Forschung in Fluss. Das 16. Symposium des Mediävistenverbands widmet sich dem Thema „Gebrauch und Symbolik des Wassers in der mittelalterlichen Kultur“ (Bern, 22.-25. März 2015)

Ein Beitrag von Klaus Oschema (Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit des Medävistenverband e.V.) & Friederike Pfister (beide Heidelberg)

„How’s the water?“ Zuweilen finden die einfachsten und buchstäblich naheliegendsten Dinge am wenigsten Beachtung. Griffig zeigen das die Protagonisten im kleinen Einstiegswitz, mit dem David Foster Wallace im Jahr 2005 seine Rede vor den Absolventen des Kenyon College begann: Zwei junge Fische treffen einen älteren, der ihnen entgegen schwimmt. Im Vorbeischwimmen nickt der ältere ihnen zu und sagt: „Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die jungen Fische schwimmen weiter – und nach einiger Zeit dreht sich der eine zum anderen und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

Trotz seiner offensichtlichen Bedeutung für das tägliche Leben wurde dem fluiden Gegenstand „Wasser“ in der mediävistischen Forschung bislang nur eingeschränkt Aufmerksamkeit zuteil. Angesichts der geschilderten Pointe müsste es wohl eher heißen: ‚gerade deswegen‘. Dies zu ändern nimmt sich der Mediävistenverband mit seinem aktuellen Symposium vor, das vom 22. bis 25. März 2015 eine ebenso interdisziplinäre wie internationale Vielzahl von Mediävistinnen und Mediävisten nach Bern führen wird. Dem verantwortlichen Organisationsteam vor Ort gehören an Gerlinde Huber-Rebenich (Mittellatein), Christian Rohr (Geschichte) und Michael Stolz (Germanistik). Gemeinsam haben sie die Ausschreibung unter den Leitspruch „Wasser ist Leben“ gestellt, der die Bandbreite der möglichen Themen gerafft ansprechen soll.

So wird denn nun aus historisierender Warte ein neuer Blick auf eine Substanz geworfen, die auch zeitgenössischen Naturwissenschaften noch so manches Rätsel aufgibt. Wenngleich wir nämlich selbstverständlich mit Wasser im Alltag umgehen, so bleibt ja sein physikalisches und chemisches Verhalten recht eigentümlich: Es erreicht bekanntlich seine größte Dichte bei circa 4° Celsius, nur um sein Volumen mit dem Erreichen des Gefrierpunkts und dem Wechsel des Aggregatzustands in festes Eis kräftig auszudehnen.1

Die Menschen der Vormoderne konnten die Folgen dieser Eigenschaften zwar beobachten, aber die naturwissenschaftliche Mikroperspektive blieb ihnen weitgehend fremd. Dafür beschäftigten sie sich umso mehr mit den vielfältigen Erscheinungsformen des Wassers sowie deren kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Implikationen. Beispiele bietet das Berner Programm zuhauf: Das beginnt mit der ordnungsschaffenden Wirkung allergrößter Wassermengen – in Form von Flüssen, Seen, Meeren oder Ozeanen – deren Funktion als Transportwege man diskutieren kann und muss, die aber zweifellos den Raum zunächst einmal strukturieren. Ganz gleich, ob es dabei um die Festlegung von Grenzen zwischen politischen oder administrativen Einheiten geht, oder um die Markierung makrogeographischer Einheiten (Inseln oder gar Erdteile): Wasser kann Grenzlinien markieren und zugleich bilden. Ebenso können Flüsse, Meere oder Seen aber auch den Ausgangspunkt für kulturelle Kontakte darstellen. Hierbei spielt der Handel eine übergeordnete Rolle, aber auch persönliche Kommunikation und Reisen werden über Wasserwege ermöglicht. Neben der räumlichen Strukturierung – im verbindenden oder trennenden Sinne – kann Wasser sogar für die Einteilung von Zeit prägend wirken. Der altägyptische Kalender richtete sich ja unter anderem nach der Nilschwemme.

