Jedes Fach hat seine Stereotype. Und auch wenn ich als Psychologe versucht bin darauf hinzuweisen, dass die Unterschiedlichkeit innerhalb von Gruppen im Vergleich zur Unterschiedlichkeit zwischen Gruppen in vielen Fällen größer ist als man meint, so ist es doch kaum bestreitbar, dass sich mir beim Betreten der Juristen-Mensa ein anderes Bild darbietet als beim Betreten der Philosophen-Mensa. Jedoch werden mir wohl viele PsychologInnen darin zustimmen, dass es kaum einen anderen (angestrebten) Berufsstand gibt, dessen Nennung von Anderen als derart intrusiv, als so unter die Haut gehend empfunden wird wie unserer. Der Satz “Ich bin Psychologe” scheint oft eine Art mentaler Nacktheit hervorzurufen; Menschen fühlen sich bis ins Innerste durchschaut und fangen an, ihr Verhalten doppelt und dreifach zu hinterfragen. Es hilft dabei nicht, wenn in Filmen eine gründliche psychologische Untersuchung ausreicht, um das Verhalten eines Menschen in belastenden Situationen punktgenau vorherzusagen (wie z. B. in ‘The Game’).
Psychologie ist die Lehre vom Erleben und Verhalten. Sie beschäftigt sich mit innerpsychischen Vorgängen. Dazu gehören körperliche, geistige und emotionale Prozesse. Sie untersucht Unterschiede zwischen Menschen auf jeder dieser Ebenen. Und sie erforscht die Wechselwirkungen von Individuum und Umgebung – Beziehungen, Gruppenprozesse, Mensch-Maschine-Interaktion und vieles mehr. Die zeitliche und räumliche Auflösung rangiert dabei von internationalen Langzeitstudien über die gesamte Lebensspanne bis hin zu im Labor dokumentierten biologischen Ereignissen, die nur winzige Sekundenbruchteile in Anspruch nehmen. So breitgefächert das Fach ist, so vielfältig sind auch die psychologischen Berufe. Psychologen sind in Beratungsstellen und Kliniken, in der Uni und im Labor, vor dem PC mit einem Statistikproblem, in der Schule als Fortbildungsleiter, in der Wirtschaft als Personalmanager, in der Marktforschung und als Werbefachmann, im Gerichtssaal und im Maßregelvollzug sowie als Testentwickler und -anwender tätig. Gemeinsam ist all diesen Menschen nur eins: das Studium der Psychologie.
Und durch diese akademische Ausbildung zieht sich der rote Faden der Wissenschaftlichkeit. Mit derselben rigorosen Methodik, die Physiker auf die Erforschung von Naturphänomenen anwenden, erkunden Psychologen alles Menschliche. Ob der Forschungsgegenstand die Liebe ist, das lebenslange Lernen oder der Wertewandel nach der Einführung von Smartphones – grundlegend ist die Fähigkeit, auf interessante Fragen sinnvolle Antworten zu finden. Da die Welt voller wundersamer Komplexität ist und wir Menschen vor Neugier nur so überquellen, gibt es interessante Fragen wie Sand am Meer. Bei der Entscheidung, welche Antworten sinnvoll sind und welche nicht, legen Psychologen die Kriterien an, die in der wissenschaftlichen Methode beschrieben sind. Diese Kriterien unterscheiden sich kaum von denen, die wir auch im Alltag verwenden, wenn wir etwas herausfinden wollen, mit einer Ausnahme: Im Alltag sind wir nicht nur darauf bedacht, die Welt so gut wie möglich zu verstehen, sondern wir wollen uns auch gut fühlen und unser Selbstbild bewahren. Und manchmal triumphiert unser Bedürfnis nach Selbstwert über unsere Neugier und wir behalten auch im Angesicht guter Hinweise für eine schlüssigere Alternative eine überholte, aber bequemere Sicht der Dinge bei. Wissenschaft lässt sich verstehen als der gesellschaftliche Zweig, der sich der Neugier verschrieben hat und ‘um jeden Preis’ rauskriegen will, wie die Welt tatsächlich beschaffen ist.
