Mögliche Forschungsziele einer reaktivierten Nachkriegskinderstudie

Im letzten Blogartikel wurden die Ziele der ursprünglichen Nachkriegskinder-Studie dargestellt. Durch eine  Reaktivierung bzw. Revitalisierung, also eine erneute Untersuchung der gleichen Stichprobe, lassen sich Forschungsfragen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen untersuchen. Das übergreifende Forschungsziel einer neuen Studie könnte die Identifikation von Langzeiteffekten der Kriegs- und Nachkriegskindheit auf gesundheitliche und psychologische Aspekte im höheren Alter sein. Folgende Themenbereiche und Forschungsfragen könnten für eine Nachfolgestudie von Interesse sein:

1. Seelische Gesundheit im Alter und klinische Störungen

Insbesondere die Genese, Ätiologie und (neurobiologischen) Folgen von post-traumatischen Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen, deren Auftretenswahrscheinlichkeit durch traumatischer Ereignisse stark erhöht sind, lassen sich in der Stichprobe der Nachkriegskinder untersuchen.

  • Welche protektiven Faktoren, Bewältigungsformen und Risiken liegen vor?
  • Gibt es Langzeitwirkungen auf Hirnstrukturen, Hirnfunktionen und neuropsychologische Leistungen?

2. Körperliche Gesundheit, Gesundheits- und Ernährungsverhalten

Gerade für die Gesundheitsforschung gibt es interessante Fragen, die mit einer revitalisierten Studie beantwortet werden könnten:

  • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen traumatischen Erfahrungen und Belastungen (in der Kindheit) und Herzkrankheiten im Alter?
  • Wie entwickeln sich frühe Krankheiten aus der Kindheit auf die Gesundheit im Alter aus?
  • Wirkt sich die Kriegserfahrung langfristig auf das Ernährungsverhalten aus?
  • Wie ist das Gesundheitsverhalten der Nachkriegskinder durch die Kriegserfahrung im Bezug auf die Selbstfürsorge geprägt?

3. Resilienz, Plastizität und Hardiness

Sowohl für die seelische als auch für die körperliche Gesundheit werden in der Forschung verschiedene Resilienzfaktoren diskutiert, die einen Schutz vor aversiven Reizen bieten können. Diese können sowohl in der Person selber liegen, wie Persönlichkeitseigenschaften oder körperliche Merkmale, oder in ihrer Umwelt vorhanden sein, wie z. B. vertrauensvolle Beziehungen und Unterstützung.

Durch die Plastizität des menschlichen Körpers und Gehirns, kann der Mensch sich unterschiedliche Bedingungen anpassen. Hardiness beschreibt einen Persönlichkeitsfaktor, der den Umgang mit Stressoren beschreibt. Verschiedene Menschen unterscheiden sich in der Ausprägung ihrer verfügbaren Resilienzfaktoren, Plastizität und Ausprägung im Bezug auf Hardiness.

Die Untersuchung dieser drei Forschungsthemen im Kontext der Lebensspanne erlaubt die Korrelation von Resilienz- und Risikofaktoren in der Jugend mit dem seelischen und körperlichen Gesundheitsstatus im Alter. Auch den Zusammenhang mit erfolgreichen Altern, wie z.B. der Ausbildung von sozialen Beziehungen und Freundschaften, lässt sich untersuchen.

4. Gen-Umwelt-Interaktionen, genetische Marker und Epigenetik

Aus biologischer und psychologischer Sicht können Interaktionen von Genen und Umwelt bei den Nachkriegskindern untersucht werden.

  • Lassen sich genetische Marker für Erkrankungen oder Vulnerabilitäten im Alter finden?
  • Führt die kindliche Erfahrung von Krieg zu epigenetischen Veränderungen?

5. Transgenerationale Übertragung

Auch die transgenerationale Weitergabe von Traumata durch bestimmte Beziehungsmuster zwischen Eltern und Kind können untersucht werden.

  • Liegen die Gründe hierfür in der bewussten Erziehung oder eher in unbewusst vorgelebten Normen, Bewältigungsmuster und Verhaltensweisen?

Gerade unter Aspekten von Generationalität und Generativität ist die Untersuchung von transgenerationalen Phänomenen interessant.

6. Bildungserwerb und berufliche Entwicklung

Eine Vielzahl von Fragen zum Bildungserwerbung und zur beruflichen Entwicklung lassen sich mit einer Nachfolgestudie untersuchen und Thesen anhand von Originaldaten belegt werden.

  • Wie wirken sich frühe Erfahrungen auf die Gestaltung der Karriere aus?
  • Welche Faktoren bestimmen Schulerfolg?
  • Wie wirkt sich Schulerfolg auf den Berufserfolg aus?
  • Wie wurde der Berufsbeginn gestaltet?
  • Welcher Beruf wurde ausgewählt und wie wurde die Wahl begründet?
  • Wie waren die beruflichen Erwartungen und Aussichten? Wie wird die Berufslaufbahn rückblickend bewertet?
  • Wie ist der Zusammenhang zwischen schulischer Laufbahn, späterer (Aus-)Bildungsbiografie und der Entwicklung bildungsbezogener Aktivitäten (Bildungsstil) im späten Erwachsenenalter?
  • Wie werden diese Stile an nachfolgende Generationen weitergegeben?
  • Welche Rolle spielt der sozioökomische Status beim Berufserfolg als Startbedingung?
  • Welche Rolle spielt der sozioökomische Status für erfolgreiches Altern?
  • Gibt es Existenz- ängste bei den gealterten Kriegskindern?