Große Mengen von Wasser – überhaupt das Problem der Menge – stehen entsprechend häufig im Fokus der angekündigten Beiträge: Den Opfern großer Flutkatastrophen, die aus unserer Gegenwart ebenso bekannt sind wie aus der Vormoderne, dürfte dabei der Verweis auf die lebensspendende Kraft des Wassers wohl eher zynisch erscheinen. So konterkariert es ein wenig die positiv gestimmte Einladung, wenn eine ganze Reihe von Vorträgen sich solchen Katastrophen widmet. Dabei werden beide Krisenextreme – Dürren wie Überschwemmungen – diskutiert und verschiedene Erklärungsmuster sowie Bewältigungsstrategien thematisiert. Wie nahe Überfluss und Mangel beieinander liegen, dürfte unter anderem ein Beitrag vorführen, der sich am Beispiel der nordchinesischen Ebene und des unteren Yangzi-Deltas mit beiden Fällen auseinandersetzt (Sektion 1). Die Menge macht es eben aus – das wird wohl auch die leidgeprüfte Einwohnerschaft des Berner Mattequartiers widerspruchslos unterschreiben, die in den vergangenen Jahrzehnten gleich mehrfach in jeweils kürzester Zeit von den andrängenden Wassermassen der Aare aus ihren Wohnungen vertrieben wurde.2

Überhaupt bietet sich Bern wahrlich an, den unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen des Wassers nachzugehen. Schließlich ist nicht nur die Matte für die Fluten exponiert, sondern der Fluss markierte lange Zeit auch eine politische Grenze: Hier endete das Bistum Lausanne – auf dessen Territorium die Stadt Bern lag – und das Bistum Konstanz begann. Für die Entwicklung der Stadt blieben der Fluss und die mit ihm verbundene Grenze bis weit in die Neuzeit hinein bestimmend – und selbst die Frage des Brückenbaus an der Nydegg sorgte für Verwerfungen. Während man sich aber am Fuß der Stadt vor einem Zuviel an Wasser fürchten mochte – obschon das fließende Nass hier für den Betrieb der Gerbereien und der Mühlen benötigt wurde – sehnte man sich oben in der Stadt nach einem Mehr. Diese Sehnsucht war so stark, dass man im späten 15. Jahrhundert bereit war, einem „walch von Burgunn“ weit über 100 Pfund für eine Lösung des Problems zu zahlen: Er hatte versprochen, das Wasser einer nahen Quelle in die Stadt zu leiten, um dort die Brunnen zu versorgen. Letztlich aber wurde „nit darus“ – und schließlich war nicht nur das vorgeschossene Geld verschwunden, sondern, so der amtliche Chronist Diebold Schilling, auch der angebliche Brunnenmacher selbst: „[...] und was aller cost, mu(e)g und arbeit ganz verloren und kam der meister ouch hinweg.“3 Das Berner Interesse am Wasser hat also eine lange Geschichte.

Die weit über 100 Vorträge, die das Programm bereithält, thematisieren eine entsprechend große Bandbreite von Aspekten; der Reigen der beteiligten Disziplinen reicht von der Medizingeschichte, der Papyrologie und verschiedenen Philologien bis hin zur Archäologie und Kunstgeschichte, zur Theologie, Philosophie und Geschichte. Das breite Spektrum der Themen ist daher kaum knapp zusammenzufassen, will man die Erstellung einer längeren Liste vermeiden. Ordnung in der Vielfalt stiften allerdings die großen Themenfelder, in welche die Sektionen eingeteilt sind (von denen bis zu vier gleichzeitig stattfinden): „I. Umwelt, Klima, Ökologie“, „II. Verkehrsmittel, Grenze, Machtgrundlage“, „III. Naturkunde und Naturphilosophie“ und „IV. Symbolbildungen in Religion, Literatur und Kunst“.

Schon hier klingen Tendenzen der aktuellen Forschung an, die ja etwa der Umweltgeschichte immer mehr Raum zubilligt. Auch hinter dem zunächst vielleicht etwas traditionell anmutenden Begriff der „Macht(grundlage)“ verbergen sich Beiträge, die neuere Anregungen produktiv aufgreifen, wenn es um Lebensräume „zwischen Fluss und Meer“ (Sektion 2, 6) geht und damit Aspekte der jüngst verstärkt diskutierten Thalassokratie in den Blick geraten. Selbst die schon angedeutete Ambivalenz vieler Phänomene, die mit dem Wasser zusammenhängen, spiegelt sich in den Beiträgen, wenn eine Sektion etwa das Spannungsfeld von „Mangel bis Überfluss“ (Sektion 1) auftut und andere das Wasser entweder als „verbindendes Element“ (Sektion 14) betrachten oder die ordnungsstiftende Rolle von Wassergrenzen untersuchen (Sektion 4).