Als sinnvoll betrachten Wissenschaftler solche Aussagen über die Welt, die Ergebnis eines Prozesses sind, der auf den Prinzipien der Logik, der Systematik und der Falsifikation beruht. Kurze Randnotiz: Ungeachtet der Prinzipien und ihrer Bedeutung ist es allein schon eine kulturelle Errungenschaft, sich bei der Beurteilung von Aussagen den dahinterstehenden Prozess anzusehen. Der Schritt von der Frage “Wer hat das gesagt?” hin zu der Frage “Wie kommt dieser Jemand dazu, das zu sagen?” ist ein Schritt weg von Autoritätshörigkeit und hin zu einer differenzierteren Weltsicht. Dieser Perspektivwechsel hat in der Aussagepsychologie bspw. dazu geführt, dass heute nicht mehr wie früher die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit einzelner Aussagen untersucht wird. Die Worte eines Arztes oder Polizisten haben somit vor Gericht nicht von vornherein ein größeres Gewicht als die Worte eines heroinabhängigen Obdachlosen.
Logik
Logik beschäftigt sich mit Schlussfolgerungen. Beispiel:
Wenn es regnet, ist die Straße nass.
Die Straße ist nass.
Kann ich daraus schließen, dass es regnet?
Nein, denn es kann ja auch sein, dass die Kinder von nebenan mit dem Gartenschlauch spielen oder dass es gestern geschneit hat und heute wieder wärmer ist oder dass eine Kuhherde sich auf der Straße erleichtert hat. Aber was ist mit der nächsten Schlussfolgerung:
Nur dann, wenn es regnet, ist die Straße nass.
Die Straße ist nass.
Kann ich nun schließen, dass es regnet?
Ja. Ich weiß zwar immer noch, dass Straßennässe auch andere Ursachen haben kann als Regen, aber für die Beurteilung der Schlossfolgerung brauche ich ausschließlich die beiden Sätze und kein inhaltliches Hintergrundwissen zu Regen, Nässe und Straßen. Tatsächlich ist es ebendieses Hintergrundwissen, diese assoziative Fülle von Begrifflichkeiten, die eine Beschäftigung mit der formalen Logik erst notwendig macht. Hier noch ein drittes Beispiel, das die Entkoppelung vom Inhalt noch deutlicher macht:
Einige Frauen sind Männer.
Einige Männer haben Milchdrüsen.
Kann ich schlussfolgern, dass einige Frauen Milchdrüsen haben?
Die Antwort ist nein. Und der springende Punkt ist, dass wir es gewohnt sind, neben einem gewissen Maß an logischer Stimmigkeit auch unser alltägliches Hintergrundwissen bei der Beurteilung von Aussagen mit hineinspielen zu lassen. Und dieses Hintergrundwissen besteht nicht nur aus gut begründeten, empirisch prüfbaren Fakten, sondern auch aus unreflektierten dogmatischen Weltanschauungen. Dies trifft in besonderem Maße auf die Psychologie zu, weil jeder Mensch eine über das Leben gewachsene Meinung dazu hat, wie seine eigene Psyche funktioniert, welche Gesetzmäßigkeiten das soziale Miteinander ausmachen und wie andere Menschen ticken. Als Forscher darf ich jedoch nur den Teil meines Hintergrundwissens verwenden, den jeder Interessierte überprüfen kann. Somit erfordert der wissenschaftliche Erkenntnisgewinnungsprozess bei jedem gedanklichen Schritt erneut eine Überwindung meiner egozentrischen Perspektive und eine Rückbesinnung darauf, was die Realität tatsächlich hergibt und was ich daraus mit Sicherheit schließen kann.
