Historische Pflichterfüllung – Ein Interview mit Gerd Krumeich

Gerd Krumeich war bis zu seiner Emeritierung 2010 Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, die Geschichte Frankreichs sowie die Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Im November 2013 wird er die Reihe der Thyssen-Vorlesungen des Orient-Instituts Istanbul und der Sabanci Universität in Istanbul mit einem Vortrag zum Ersten Weltkrieg eröffnen.

Gerd Krumeich

Gerd Krumeich

Zurzeit werden zahllose Ausstellungen, Konferenzen, Vorträge zum 100-jährigen Jubiläum des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs geplant. Stehen Sie vor einem Marathon an Auftritten, Vorträgen, Interviews?
Ja, ich stehe absolut im Jubiläums-Stress für das Jahr 2014. Aber, so befremdlich es klingt, diese Vorbereitungen spielen sich weniger in Deutschland ab als im Ausland. Ich bin sehr stark in Frankreich tätig und arbeite dort in verschiedenen Verbünden mit anderen Forschern zusammen, vor allem mit dem Centre Komde recherche de l‘Historial de la Grande Guerre in Péronne (Somme). Und mir fällt auf, dass der Erste Weltkrieg für die Deutschen zwar ein großes Kulturereignis ist, aber eigentlich nirgends und von niemandem als ein wichtiger Bestandteil der eigenen Nationalgeschichte oder gar der eigenen Identität empfunden wird. Das macht den ganz riesigen Unterschied aus zu Frankreich, zu Belgien, zu England, zu den USA, zu Australien, zu Kanada. Wir sind zwar durchaus sehr bemüht, auch in Deutschland etwas zu veranstalten, aber das Herz ist nicht dabei – dieser Krieg ist fast so weit weg wie die napoleonische Zeit.

Wird das Jubiläum in Deutschland eher als eine Art Pflichterfüllung betrieben?
„Historische Pflichterfüllung“ ist sehr treffend gesagt – ein Ereignis, das aber nicht unseres ist. Wir beschäftigen uns nicht mit diesem Ereignis, um über die eigene Vergangenheit und heutige Verfasstheit nachzudenken. Der Erste Weltkrieg soll bei uns möglichst als ein universelles, transnationales Ereignis erscheinen, möglichst weit entfernt, an der Ostfront und in Australien. Keine Spur mehr von der Aufregung, die beispielsweise in den siebziger Jahren die „Fischer-Kontroverse“ über die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914 verursachte. Es ist ja auch ein Forschungsfortschritt, dass wir uns heute um die Ostfront und um Asien kümmern. Aber wegen der Entwicklung bin ich etwas perplex, zumal ich bei Franzosen, Engländern, Belgiern und anderen fast täglich mitbekomme, wie sehr die Wahrnehmung dort differiert, der Krieg nämlich wirklich als Teil der Nationalgeschichte, als Teil der eigenen Identität verstanden wird.

Wie hat Ihre Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg begonnen?
Meine Doktorarbeit befasste sich mit der Rüstungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Damit habe ich von vornherein schärfer als andere Weltkriegshistoriker die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs im Blick gehabt. Die überwiegende Geschichtsschreibung des Krieges beginnt irgendwo im Juli 1914 – so absurd das klingt. Als Historiker komme ich eher aus der Vorkriegszeit und interessiere mich stärker als andere für den Verlauf wie dem Weg von der Agadir-Krise 1911 bis zur Rüstungspsychose von 1913/14.