Neben den ‚realen‘ Vor- und Nachteilen, dem Nutzen und den Schwierigkeiten, die mit Wasser verbunden sind, gerät auch dessen symbolische Bedeutung in den Blick. Hinsichtlich der Religion gilt, dass nicht wenige symbolische Aufladungen in Judentum, Christentum und Islam auf der Allgegenwart und der Notwendigkeit des Wassers aufbauen: Die Motive reichen vom Wasser als Grundlage der Schöpfung über verschiedene Rituale bis hin zum metaphorischen Wasser als Wort Gottes, das der Mensch zum guten Leben benötigt. Vor allem die Rituale der Taufe (Sektion 8, 9, 31), der Weihe (Sektion 31) und des Bades in der Mikwe (Sektion 21, 33) stehen in Bern in mehreren Beiträgen im Vordergrund: Hier dient das Wasser weniger der körperlichen als vielmehr der seelisch-geistigen Reinigung und Erneuerung. Diese Dimension führte auch zum Aufleben mancher Wallfahrtsorte, an denen sich ‚heilige‘ Quellen befanden. So wurde etwa die Benediktinerabtei St. Ottilien in der Nähe Freiburgs neben einer Quelle errichtet, deren Wasser – so die Geschichte der blinden Ottilie – Augenleiden lindern soll. Dass manchem Wasser heilende Kräfte zugeschrieben wurden, verdeutlichen auch Pilgerandenken, wenn das Quellwasser in eigens angefertigten Ampullen mitgenommen werden konnte. Aber auch die Religionen kennen Wasser nicht nur in positiver Hinsicht – man denke nur an die strafende Sintflut oder die Heiß- oder Kaltwasserprobe bei Gottesurteilen.

So räumt das Symposium also der Symbolik und der Imagination breiten Raum ein, von der erwähnten Rolle des Wassers in Liturgie und Theologie über Wunder und Magie (bes. Sektion 12), die mit dem Nass verbunden sind, bis hin zu Wassertieren, die gleich zwei Sektionen thematisieren (Sektion 19, 23) – man darf gespannt sein auf „le crocodile, cet inconnu“ (Sektion 23). Dass zudem praktische Fragen der Wassernutzung (Sektion 21) und des Bauens am Wasser (Sektion 34) (angesichts der steigenden Frequenz von Flutkatastrophen ebenfalls ein Thema mit starken Gegenwartsbezügen) aufgegriffen werden, rundet das Programm angemessen ab.

Natürlich darf dabei auch der profane Bereich des Badehauses nicht fehlen, mit dem sich eine ganze Sektion auseinandersetzt und unter anderem „Zwanzig gute Gründe, das Bad aufzusuchen“ nennt (Sektion 13). Das führt in gewisser Weise zum genius loci zurück, schilderte doch einst Giacomo Casanova ausgiebig seine Erlebnisse in einer Badestube der Berner Matte: „Ich spielte den Großtürken, musterte mit den Augen diesen Schwarm derber Schönheiten und warf mein Schnupftuch dem Mädchen zu, das mir am besten gefiel. Sie ging mit mir in eine Zelle, schloss die Tür von innen und entkleidete mich mit der ernstesten Miene, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne mir auch nur ins Gesicht zu sehen; hierauf zog sie mir eine baumwollene Mütze über die Haare. Sobald sie mich im Wasser sah, entkleidete sie sich ebenfalls mit der Gewandtheit einer Person, die daran gewöhnt ist, und legte sich ohne ein Wort zu sagen zu mir ins Bad. Hierauf begann sie mich überall zu reiben, ausgenommen an einer gewissen Stelle, die ich mit beiden Händen bedeckt hielt. Als ich fand, dass ich genug bearbeitet sei, forderte ich Kaffee von ihr. Sie stieg aus dem Bade, öffnete die Tür, bestellte, was ich wollte, und stieg ohne die geringste Verlegenheit wieder in das Bad.“4 Das Zitat sei hier züchtig abgebrochen, allen einschlägig Interessierten aber ist die eigenständige Lektüre des gesamten Abschnitts zu Bern zu empfehlen.

