3. Nachtrag zum Tag der Einheit (Gastbeitrag)

“Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Ersteinmal herzlichen Dank! Für die, die mich jedoch noch nicht kennen, möchte ich mich kurz vorstellen und meine Beziehung zum Tag der Einheit darlegen.

Ich heiße Plotin und bin um 205 n. Chr. in Lykopolis geboren. Diese Stadt heißt heute Asyut und liegt in Ägypten. Ich bin ein Philosoph, der die Philosophie Platons verfolgt. Mein Anliegen ist es, sie für meine Mitmenschen so deutlich wie möglich zum Vorschein zu bringen. Dies habe ich in meinem Hauptwerk getan, das durch meinen Schüler Porphyrios “Enneaden” also etwa Neunerpakete benannt wurde. Schon früh habe ich damit angefangen, die Schriften meines großen Vorbildes zu lesen und zu verstehen. Sie wissen selbst, dass der göttliche Platon kein einfacher Denker war, sondern uns viele schwerverständliche Lösungen hinterlassen hat. Aber ein Mann wie er hat keine inkonsistenten Schriften verfasst, wie auch manche meiner Schüler häufig behaupten, sondern er hat die beste Form gewählt, uns die schwer verständliche Wahrheit über das Sein mitzuteilen. Es stimmt ja, dass wir immer zum Nachdenken angeregt werden, wenn wir ihn lesen. Auch heute noch. Aristoteles hingegen klingt in meinen Ohren wie ein Lexikon. Er gibt vor, alles zu wissen; Dabei hat er die wichtigsten Punkte gar nicht verstanden. Schade, denn er war ein kluger Kerl.

Ich selbst habe übrigens entdeckt, dass meine näheren Vorgänger auch viele falsche Ansichten vertreten hatten. Ich möchte auch eigentlich von niemandem schlecht reden, aber dieser Albinos beispielsweise hätte seine Hausaufgaben wirklich mal richtig machen sollen.

Und nun zum Tag der Einheit. Der Tag der Einheit krönt gewissermaßen mein Lebenswerk, da er meine Philosophie ehrt. Ich werde ihnen jetzt kurz erklären, wie ich das meine und wieso ich ihnen so dankbar für die Einrichtung eines solchen Feiertages bin: Wenn wir uns umschauen, besteht unsere Welt aus jeder Menge Dingen, die zusammen eben eine Vielheit bilden. Ein Tisch, eine Primzahl, eine Gattung und ein Fuchs und alles, was uns sonst einfällt, ist Teil dieser Vielheit aus der unsere Umwelt eben besteht. Nun, das stimmt wohl. Aber mich hatte immer gewurmt, wieso man denn so einfach von der Vielheit spricht, wenn man nicht genau erklären kann, was die Einheit ist. Die Einheit ist doch die Basis für die Vielheit, oder? – Sehen sie, ich bin Anhänger der platonischen Ideenlehre. Nehmen sie das einfach einmal so hin. Denn wenn sie mit dem Einwand kommen, es gebe doch gar keine platonischen Ideen, dann werde ich sie sowieso davon überzeugen, dass es sie gibt. Also kürzen wir hier ab und nehmen an, es gebe diese Ideen. Sie haben keine räumliche Ausdehnung und deshalb können wir sie nicht sehen. Sie sind dennoch Vorbilder für alles, was wir sehen. Sie kennen aus dem Philosophieunterricht in der Schule das Beispiel mit dem Kreis. Denn egal wie genau man einen Kreis malen möchte, wir wissen, dass die Idee des Kreises, die man zum Vorbild hat, perfekter ist. Deshalb verlagere ich meine Suche nach der Einheit auf diese perfektere Ebene. Nun weiter: Alle Ideen zusammengenommen nenne ich Geist, im Griechischen heißt das “nous” (νοῦς). Ich hätte es auch anders nennen können, aber so eine Prise Mystizismus zieht eben auch die Esoteriker an. Aber zurück zur Einheit: Das Eine übersteigt auch diesen Geist. Denn die Einheit ist auch die Voraussetzung für die Ideen selbst. Eigentlich einleuchtend, oder? Denn ohne Einheit keine einzige Idee. Und jetzt kommt der springende Punkt, der mich anfangs in Verlegenheit gebracht hatte, für den ich aber lange Jahre argumentiert habe und für den ich auch Platons Dialog Parmenides zum Zeugen habe. Diese Einheit, die man sucht, würde bereits zwei Dinge umfassen, wenn wir sie auf dem Level der Ideen ansetzen würden. Denn sie wäre sowohl Einheit als auch Sein. Meistens gucken meine Studenten skeptisch, wenn ich das sage. Aber sie haben nie ein Argument hervorgebracht, das meine Ansicht angreifen könnte. Jedenfalls: Wenn man von Einheit sprechen will, darf man nicht gleichzeitig von Sein sprechen, da man ja dann eine Zweiheit hätte und unser Problem nicht gelöst werden würde. Wir suchen ja die reine Einheit. Ich nenne diese absolute Einheit deshalb über-seiend, weil sie die Voraussetzung für die platonischen Ideen ist, aber selbst keine Idee ist. Platon hat das eben auch so gemeint. Er schreibt ja in dem Dialog Politeia in 509b, dem dicken Wälzer, es sei “jenseits des Seins” (επέκεινα της ουσίας).