Seit kurzem sind Sie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für die Konferenz „Not All Quiet on the Ottoman Fronts“, die das Orient- Institut (OI) Istanbul im April 2014 ausrichtet. Was ist Ihre Erwartung an die Tagung?
Als eine der wichtigsten Parteien im Ersten Weltkrieg ist die Türkei für mich ein sehr willkommenes Neuland. Ich bin nicht nur von meiner ganzen Ausbildung sondern auch von meiner Arbeit in den letzten Jahrzehnten her sehr stark in der Geschichte der Westfront verankert. Natürlich habe ich immer auch die Ostfront und die Dritte Welt mit im Blick gehabt, aber nicht in der Forschung und nicht vom Hauptinteresse her. Von daher eröffnen sich hier für mich neue Perspektiven. Ich sehe mich nicht als jemanden, der profunde etwas über die Türkei im Ersten Weltkrieg beitragen kann, aber doch als jemanden, der neugierig auf die Erkenntnisse der türkischen Kollegen ist. Mir ist besonders wichtig, wie und auf welche Weise überhaupt im Laufe der Zeit aus sehr verschiedenartigen militärischen Konflikten ein Weltkrieg geworden ist. Das waren ja zum Teil vollständig verschiedene Kriege, die zur großen Katastrophe ineinander geführt wurden. Die Osmanen kämpften auf der einen Seite mit den Deutschen zusammen und hatten auf der anderen Seite eine ganz eigene Front gegen die Araber, die wiederum von den Engländern unterstützt wurden. Sich mit dieser Genese auseinanderzusetzen, die verschiedenen Prozesse auseinanderzudividieren, darum geht es mir.

Sehen Sie Auswirkungen der deutsch-osmanischen Allianz im Ersten Weltkrieg auf die heutige Beziehung zwischen beiden Ländern?
Für mich als Historiker steht die Armenier-Frage im Vordergrund. Da dürfte es immer wieder neue Probleme geben. Die offizielle Position Deutschlands zu den Gräueltaten an den Armeniern ist klar. Ebenso wie die Frankreichs, wo ihre Leugnung zu Strafandrohungen führt, und die anderer westeuropäischer Länder auch. Wenn ich es recht sehe, bewegt sich in der Türkei noch relativ wenig in Richtung einer unvoreingenommen Erforschung dieser Geschehen. Das dürfte das größte Sachproblem sein, eine vernünftige Diskussion zwischen Historikern und Mandatsträgern herzustellen bezüglich des türkischen – und des deutschen – Anteils an den Verbrechen gegen die Armenier.

Unmittelbare Auswirkung des Ersten Weltkriegs war der Zusammenbruch von vier Kaiserreichen, die in der Folgezeit sehr unterschiedliche Entwicklungen erlebten.
Auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Entwicklungen, ja! Aber dann hat sich durch den Totalitarismus eine ganz ähnliche Entwicklung in weiten Teilen dieser zerstörten Welt vollzogen – trotz aller Unterschiede zwischen dem Nationalsozialismus in Deutschland und dem Kommunismus in Sowjetrussland. Nur in der Türkei läuft das insgesamt anders, soweit ich das beurteilen kann. Aber in den beiden großen Empire aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die den Krieg verloren haben und zerrissen worden sind, tobten auf der einen Seite diese irrsinnigen, blutigen nationalen und ethnischen Kämpfe und herrschten auf der anderen Seite die orgiastischen Vernichtungsphantasien und Vernichtungsrealitäten. Man muss selbstverständlich unterscheiden zwischen den Hungerkatastrophen in Sowjetrussland und der Judenverfolgung in Deutschland. Aber was identisch bleibt für die beiden großen Nationen, ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem massenhaften Leid und die Planbarkeit von millionenfachem Tod. Und das ist für mich das zentrale Vermächtnis des Ersten Weltkriegs.