Anstelle des Abstiegs in die einstigen Berner Lustbarkeiten wollen wir hier abschließend noch dreierlei zum Programm hervorheben, das von drei Plenarvorträgen gerahmt ist: „Wasser in der mittelalterlichen Medizin und Naturkunde“ (Ortrun Riha, Leipzig), „Liquide Welten. Zum Mittelalter aus maritimer Sicht“ (Nikolas Jaspert, Heidelberg) und „Aqua – philosophische und theologische Diskussion über das Wasser (12. bis 14. Jahrhundert)“ (Ruedi Imbach, Paris).

Zum einen besteht ein Höhepunkt des Programms in der feierlichen Verleihung des Nachwuchspreises, mit dem der Mediävistenverband seit 2013 alle zwei Jahre eine herausragende interdisziplinäre Dissertation auszeichnet.

Zum zweiten zeugt die beachtliche geographische Weite der Vortragsthemen nicht nur von einer wahrhaft europäischen Dimension der gegenwärtigen Mediävistik – wenn Italien, die Iberische Halbinsel, das Baltikum und Griechenland ganz selbstverständlich neben Beiträgen zum mittelalterlichen Reich stehen. Vielmehr spiegelt sie zugleich den spürbaren Einfluss transkulturell ausgerichteter Studien, da die Welt des Islam ebenso in den Fokus gerät wie China.

Zum dritten schließlich bietet der Mediävistenverband hier auch Foren für Beiträge, die jenseits des Kernthemas angesiedelt sind, die aber zweifellos große Bedeutung für die aktuelle und zukünftige Entwicklung im mediävistischen Arbeiten besitzen: Eine Gesprächsrunde mit Meike Hensel-Grobe fokussiert mit Blick auf das kommende Symposium 2017 in Bonn auf eine „Werkstatt Mittelalterdidaktik“ und eine eigene Sektion ist den „Digital Humanities“ gewidmet (Sektion 36). Wie das Digitale Zeitalter in den Alltagsbetrieb der Humanities Einzug hält, dürfte dann wohl verbildlicht werden, wenn zumindest einer der Beiträge (wie aus wohl informierten Quellen zu erfahren) per Videokonferenz aus der Ferne zugeschaltet wird.

Ein Live-Stream zu einem Symposium über ein fluides Medium: This is water.

Das vollständige Programm des Symposiums ist über die Website des Mediävistenverband e.V. abzurufen (www.mediaevistenverband.de) bzw. über die Website des Symposiums: http://www.kas.unibe.ch/Mediaevistenverband_Symposium_2015/ Hier ist auch (bis 13. März 2015) die Anmeldung möglich.

  1. Aus einer Vielzahl von Perspektiven widmete sich dem Gegenstand die AG Wasser der „Jungen Akademie“, s. http://www.diejungeakademie.de/presse/pressemitteilungen/details/article/kann-man-wolken-hoeren-ausstellung-der-arbeitsgruppe-wasser-in-berlin/
  2. Beeindruckende Bild- und Textdokumente zum Hochwasser von 2005 versammelt die Website http://www.matte.ch/mattearchiv/hochwasser05.htm.
  3. Nachzulesen in Die Berner Chronik des Diebold Schilling (1468-1484). 2 Bde., hg. von Gustav Tobler, Bern 1897-1901, Bd. 2, S. 268-270; verfügbar unter http://biblio.unibe.ch/digibern/chronik_schilling_bd_02.pdf. Diese und viele weitere Quellen zur Berner Geschichte sind online verfügbar unter http://www.digibern.ch/.
  4. Die Erinnerungen des Giacomo Casanova. 6 Bde., vollst. übertr. von Heinrich Conrad, Berlin [u.a.] 1911, Bd. 3, S. 500f.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5229