Nun, wenn es sie interessiert, Dominic O’Meara, der ein guter Freund hätte werden können, schreibt ausführlich etwas zu meiner Ansicht in seinem Buch Plotinus: An Introduction to the Enneads (D. O’Meara, Plotinus: An Introduction to the Enneads (Oxford: 1993), Anm. d. Red.). Ich habe schließlich viele Generationen von Philosophen inspiriert. Sogar Marcilio Ficino, der Renaissance-Philosoph, hat meine Ideen verwertet und manche behaupten, auch Hegel hätte mich rezipiert.

Nun ja, dies ist also der Hintergrund für den Tag der Einheit, wie mir scheint, und ich bin für diese Benennung und für diese Ehrung der Philosophie überaus dankbar. Ich wünsche ihnen deshalb einen entspannten Tag der Muße und des Nachdenkens.

Herzliche Grüße,

Ihr Plotin”

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/48

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2. Philosophiegeschichtler vs. Systematiker

Eines schönen morgens wachen sie auf, sehen, dass sie einen Master der Philosophie in Urkundenform an der Wohnzimmerwand hängen haben (wahlweise auch einen Magister Artium) und beschließen zu promovieren, weil sie Idealist sind und damit Karriere, Wohlstand, Urlaub, Ansehen und Freizeit ebenfalls an den Nagel hängen wollen. Wenn sie diesen schönen Gedanken gefasst haben und ihren Kommilitonen, Freunden und Kollegen davon erzählen wollen, noch bevor sich ihr Thema richtig vor ihrem inneren Auge heraus kristallisiert hat, werden sie schon bald auf einem der zahlreichen Flure zwischen den Bibliotheken der Fakultät mit der alles entscheidenden Frage konfrontiert werden: „Guten Tag, arbeiten sie philosophiegeschichtlich oder systematisch?“

„Hallo“, ich z.B. arbeite philosophiegeschichtlich. Denn ich erarbeite die Position eines Autors aus dem 11. Jh. zu ethischen Dingen. In den Augen der fragenden Person bewegt sich meine Doktorarbeit also wahrscheinlich irgendwo zwischen dem Thema „Die Vier-Elemente-Lehre“ und „Unser geozentrisches Weltbild“. Philosophiegeschichtler wie mich interessiert, was jemand über ein Thema genau gesagt und gedacht hat. Meine eigene Meinung zu dem Thema rückt dabei in den Hintergrund. Auf der anderen Seite stehen die Systematiker. Sie interessiert ein Sachverhalt und sie möchten selbst eine Position zu diesem Sachverhalt erarbeiten. Sie bearbeiten so spannende Themen wie „Was ist Neuro-Enhancement?“

Nun, ich glaube, es gibt ein Paradebeispiel für philosophiegeschichtliche Forschungsfragen (damit wir mal in die Materie einsteigen. Vgl. für das Folgende Brüllmann (2011): Die Theorie des Guten in Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“, S. 20ff., der diese gut zusammenfasst)), damit sie sehen, womit sich solche Leute in etwa beschäftigen.

