Die Zeitschrift Melos bietet den Schauplatz von zahlreichen spannenden musikästhetischen Debatten der Nachkriegszeit. So auch im zweiten Heft des Jahres 1949, wo es um nichts weniger geht als den Kampf für und gegen die Neue Musik. Der Kontext: Wilhelm Furtwängler (1886-1954), langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und gefeierter Maestro in ausverkauften Konzertsälen, fällt im seinem Buch Gespräche über Musik (1948) ein harsches Urteil über die Neue Musik: Sie müsse „als biologisch minderwertig angesprochen werden.“1 Eine solche Aussage lässt Heinrich Strobel (1898-1970), Leiter der Musikabteilung des damaligen Südwestfunks (heute: SWR) und der Donaueschinger Musiktage, nicht kalt: Er veröffentlicht in Melos nicht nur Passagen aus Furtwänglers Text, sondern stellt ihnen eine detaillierte Replik gegenüber. Greifbarer kann ein Diskurs wohl nicht sein!
Wenn Furtwängler von Neuer Musik spricht, versteht er darunter atonale Musik und Zwölftonmusik.2 Wie kommt er nun dazu, diese Musik als „biologisch minderwertig“ zu verdammen? Furtwängler verteidigt die vermeintliche Vormachtstellung der tonalen Musik durch die These, dass ihr Material auf dem „Naturgesetz der Kadenz-Spannung“ beruhe.3 Bei der Zwölftonmusik hingegen werde das Material „gleichsam von außen her“ geformt und gestaltet.4 Die Organisation der Musik sei damit weniger zwingend. Furtwängler macht sich hier den Begriff des Naturgesetzes zunutze, um seiner Argumentation den Charakter der Notwendigkeit zu verleihen. Darauf entgegnet Strobel, dass doch der Mensch, und nicht die Natur, in der Kunst den Sinn stifte: „Denn von ‚innen‘ hat die Klangmaterie weder Form noch Gestalt. Beide verleiht ihr der denkende Mensch. Sonst könnte es in der Welt nicht so viele verschiedene Tonsysteme geben, die überhaupt nichts mit unserem Tonalitätbegriff zu tun haben […].“5 Strobel hätte sich hier auch bei den Worten Theodor W. Adornos bedienen können: „Die Musik kennt kein Naturrecht […].“6
Auch Furtwängler fasst die Musik als eine „Äußerung des Menschen“ auf.7 Davon ausgehend, so der Dirigent, müsse man sich folgende Frage stellen: „Wieweit entspricht dies tonale oder atonale Material der Musik den organisch-biologischen Gegebenheiten des Menschen?“8 Um dieser Frage nachzugehen, betrachtet er den Wechsel von Spannung und Entspannung, der ein Merkmal für die Musik als „Zeitkunst“ ebenso wie für das „zeitlich abrollende organische Leben“ darstelle.9 Dieser Wechsel sei in der tonalen Musik durch die Kadenzspannung gegeben; eine Spannung, die eingebettet sei in eine „tiefe und unerschütterliche Ruhe […] – wie eine Erinnerung an die Majestät Gottes.“10 Demgegenüber enthalte nicht-tonale Musik viele kleinere Spannungen, sei damit rastlos und habe etwas vom „Wesen der toten, seelisch unbeweglichen Maschine“.11 Furtwängler beschwört hier große Gegensätze herauf: Das Lebendige, das Menschliche, die Natur, (ja vielleicht sogar das Göttliche) stehen der leblosen Maschine gegenüber – repräsentiert durch tonale und atonale Musik. Strobel greift nun Furtwänglers Argumentation schon in ihrer Grundvoraussetzung an. Dieser gehe in seinen ästhetischen Überlegungen vom biologischen, nicht vom denkenden Menschen aus: „Denn wollte man den biologisch-physiologischen Menschen zum Maßstab der Kunst erheben […], dann wäre die Musik nicht mehr das Produkt einer geistigen Gestaltung, sondern einer mehr oder weniger gezügelten Triebhaftigkeit.“12
Abschließend fügt Strobel hinzu: „und wenn wir Hindemith oder Schönberg, Bartók oder Strawinsky, Honegger oder Alban Berg hörten, dann wurden wir unmittelbar in unserem ‚Lebensgefühl‘ angesprochen, intellektuell und vital, geistig und sensitiv – möge die Musik dieser Komponisten nun ‚biologisch‘ ebenso ‚minderwertig‘ sein, wie sie es bisher ‚rassisch‘ war.“13 Strobel endet seine Replik mit einem Seitenhieb gegen Furtwängler, der für seine in der Öffentlichkeit sehr präsente Rolle als Dirigent im nationalsozialistischen Deutschland vielfach kritisiert wurde und nach den Entnazifizierungsprozessen erst 1952 offiziell zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker wieder ernannt wurde. Darüber hinaus zeigt sich hier ein Argumentationsmuster, das den Diskurs um die Neue Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts – und bis heute – durchzieht: Was die einen als eine Gefahr, als etwas Unmenschliches (etwas Maschinenhaftes, Geräuschhaftes, Chaotisches) deuten, ist für andere der zeitgemäße Ausdruck des menschlichen Lebens.
1Wilhelm Furtwängler; Heinrich Strobel, „Für und gegen die neue Musik“, in: Melos 16 (1949), S. 44.
2Die in Gespräche über Musik veröffentlichten Dialoge zwischen Wilhelm Furtwängler und Walter Abendroth stammen aus dem Jahre 1937.
3Ebd., S. 42.
4Ebd., S. 42.
5Ebd., S. 42.
6Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1976, S. 39.
7Furtwängler; Strobel, „Für und gegen die neue Musik“, S. 42.
8Ebd., S. 42.
9Ebd., S. 42.
10Ebd., S. 43.
11Ebd., S. 43.
12Ebd., S. 42.
13Ebd., S. 43 f.