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Forschung in Fluss. Das 16. Symposium des Mediävistenverbands widmet sich dem Thema „Gebrauch und Symbolik des Wassers in der mittelalterlichen Kultur“ (Bern, 22.-25. März 2015)

Ein Beitrag von Klaus Oschema (Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit des Medävistenverband e.V.) & Friederike Pfister (beide Heidelberg)

„How’s the water?“ Zuweilen finden die einfachsten und buchstäblich naheliegendsten Dinge am wenigsten Beachtung. Griffig zeigen das die Protagonisten im kleinen Einstiegswitz, mit dem David Foster Wallace im Jahr 2005 seine Rede vor den Absolventen des Kenyon College begann: Zwei junge Fische treffen einen älteren, der ihnen entgegen schwimmt. Im Vorbeischwimmen nickt der ältere ihnen zu und sagt: „Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die jungen Fische schwimmen weiter – und nach einiger Zeit dreht sich der eine zum anderen und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

Trotz seiner offensichtlichen Bedeutung für das tägliche Leben wurde dem fluiden Gegenstand „Wasser“ in der mediävistischen Forschung bislang nur eingeschränkt Aufmerksamkeit zuteil. Angesichts der geschilderten Pointe müsste es wohl eher heißen: ‚gerade deswegen‘. Dies zu ändern nimmt sich der Mediävistenverband mit seinem aktuellen Symposium vor, das vom 22. bis 25. März 2015 eine ebenso interdisziplinäre wie internationale Vielzahl von Mediävistinnen und Mediävisten nach Bern führen wird. Dem verantwortlichen Organisationsteam vor Ort gehören an Gerlinde Huber-Rebenich (Mittellatein), Christian Rohr (Geschichte) und Michael Stolz (Germanistik). Gemeinsam haben sie die Ausschreibung unter den Leitspruch „Wasser ist Leben“ gestellt, der die Bandbreite der möglichen Themen gerafft ansprechen soll.

So wird denn nun aus historisierender Warte ein neuer Blick auf eine Substanz geworfen, die auch zeitgenössischen Naturwissenschaften noch so manches Rätsel aufgibt. Wenngleich wir nämlich selbstverständlich mit Wasser im Alltag umgehen, so bleibt ja sein physikalisches und chemisches Verhalten recht eigentümlich: Es erreicht bekanntlich seine größte Dichte bei circa 4° Celsius, nur um sein Volumen mit dem Erreichen des Gefrierpunkts und dem Wechsel des Aggregatzustands in festes Eis kräftig auszudehnen.1

Die Menschen der Vormoderne konnten die Folgen dieser Eigenschaften zwar beobachten, aber die naturwissenschaftliche Mikroperspektive blieb ihnen weitgehend fremd. Dafür beschäftigten sie sich umso mehr mit den vielfältigen Erscheinungsformen des Wassers sowie deren kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Implikationen. Beispiele bietet das Berner Programm zuhauf: Das beginnt mit der ordnungsschaffenden Wirkung allergrößter Wassermengen – in Form von Flüssen, Seen, Meeren oder Ozeanen – deren Funktion als Transportwege man diskutieren kann und muss, die aber zweifellos den Raum zunächst einmal strukturieren. Ganz gleich, ob es dabei um die Festlegung von Grenzen zwischen politischen oder administrativen Einheiten geht, oder um die Markierung makrogeographischer Einheiten (Inseln oder gar Erdteile): Wasser kann Grenzlinien markieren und zugleich bilden. Ebenso können Flüsse, Meere oder Seen aber auch den Ausgangspunkt für kulturelle Kontakte darstellen. Hierbei spielt der Handel eine übergeordnete Rolle, aber auch persönliche Kommunikation und Reisen werden über Wasserwege ermöglicht. Neben der räumlichen Strukturierung – im verbindenden oder trennenden Sinne – kann Wasser sogar für die Einteilung von Zeit prägend wirken. Der altägyptische Kalender richtete sich ja unter anderem nach der Nilschwemme.