Systematik
Systematik meint im Gegensatz zu wildem Rumstochern das gezielte Beobachten. Wenn ich bspw. mein Handy verloren habe, suche ich nicht wahllos die ganze Stadt ab, sondern überlege, wann ich es zuletzt in der Hand hatte und wo ich seitdem gewesen bin. Ich grenze die Suche stark ein, so dass ich am Ende ganz gezielt zuerst einen Freund anrufe und frage, ob er mal auf der rechten Hälfte seiner Wohnzimmercouch nachsehen kann und, falls er nichts entdeckt, das Fundbüro der Bibliothek kontaktiere. Systematisch vorzugehen bedeutet außerdem, alle Alternativerklärungen im Blick zu haben. Eine Zeugenaussage z. B. kann nicht nur entweder wahr oder gelogen sein. Sie kann auch durch Autosuggestion (sich selbst etwas einreden) oder Fremdsuggestion (z. B. Suggestivfragen) entstanden sein.
Falsifikation
Falsifikation ist dasjenige der drei Prinzipien, das einen stetigen Kontakt zur Realität gebietet. Es kann auch solche Gedankengebilde/Theorien geben, die in sich logisch und systematisch aufgebaut sind und die gleichzeitig jedoch keinerlei Bezug zu einer Wirklichkeit haben, an der mehrere Menschen teilhaben können. Solchen Luftschlössern wohnt eine Eigenschaft inne, die allen Theorien fehlt, mit denen Wissenschaftler sich beschäftigen: Sie können nicht widerlegt werden. Die Abbildung unten zeigt ein erfundenes Beispiel für eine schlechte Theorie, in der jede Kindheitserfahrung zu einer Neurose führen kann, die sich wiederum in ganz unterschiedlichen Formen manifestieren kann. Wenn alles mit allem erklärt werden kann, hat man nichts gewonnen. Gute Theorien unterstellen (“Hypothese” wörtlich) der Wirklichkeit konkrete Funktionsweisen oder Zusammenhänge. Je präziser die Vorhersagen sind, die sich aus ihr ableiten lassen, umso brauchbarer ist die Theorie, denn präzise Prognosen lassen sich leicht überprüfen.
Falsifikation bedeutet nun, dass Wissenschaftler stets auf der Suche nach Hinweisen sind, die Modelle von der Welt als falsch entlarven. Sie schauen sich eine Theorie genau an und sagen dann: “Ok. Wenn es stimmt, dass Raben schwarz sind, dann müsste ich ja, wenn ich in der Stadt einem Raben begegne, sehen können, dass er schwarz ist.” Wenn eine theoriegeleitete, gezielte Beobachtung nicht mit der Vorhersage übereinstimmt, wird die Theorie verworfen. Wenn das Vorhergesagte sich tatsächlich beobachten lässt, ist die Theorie jedoch noch immer nicht ‘wahr’. Wahr wäre die Raben-sind-schwarz-Hypothese nur dann, wenn wir alle Raben im gesamten Universum beobachten würden und sie allesamt schwarz wären. Das ist leider wenig praktikabel. Statt dessen führt die Suche nach Beweisen dafür, dass Theorien falsch sind, zu einem Prozess des Aussiebens, in dem schlechte Theorien ausgesondert werden und in dem diejenigen Modelle übrig bleiben, die zwar auch nicht ‘richtig’, aber dennoch so nah an der Realität sind wie heute möglich. Diese der Überprüfung standhaltenden Modelle beschreiben die Welt dann in der Regel so zutreffend, dass wir sie benutzen können, um uns das Leben zu erleichtern, z. B. in Form neuer Technologien oder effizienterer Heilmethoden.
Fazit
Psychologen – fernab jeder gedankenlesenden oder sonstigen übernatürlichen menschenkennenden Unternehmung – beschäftigen sich mit dem Erleben und Verhalten von Lebewesen. Neue Erkenntnisse über die psychische Welt erlangen sie auf wissenschaftliche Art und Weise, d. h. sie stellen schlüssige Vermutungen über Gesetzmäßigkeiten an und unterziehen diese dann einer Reihe von systematischen Realitäts-Checks.
Quelle: http://psych.hypotheses.org/96