Also: Etwa 2335 Jahre nach Aristoteles’ Tod schaut sich ein schottischer Autor namens W. F. R. Hardie einige Stellen der Nikomachischen Ethik, der wichtigsten ethischen Schrift des Aristoteles, an. Ihm fällt auf, dass Aristoteles die Glückseligkeit des Menschen für das höchste Gut hält und dafür drei Hauptargumente liefert: 1) Die Glückseligkeit wird immer für sich selbst gewollt, denn sie ist nie Mittel für ein anderes noch höheres Ziel, 2) die Glückseligkeit ist selbstgenügsam, denn wenn man sie hat, braucht man nichts anderes mehr. Und 3) ihr kann gar nichts hinzugefügt werden, da sie ja schon das beste ist, was wir erreichen können. William Francis Ross Hardie hat sich nun Gedanken über diese drei Kriterien des Aristoteles gemacht, einige weitere Textstellen angeschaut und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie zwei Interpretationen zulassen. In seinem daraufhin entstandenen Artikel „The Final Good in Aristotle’s Ethics“ von 1965 behauptet er nämlich, man könne entweder zu dem Schluss kommen, Glückseligkeit sei für Aristoteles die Ansammlung von Gütern wie beispielsweise Klugheit, Gesundheit, Vermögen etc.; oder aber Glückseligkeit sei etwas, das nicht aus den verschiedenen Einzelgütern bestehe, sondern etwas anderes neben diesen, zum Beispiel die theoretische Betätigung. Die erste Interpretation wurde von ihm „inklusive“ Interpretation genannt, die zweite „dominante“, da das außenstehende Gut Glückseligkeit alle anderen Güter übertrifft, diese quasi „sticht“, um einmal ins Quartett-Jargon auszuweichen. Der Unterschied lässt sich auch so formulieren: Verfolgen wir Einzelziele, wenn wir glückselig sein wollen? Wollen wir also klug, gesund, vermögend etc. werden, was dann zusammen eben die Glückseligkeit ergibt? Oder verfolgen wir die Glückseligkeit als etwas eigenständiges, das nicht aus diesen Einzeldingen besteht? Wie gesagt, es scheint, als gäbe es für beide Ansichten in Aristoteles’ Schrift Argumente. Um diese Interpretationsweisen haben sich dann in den folgenden Jahrzehnten Legionen von Artikeln gesammelt. Mit immer tieferen Recherchen aus dem aristotelischen Werk versuchten sie, für die eine, die andere oder eine Kombination aus beiden Ansichten oder eine ganz neue Ansicht zu argumentieren.

„Laaangweilig! Sie sind eben kein Systematiker und machen eigentlich auch nichts, als Steuergelder zu verschwenden und mit ihren Ausdrucken die Umwelt zu verschmutzen!“, wäre eine mögliche Antwort, die auch ihnen gerade auf der Zunge liegen könnte. Zum Glück ist das hier aber kein Dialog. Wenn Juristen Gesetzestexte auslegen und sich um die Interpretationsweisen streiten, indem sie für Meinungen von Vorgängern argumentieren, sie verstärken oder negieren, stößt dies hingegen auf Verständnis. „Weil Jura unseren Alltag ja beeinflusst“ wie beispielsweise § 26 Landesreisekostengesetz NRW: “Wenn ein Beamter während der Dienstreise stirbt, so ist die Dienstreise beendet.” Eine Beschäftigung hiermit ist sicher verständlicher und lebensnaher als die Beschäftigung mit der menschlichen Glückseligkeit nach Aristoteles.

Nein, aber philosophiegeschichtliche Positionen sauber herauszuarbeiten, bereichert nicht nur die eigene Meinungsbildung zu so wichtigen Themen wie “Was ist eigentlich ein gutes Leben?” und liefert interessanteste argumentative Wendungen, sondern öffnet auch die Augen bezüglich aktueller Diskussionen. In einem der nächsten Einträge werde ich deshalb auf mein Lieblingsthema, die aktuelle Glücksforschung und ihre Glücksdefinitionen eingehen. Hier ein Vorgeschmack auf die Standardfloskeln, die Wissenschaftler dort nach langjähriger Beschäftigung mit dem Thema Glück erarbeitet haben bzw. aus meinem Poesiealbum der Klasse 7c stammen könnten: “Glück ist, nicht immer alles gleich und sofort zu wollen, sondern sogar weniger zu wollen. Das heißt, seine Impulse zu kontrollieren und seinen Trieben nicht gleich nachzugeben. Die wahre Glückseligkeit liegt dann in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen.” (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/39739, abgerufen am 02.03.13)

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/35

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