Große Mengen von Wasser – überhaupt das Problem der Menge – stehen entsprechend häufig im Fokus der angekündigten Beiträge: Den Opfern großer Flutkatastrophen, die aus unserer Gegenwart ebenso bekannt sind wie aus der Vormoderne, dürfte dabei der Verweis auf die lebensspendende Kraft des Wassers wohl eher zynisch erscheinen. So konterkariert es ein wenig die positiv gestimmte Einladung, wenn eine ganze Reihe von Vorträgen sich solchen Katastrophen widmet. Dabei werden beide Krisenextreme – Dürren wie Überschwemmungen – diskutiert und verschiedene Erklärungsmuster sowie Bewältigungsstrategien thematisiert. Wie nahe Überfluss und Mangel beieinander liegen, dürfte unter anderem ein Beitrag vorführen, der sich am Beispiel der nordchinesischen Ebene und des unteren Yangzi-Deltas mit beiden Fällen auseinandersetzt (Sektion 1). Die Menge macht es eben aus – das wird wohl auch die leidgeprüfte Einwohnerschaft des Berner Mattequartiers widerspruchslos unterschreiben, die in den vergangenen Jahrzehnten gleich mehrfach in jeweils kürzester Zeit von den andrängenden Wassermassen der Aare aus ihren Wohnungen vertrieben wurde.2

Überhaupt bietet sich Bern wahrlich an, den unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen des Wassers nachzugehen. Schließlich ist nicht nur die Matte für die Fluten exponiert, sondern der Fluss markierte lange Zeit auch eine politische Grenze: Hier endete das Bistum Lausanne – auf dessen Territorium die Stadt Bern lag – und das Bistum Konstanz begann. Für die Entwicklung der Stadt blieben der Fluss und die mit ihm verbundene Grenze bis weit in die Neuzeit hinein bestimmend – und selbst die Frage des Brückenbaus an der Nydegg sorgte für Verwerfungen. Während man sich aber am Fuß der Stadt vor einem Zuviel an Wasser fürchten mochte – obschon das fließende Nass hier für den Betrieb der Gerbereien und der Mühlen benötigt wurde – sehnte man sich oben in der Stadt nach einem Mehr. Diese Sehnsucht war so stark, dass man im späten 15. Jahrhundert bereit war, einem „walch von Burgunn“ weit über 100 Pfund für eine Lösung des Problems zu zahlen: Er hatte versprochen, das Wasser einer nahen Quelle in die Stadt zu leiten, um dort die Brunnen zu versorgen. Letztlich aber wurde „nit darus“ – und schließlich war nicht nur das vorgeschossene Geld verschwunden, sondern, so der amtliche Chronist Diebold Schilling, auch der angebliche Brunnenmacher selbst: „[…] und was aller cost, mu(e)g und arbeit ganz verloren und kam der meister ouch hinweg.“3 Das Berner Interesse am Wasser hat also eine lange Geschichte.

Die weit über 100 Vorträge, die das Programm bereithält, thematisieren eine entsprechend große Bandbreite von Aspekten; der Reigen der beteiligten Disziplinen reicht von der Medizingeschichte, der Papyrologie und verschiedenen Philologien bis hin zur Archäologie und Kunstgeschichte, zur Theologie, Philosophie und Geschichte. Das breite Spektrum der Themen ist daher kaum knapp zusammenzufassen, will man die Erstellung einer längeren Liste vermeiden. Ordnung in der Vielfalt stiften allerdings die großen Themenfelder, in welche die Sektionen eingeteilt sind (von denen bis zu vier gleichzeitig stattfinden): „I. Umwelt, Klima, Ökologie“, „II. Verkehrsmittel, Grenze, Machtgrundlage“, „III. Naturkunde und Naturphilosophie“ und „IV. Symbolbildungen in Religion, Literatur und Kunst“.

Schon hier klingen Tendenzen der aktuellen Forschung an, die ja etwa der Umweltgeschichte immer mehr Raum zubilligt. Auch hinter dem zunächst vielleicht etwas traditionell anmutenden Begriff der „Macht(grundlage)“ verbergen sich Beiträge, die neuere Anregungen produktiv aufgreifen, wenn es um Lebensräume „zwischen Fluss und Meer“ (Sektion 2, 6) geht und damit Aspekte der jüngst verstärkt diskutierten Thalassokratie in den Blick geraten. Selbst die schon angedeutete Ambivalenz vieler Phänomene, die mit dem Wasser zusammenhängen, spiegelt sich in den Beiträgen, wenn eine Sektion etwa das Spannungsfeld von „Mangel bis Überfluss“ (Sektion 1) auftut und andere das Wasser entweder als „verbindendes Element“ (Sektion 14) betrachten oder die ordnungsstiftende Rolle von Wassergrenzen untersuchen (Sektion 4).

