Gerhard Richter: Schwarze Männer, Vorarbeit für das Märchenbuch für Erwachsene, 1959.
Im Dezember 1962 lebt Gerhard Richter, damals nennt er sich noch Gerd, seit anderthalb Jahren in Düsseldorf, wo er im dritten Semester an der Kunstakademie bei Karl Otto Götz (* 1914) studiert. Seine erste Ausstellung, gemeinsam mit dem Studienfreund Manfred Kuttner (1937-2007), ist zwei Monate zuvor zu Ende gegangen und ohne einen kommerziellen Erfolg geblieben. In dieser Situation berichtet Richter an einen Freund in Dresden von einem Projekt, das ihn schon seit einiger Zeit beschäftigt: „Wenn wir nicht in’s Kino gehen (…) u. kein Besuch kommt u. wir nirgends hingehen, stempele ich meine Männer. Habe sie wieder neu umgemodelt, anders arrangiert u. ein neues Buch daraus gemacht.“ Mit seinem Hinweis auf das neue Buch bezieht er sich zugleich auf einen früheren Zeichenblock, den er bereits in Dresden mit Bildergeschichten sogenannter „schwarzer Männer“ gefüllt hatte und der sich heute in der Sammlung des Gerhard Richter Archivs befindet. 1957 tauchen diese Figuren auch in den ersten Blättern der ELBE-Drucke auf. Fünf Jahre später greift Richter das Motiv der schwarzen Männer erneut auf. Die zuvor gezeichneten Figuren ersetzt er jetzt durch einen selbst geschnittenen Stempel. Inhaltlich wie formal sind seine Erzählungen nun umfangreicher und komplexer, sowie von ausführlichen, allerdings weitgehend unlesbaren Texten begleitet. Ein halbes Jahrhundert war dieses Buch vergessen, bevor es kürzlich wieder aufgefunden wurde.
Das Buch beginnt mit der „Entstehung des Mannes in 10 Phasen“, so kündigt es eine der wenigen identifizierbaren Textstellen an, und illustriert auf den folgenden Seiten den Dialog zwischen Individuum und anonymer Masse. Solche lesbaren Begriffe oder kurze Halbsätze bieten dem Leser immer wieder einen Einstieg in den Text an, der sich jedoch regelmäßig als eine Sackgasse erweist. Tatsächlich hat Richter den Text in einer erfundenen Pyseudoschrift abgefasst.
Die einzelnen Geschichten und Motive verfolgt und variiert Richter jeweils über mehrere Seiten, bevor er sein Interesse einem neuen Thema zuwendet. Dabei wird ihre Ausführung zunehmend vielschichtiger und erfindungsreicher. Nachdem die erste Erzählung mit dem Ableben des Protagonisten und seiner Himmelfahrt als Engel endet, illustriert Richter verschiedene Arten gewaltsamer Todesursachen. An anderer Stelle in dem Buch finden sich zwei Doppelseiten auf denen er mehrere akrobatische Konstellationen seiner schwarzen Männer mit geometrischen Formen durchspielt. Die sechseckigen Flächen druckt er dabei mit einer eingefärbten Schraubenmutter auf das Papier. Für Wolkenformationen und Erdoberflächen trägt er die schwarze Farbe mit der Fingerkuppe oder dem Handballen auf. An anderer Stelle verwendet Richter Rasierklingen, Geldstücke oder strukturierte Stoffe als Druckformen. Sein grafischer Stil zeichnet sich dabei durch einen lebendigen Kontrast zwischen dichten schwarzen Flächenformen, vor allem bei den gestempelten Figuren, und einer zarten ornamentalen Linienführung und Handschrift aus. Hier erlaubt sich Richter gelegentlich eine nahezu barocke Opulenz. Alle diese gestalterischen Elemente finden sich bereits in Richters Dresdener Illustrationen angelegt; 1962 wird er sie allerdings viel elaborierter ausführen.
Der amerikanische Zeichner und Cartoonist Saul Steinberg (1914-1999) ist für Richters eigenen Stil Vorbild und Inspiration. Dessen Illustrationen lernt er noch in den 1950er Jahren über Abbildungen in westdeutschen Zeitschriften kennen. Von Steinberg hat er sich den stilistischen Kontrast zwischen flächiger Reduktion und linearer Dekoration und vor allem die sinnbefreite ornamentale Handschrift angeeignet.
Bereits im Oktober 1962 hatte Richter die schwarzen Männer in ein angemessenes Verhältnis zu seinem malerischen Werk gerückt: „Das liegt natürlich am Rande u. hat mit Kunst kaum was zu tun; und mit den auftretenden Vergleichbarkeiten heißt’s auch Vorsicht.“ Trotzdem lässt sich eine überraschende Ähnlichkeit zu Richters späterem Umgang mit fremden Textmaterialien ausmachen. In seinen künstlerischen Buchprojekten hat er immer wieder Texte und Bilder so nebeneinander gestellt, dass sie sich gegenseitig weder beschreiben noch erklären und doch einander verstärken. Dieses Verfahren setzt er erstmals 1966 bei der Textcollage für den Katalog der galerie h (zusammen mit Sigmar Polke) ein, und es findet 2009 einen vorläufigen radikalen Höhepunkt mit dem Künstlerbuch Obrist. O’brist, bei dem Richter die Aufsätze des Kurators zu sinnentleerten Wortfragmenten zerlegt.
Als Richter 1962 an den Illustrationen arbeitet, befindet er sich in einer prekären finanziellen Situation, die ihn immer wieder zwingt, neben seiner künstlerischen Ausbildung an der Akademie, kommerzielle Aufträge und Hilfsarbeiten anzunehmen. So entsteht das Buch zwar ohne Auftrag, doch in der Hoffnung, einen Verlag zu interessieren, oder sich mit den Arbeiten zumindest für andere Illustrationsaufträge zu empfehlen. Im Dezember 1962 berichtet Richter auch von solchen, vergeblich gebliebenen Bemühungen: „Hatte sie ja schon mal eingeschickt u. wieder zurückbekommen. Jetzt versuch ich’s wieder. Hoffnung besteht nicht viel. Sicher kriege ich wieder einen sehr netten Brief u. allerlei Lob u. das übliche Bedauern, daß der finanzielle Mißerfolg voraus zu sehen wäre, weil, schlechte Erfahrungen mit ‚Märchen für Erwachsene‘ usw. usw.“
Wenn das Buch nach mehr als fünf Jahrzehnten nun auf Wunsch des Künstlers und herausgegeben vom Gerhard Richter Archiv doch noch veröffentlicht wird, dann nicht, weil aus dem damaligen Gerd der berühmte und bedeutende Gerhard Richter geworden ist. Diese frühen Zeichnungen, die uns eine so unbekannte Seite des Künstlers präsentieren, faszinieren auch heute noch durch ihren Erfindungsschatz und ihren grafischen Reichtum.
Gerd Richter. Comic Strip 1962, herausgegeben von Dietmar Elger, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2014 (Schriften des Gerhard Richter Archiv, Band 13). ISBN: 978-3-86335-508-1
38.- €
Quelle: http://gra.hypotheses.org/1161