes.
Autorin: Katja Schirrow
Foto: Hansestadt Stralsund l Pressestelle – Bildtext: Zwar hatte Dr. Holger Roggelin (l.) die Festgabe käuflich erworben, übergab sie dem Stadtarchiv aber unentgeltlich. Rechts im Bild Dr. Burkhard Kunkel.
INFOBOX:
Wie geht es weiter mit der Gymnasialbibliothek?
Die Vorbereitungen einer Ausschreibung zur Reinigung der Stralsunder Gymnasialbibliothek sind abgeschlossen. Die Bestände stehen zum Transport in das Restaurierungsunternehmen bereit, das den entsprechenden Auftrag dazu erhalten wird.Nach ihrer Rückkehr werden die Bücher katalogisiert. Das Katalogisierungsprojekt wird in Zusammenarbeit mit dem Land und der Universitätsbibliothek Greifswald realisiert. In diesen Katalog – im Sinne einer genauen Inventur – werden die zurückgekehrten Exemplare (bisher sieben wertvolle und zum Teil einzigartige Exemplare) eingearbeitet. Seit Dezember des vergangenen Jahres werden bis heute Bücher der Stralsunder Gymnasialbibliothek durch Privatpersonen, Bibliotheken und Sammlungen zur Verfügung gestellt, die diese zuvor auf dem antiquarischen Buchmarkt erworben hatten. Zeitgleich laufen in Kooperation mit der Universität Marburg, dem Christianeum Hamburg sowie der Universitätsbibliothek Rostock Planungen zu einem wissenschaftlichen Erschließungsprojekt, in dessen Ergebnis erstmals eine umfassende Darstellung dieses bedeutenden Schatzes auch in Buchform erscheinen soll.
Bisher zurückgegeben wurden:
- Maximus von Tyrus, Sermones sive disputationes, 1557, Sign. B 53
- Ernst Zober, Urkundliche Geschichte des Stralsunder Gymnasiums 1860, Sign. H8° 20d
- Diogenes, De Vita et moribus… 1566, Sign. B 62
- Apollinarius, Versibus heroicis graec. Et. Lat., 1596, Sign. A 30
- Franz Schlosser (Drucker), Türkenkriege, Vnsers aller gnedigsten Herren Ferdinandi Römischen Königs etc. Mandat an die Fürsten zu Stettin Pommeren etc.1531, Sign. B8° 1327
- Konvolut von 12 Titeln aus der Gymnasialbibliothek, o. Sign.
- Biblia Damulica, Trankebar 1739, Sign. L 24, (Rückgabe zugesagt)
PS: Siehe auch die aktualisierte Chronologie der Stadt: http://www.stralsund.de/hst01/content1.nsf/docname/Webseite_B8D598E4238E4E09C1257ABF00448714?OpenDocument
Mendham-Collection vor der Zerstückelung
Sotheby’s hat seinen Katalog für die Auktion am 5. Juni 2013 schon ins Netz gestellt, bei der 142 kostbare Stücke, darunter auch Handschriften, aus der Mendham-Collection unter den Hammer kommen werden. Nichts scheint die Law Society of England and Wales von ihrem barbarischen Vorhaben, die traditionsreiche Sammlung Joseph Mendhams (1769-1856), die sich seit 1984 als Leihgabe in der Canterbury Cathedral Library befindet, zu zerreißen, abbringen zu können. Eine Petition, die noch läuft, sammelte 4000 Unterschriften. Schon im letzten Jahr formierten sich die Proteste (siehe Otto Vervaart und Meldungen in Archivalia vom Sommer 2012: 1, 2).
Ein gerade veröffentlichter Leserbrief an die TIMES wurde auch von British-Library-CEO Roly Keating unterzeichnet. Darin heißt es: The collection, formed by Joseph Mendham (1769-1856), a Church of England clergyman at Sutton Coldfield, comprises 12 medieval and post-medieval manuscripts and 5,000 books published between 1450 and 1850, many not held in the British Library or other national collections. It constitutes a rich and coherent resource for both Protestant and Catholic history. The collection was gifted by Sophia Mendham to the society in 1869 on the understanding that it would be kept together indefinitely, and accepted by the society on that basis. Had the society not accepted this provision, the collection would have been gifted to King’s College London. More than a century later, in recognition of the collection’s national importance, the British Library awarded a grant to catalogue it with the expectation that it would not subsequently be dispersed.
Schon ein kurzer Blick in den Sotheby’s-Katalog genügt, um zu erkennen, welche Schätze mutmaßlich in Privatschatullen verschwinden werden. Da ist etwa die Nr. 76, eine in Deventer gedruckte Inkunabel, ein Unicum aus dem Besitz des Eichstätter Kanonikers Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden. Seit 2005 weiß man, dass der Gmünder Franziskanerkonvent die Bücher Adelmanns angekauft hatte, die im frühen 19. Jahrhundert an den Frankfurter Sammler Georg Kloß gelangten, der auch als Vorbesitzer der jetzt verkauften Inkunabel erscheint. Außer den Büchern in der Bodleiana kennt Needhams IPI nur drei Stücke aus Bernhards Bibliothek.
Das Bild in der Kopfzeile: Ausschnitt aus der Nibelungenliedhandschrift C mit dem Wappen des Joseph von Laßberg
Im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts entstand die ehemals in der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen aufbewahrte berühmte Handschrift C des Nibelungenlieds. 1815 hatte Joseph von Laßberg (1770-1855) die 1755 n der Bibliothek der Reichsgrafen von Hohenems entdeckte Handschrift in Wien erworben. Mit den anderen Handschriften Laßbergs und seiner Bibliothek gelangte der Codex, den der Sammler wie andere herausragende Stücke mit seinem gemalten Wappen versehen hatte, in die Hofbibliothek Donaueschingen. Im Eigentum der Fürstenberger verblieb das Stück auch, als 1993 der gesamte Donaueschinger Handschriftenbestand an das Land Baden-Württemberg verkauft wurde. Erst seit dem Jahre 2001 befindet sich der Codex als Eigentum der Landesbank Baden-Württemberg und der Bundesrepublik Deutschland in der Badischen Landesbibliothek. Er ist komplett online einsehbar. Unser Ausschnitt stammt aus Blatt 1r.
Mit dem Hinweis auf die Bibliothek Laßbergs erinnern wir an einen der größten Kulturgutfrevel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl ein hochrangiges schützenswertes Kulturgut, wurde die Bibliothek zerstückelt und als Geschichtsquelle zerstört. Sie bestand ja nicht nur aus Handschriften, sondern auch aus Druckschriften. Schon 1994 wurden wichtige Teile in alle Winde zerstreut, als der Donaueschinger Inkunabelbestand bei Sotheby’s versteigert wurde. Seit damals engagiere ich mich für den Schutz von Kulturgütern, deren Lobby kaum ausgeprägt ist, für Geschichtsquellen, um deren Erhalt sich die Denkmalämter kaum kümmern. Seit 1999 wurde der kostbare Druckschriftenbestand der Donaueschinger Hofbibliothek (bis auf einen kleinen regionalhistorischen Rest) auf Versteigerungen auseinandergerissen. Bibliotheken wie die Badische Landesbibliothek oder die Thurgauische Kantonsbibliothek konnten nur kleine Teile der fast geschlossen erhaltenen Bibliothek Laßbergs für die Öffentlichkeit sichern. Seit damals nutze ich das Internet, um auf solche Kulturgut-Skandale aufmerksam zu machen und sie zu dokumentieren.