Kein Krieg, weder im letzten Jahrhundert noch vorher, wurde – zu Beginn jedenfalls – von einer solchen Begeisterung getragen.
Das ist nicht wahr! Im 1870er Krieg zwischen Deutschland und Frankreich bestand am Anfang eine mindestens ebenso große Begeisterung. Wir sind den Dimensionen der Kriegsbegeisterung von 1914 inzwischen auf die Spur gekommen. Die Forschung hat aufgedeckt, dass von den alten Erzählungen, von dem „Hurra, Hurra, Hurra!“ und „Alles freut sich auf den Krieg!“ nicht viel übrig geblieben ist. Aufs Ganze gesehen, wenn man das Deutsche Reich, Frankreich und andere Länder wie Österreich-Ungarn betrachtet, ist dieser von Propagandafotos verbreitete Kriegsenthusiasmus ein sehr kurzes Aufflammen vor allem unter den großstädtischen Massen. Das hat wenig mit dem zu tun, wie der Kriegsbeginn auf dem platten Land erlebt wurde, in den kleinen Städten und Dörfern, die immerhin neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Es fällt ja heutzutage, gerade in Europa, schwer, sich einen Begriff von „Kriegsbegeisterung“ zu machen. Wie kann man sich die Begeisterung damals vorstellen?
In den 1980er Jahren ist Wolf-Rüdiger Osburg in Altersheime gegangen und hat Kriegsteilnehmer gefragt: „Wart Ihr begeistert?“ „Ja, natürlich waren wir begeistert. Das war eine Stimmung! Das war eine Stimmung wie in der Kirche.“ Und da bin ich hellhörig geworden: Eine Stimmung wie in der Kirche! „Sursum corda. – Erhebet die Herzen.“ Begeisterung hatte damals diesen Sinn: Geistigkeit. Damit kommen wir der allgemeinen Stimmung im August 1914 sehr viel näher, als wenn wir das einfach als oberflächliches Hurra-Geschrei ansehen.

War der Absturz von der Begeisterung in die Depression oder Desorientierung infolge der Grabenkriege bei Verdun und anderen Orten an der deutsch-französischen Front dann umso tiefer?
Die Kriegserfahrungen haben die Begeisterung zerstört. Übrig geblieben ist ein Bewusstsein, das Vaterland zu verteidigen, den „Wall aus Eisen und Feuer“ an der Somme zu legen. Heute ist klar nachweisbar, wie sich der Kriegsenthusiasmus im Lauf der Zeit abnutzte, in dem Maße, wie der Krieg zum Material- und Vernichtungskrieg würde. Die Leute haben nicht gewusst, wie viele Millionen Tote die großen Schlachten wirklich gekostet haben. Ich glaube nicht, dass sie dann im Krieg geblieben wären. Als Soldat oder auch als General sieht man immer nur den engeren Frontabschnitt. Es ist völlig ungeklärt, inwieweit auch den führenden Generälen während und nach den Schlachten überhaupt bewusst war, wie viel Tote diese gekostet haben. Ganz Europa war entsetzt, als 1919 vom Reichsarchiv und den französischen Militärarchiven die ersten offiziellen Berichte über die tatsächlichen Toten- und Verletztenzahlen kamen. 11 Millionen Gefallene? Das hatte man vorher nirgendwo auch nur geahnt, kein Mensch hatte während des Weltkrieges die Zahlen addiert.

Sie betreuen in Düsseldorf die Arbeitsstelle für die Herausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe. Gibt es eine Beziehung zu Ihren Forschungen über den Ersten Weltkrieg?
Ich habe ja jetzt die gesamten Kriegsbriefe Webers herausgegeben, zusammen mit M. Rainer Lepsius. Das sind mehr als 2.000 Seiten auf denen man erkennt, wie stark Weber im Krieg politisch engagiert war. Einerseits war er ziemlich nationalistisch eingestellt, jubelte über jede gewonnene Schlacht, glaubte viel zu viel von der Propaganda. Auf der anderen Seite war und blieb er der unbestechliche Intellektuelle und Kritiker, der sich auflehnte gegen die exorbitanten Annexionspläne und der auch stark kritisierte, wie sehr die Militärs in Deutschland während des Krieges die Macht übernommen hatten. Besonders spannend sind Webers Briefe in der Zeit der Beratungen des Versailler Vertrages. Schließlich war er ja als Sachverständiger für die deutsche Delegation in Versailles tätig.

Das Interview führte Thomas Schmitt (freier Journalist, Berlin).

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1433

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