Neben den ‚realen‘ Vor- und Nachteilen, dem Nutzen und den Schwierigkeiten, die mit Wasser verbunden sind, gerät auch dessen symbolische Bedeutung in den Blick. Hinsichtlich der Religion gilt, dass nicht wenige symbolische Aufladungen in Judentum, Christentum und Islam auf der Allgegenwart und der Notwendigkeit des Wassers aufbauen: Die Motive reichen vom Wasser als Grundlage der Schöpfung über verschiedene Rituale bis hin zum metaphorischen Wasser als Wort Gottes, das der Mensch zum guten Leben benötigt. Vor allem die Rituale der Taufe (Sektion 8, 9, 31), der Weihe (Sektion 31) und des Bades in der Mikwe (Sektion 21, 33) stehen in Bern in mehreren Beiträgen im Vordergrund: Hier dient das Wasser weniger der körperlichen als vielmehr der seelisch-geistigen Reinigung und Erneuerung. Diese Dimension führte auch zum Aufleben mancher Wallfahrtsorte, an denen sich ‚heilige‘ Quellen befanden. So wurde etwa die Benediktinerabtei St. Ottilien in der Nähe Freiburgs neben einer Quelle errichtet, deren Wasser – so die Geschichte der blinden Ottilie – Augenleiden lindern soll. Dass manchem Wasser heilende Kräfte zugeschrieben wurden, verdeutlichen auch Pilgerandenken, wenn das Quellwasser in eigens angefertigten Ampullen mitgenommen werden konnte. Aber auch die Religionen kennen Wasser nicht nur in positiver Hinsicht – man denke nur an die strafende Sintflut oder die Heiß- oder Kaltwasserprobe bei Gottesurteilen.

So räumt das Symposium also der Symbolik und der Imagination breiten Raum ein, von der erwähnten Rolle des Wassers in Liturgie und Theologie über Wunder und Magie (bes. Sektion 12), die mit dem Nass verbunden sind, bis hin zu Wassertieren, die gleich zwei Sektionen thematisieren (Sektion 19, 23) – man darf gespannt sein auf „le crocodile, cet inconnu“ (Sektion 23). Dass zudem praktische Fragen der Wassernutzung (Sektion 21) und des Bauens am Wasser (Sektion 34) (angesichts der steigenden Frequenz von Flutkatastrophen ebenfalls ein Thema mit starken Gegenwartsbezügen) aufgegriffen werden, rundet das Programm angemessen ab.

Natürlich darf dabei auch der profane Bereich des Badehauses nicht fehlen, mit dem sich eine ganze Sektion auseinandersetzt und unter anderem „Zwanzig gute Gründe, das Bad aufzusuchen“ nennt (Sektion 13). Das führt in gewisser Weise zum genius loci zurück, schilderte doch einst Giacomo Casanova ausgiebig seine Erlebnisse in einer Badestube der Berner Matte: „Ich spielte den Großtürken, musterte mit den Augen diesen Schwarm derber Schönheiten und warf mein Schnupftuch dem Mädchen zu, das mir am besten gefiel. Sie ging mit mir in eine Zelle, schloss die Tür von innen und entkleidete mich mit der ernstesten Miene, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne mir auch nur ins Gesicht zu sehen; hierauf zog sie mir eine baumwollene Mütze über die Haare. Sobald sie mich im Wasser sah, entkleidete sie sich ebenfalls mit der Gewandtheit einer Person, die daran gewöhnt ist, und legte sich ohne ein Wort zu sagen zu mir ins Bad. Hierauf begann sie mich überall zu reiben, ausgenommen an einer gewissen Stelle, die ich mit beiden Händen bedeckt hielt. Als ich fand, dass ich genug bearbeitet sei, forderte ich Kaffee von ihr. Sie stieg aus dem Bade, öffnete die Tür, bestellte, was ich wollte, und stieg ohne die geringste Verlegenheit wieder in das Bad.“4 Das Zitat sei hier züchtig abgebrochen, allen einschlägig Interessierten aber ist die eigenständige Lektüre des gesamten Abschnitts zu Bern zu empfehlen.

Anstelle des Abstiegs in die einstigen Berner Lustbarkeiten wollen wir hier abschließend noch dreierlei zum Programm hervorheben, das von drei Plenarvorträgen gerahmt ist: „Wasser in der mittelalterlichen Medizin und Naturkunde“ (Ortrun Riha, Leipzig), „Liquide Welten. Zum Mittelalter aus maritimer Sicht“ (Nikolas Jaspert, Heidelberg) und „Aqua – philosophische und theologische Diskussion über das Wasser (12. bis 14. Jahrhundert)“ (Ruedi Imbach, Paris).

Zum einen besteht ein Höhepunkt des Programms in der feierlichen Verleihung des Nachwuchspreises, mit dem der Mediävistenverband seit 2013 alle zwei Jahre eine herausragende interdisziplinäre Dissertation auszeichnet.

Zum zweiten zeugt die beachtliche geographische Weite der Vortragsthemen nicht nur von einer wahrhaft europäischen Dimension der gegenwärtigen Mediävistik – wenn Italien, die Iberische Halbinsel, das Baltikum und Griechenland ganz selbstverständlich neben Beiträgen zum mittelalterlichen Reich stehen. Vielmehr spiegelt sie zugleich den spürbaren Einfluss transkulturell ausgerichteter Studien, da die Welt des Islam ebenso in den Fokus gerät wie China.

Zum dritten schließlich bietet der Mediävistenverband hier auch Foren für Beiträge, die jenseits des Kernthemas angesiedelt sind, die aber zweifellos große Bedeutung für die aktuelle und zukünftige Entwicklung im mediävistischen Arbeiten besitzen: Eine Gesprächsrunde mit Meike Hensel-Grobe fokussiert mit Blick auf das kommende Symposium 2017 in Bonn auf eine „Werkstatt Mittelalterdidaktik“ und eine eigene Sektion ist den „Digital Humanities“ gewidmet (Sektion 36). Wie das Digitale Zeitalter in den Alltagsbetrieb der Humanities Einzug hält, dürfte dann wohl verbildlicht werden, wenn zumindest einer der Beiträge (wie aus wohl informierten Quellen zu erfahren) per Videokonferenz aus der Ferne zugeschaltet wird.

Ein Live-Stream zu einem Symposium über ein fluides Medium: This is water.

Das vollständige Programm des Symposiums ist über die Website des Mediävistenverband e.V. abzurufen (www.mediaevistenverband.de) bzw. über die Website des Symposiums: http://www.kas.unibe.ch/Mediaevistenverband_Symposium_2015/ Hier ist auch (bis 13. März 2015) die Anmeldung möglich.

  1. Aus einer Vielzahl von Perspektiven widmete sich dem Gegenstand die AG Wasser der „Jungen Akademie“, s. http://www.diejungeakademie.de/presse/pressemitteilungen/details/article/kann-man-wolken-hoeren-ausstellung-der-arbeitsgruppe-wasser-in-berlin/
  2. Beeindruckende Bild- und Textdokumente zum Hochwasser von 2005 versammelt die Website http://www.matte.ch/mattearchiv/hochwasser05.htm.
  3. Nachzulesen in Die Berner Chronik des Diebold Schilling (1468-1484). 2 Bde., hg. von Gustav Tobler, Bern 1897-1901, Bd. 2, S. 268-270; verfügbar unter http://biblio.unibe.ch/digibern/chronik_schilling_bd_02.pdf. Diese und viele weitere Quellen zur Berner Geschichte sind online verfügbar unter http://www.digibern.ch/.
  4. Die Erinnerungen des Giacomo Casanova. 6 Bde., vollst. übertr. von Heinrich Conrad, Berlin [u.a.] 1911, Bd. 3, S. 500f.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5229

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