7. Persönlichkeitsmerkmale & Einstellungen

Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen können wichtige Resilienz- oder Risikofaktoren bei der Entwicklung über die Lebensspanne sein. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach Kontrollüberzeugungen bei Kriegskindern und Nachkriegskindern von Bedeutung. Ich-syntone Verhaltensweisen werden diesen Kohorten vermehrt zugesprochen. Darunter fallen Sparsamkeit, Suche nach Wärme und Geborgenheit, Autonomie und Unabhängigkeit, fehlende Rücksichtnahme auf sich selbst und die eigene Gesundheit, Aufbruchsbereitschaft und Emotionsunterdrückung.
Fragen der persönlichen Emotionsverarbeitung und der Entwicklung von emotionaler Intelligenz könnten untersucht werden. Auch persönliche Einstellungen, insbesondere politische Einstellungen und ihre Entwicklung, sind von Forschungsinteresse.

8. Kognitive Leistungsfähigkeit und Intelligenz

Wie entwickelt sich intellektuelle Leistungsfähigkeit über die Lebensspanne und in welchem Zusammenhang stehen frühe kognitive Leistungen und kognitive Alterungsprozesse, wie Demenzen?

9. Lebenszufriedenheit

Im Kontext des Forschungsgebiets des erfolgreichen Alterns lautet eine Frage:

  • Wie ist der Zusammenhang zwischen damaligen Belastungen und der heutigen Lebenszufriedenheit?
  • Wie bewerten die damaligen Probanden heute ihre Lebenszufriedenheit?

10. Individuelle Lebensverläufe & Einzelfallanalysen

Bei diesem Thema sind Forschungsfragen von Interesse, die am einzelnen Individuum untersucht werden können, wie beispielsweise Fragen zur Zielbildung und Sinnstiftung oder Familienforschung.

  • Welche Rolle spielte Vaterlosigkeit für die Entwicklung der Nachkriegskinder?
  • Wie konnten „überforderte“ Mütter mit der Situation umgehen und wie wirkt sich dies auf die Kinder aus?

Auch explorative Fragen oder Fragen der Entwicklung über die Lebensspanne gehören hierzu.

Insgesamt wird deutlich, dass eine Vielzahl von Forschungsfragen anhand einer revitalisierten Studie beantwortet oder zumindest bestehende Thesen belegt werden können. Die hier vorgenommen Auswahl ist dabei nicht vollständig, da  beispielsweise geisteswissenschaftliche Aspekte, wie z. B. die medizinhistorischen Untersuchung von Forschungsmethoden in den 50er Jahren, noch nicht erwähnt wurden.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/94

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Soziologischer Wochenrückblick für den Zeitraum 16. – 30. Juni 2013

Unser neuer Call4Papers zum Thema “Krisen und Umbrüche. Wie wandeln sich Gesellschaften?” hat begonnen und ihr seid herzlich dazu aufgerufen, eure Texte einzusenden. Zudem findet ihr neue Buchrezensionen, eine Tagungsankündigung, sowie Konferenzberichte und neue Artikel. Zum Beispiel zum Thema Intersexualität und … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5183

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Vier Schätze des Studierzimmers (II)

Während archäologische Befunde den Gebrauch von tuscheähnlichen Substanzen bereits für das Neolithikum belegen, schrieb man die Erfindung der Tusche traditionell dem Kalligraphen Wei Dan 韋誕 (179-253) zu[1]. Das später in der Bedeutung “Tusche” gebrauchte Schriftzeichen mo 墨 bezeichnete ursprünglich eine Methode der Bestrafung, bei der das Gesicht geschwärzt beziehungsweise tätowiert wurde[2].

Zumindest ab der Han- (206. v. – 220 n. Chr.) und bis in die Song-Zeit (960-1279) war der Ruß, den man beim Verbrennen von Kiefernholz gewann, der zentrale Bestandteil chinesischer Tusche. Erst danach wurde auch Lampenruß – der beim Verbrennen tierischer, pflanzlicher und mineralischer Öle entstand – für die Tuscheproduktion verwendet.[3]. Wie Song Yingxing 宋應星 (1587-1666?) in seiner in der ausgehenden Ming-Zeit (17. Jahrhundert) entstandenen technisch-naturkundlichen Enzyklopädie Tiangong kaiwu 天工開物 (“Die Nutzung der natürlichen Vorkommen”) schrieb, wurden damals 90% der Tusche aus Kiefernruß und nur 10 % aus Lampenruß gewonnen[4]

Für die Veredelung der Tusche stand ein breites Repertoire erlesener Ingredienzen zur Verfügung:

Der Abrundung von Farbe und Glanz der Tusche diente die Zugabe von feinst zerstoßenen Perlen, die Beimengung von Schweine- und Karpfengalle sowie von Extrakten aus Galläpfeln, Granatapfelschalen, Päonienrinde usw. Das Rosinchen für den Kenner war die olfaktorische Aufbesserung mit Hilfe von Kampfer, pulverisierten Nelken, Sandelholzaroma, Moschus, etc.[5]

Wie wichtig die Herstellung der Tusche war, spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass vor allem ab der Tang-Zeit (618-906) eine ganze Reihe von bedeutenden Produzenten namentlich bekannt sind.[6]

Die Masse, die nach längerem Bearbeiten in einem Mörser entstand, wurde schließlich in Formen gepreßt und getrocknet, so dass feste Tuschestücke entstanden. Vor dem Schreiben mussten diese Tuschestücke – im Laufe der Geschichte zunächst Kugeln oder Halbkugeln, später dann rechteckig – in einem Reibstein unter Hinzufügen von angerieben werden. [7]

  1. Tsien Tsuen-hsuin: Paper and Printing (= Joseph Needham (Hg.): Science and Civilisation in China. Volume 5: Chemistry and Chemical Technology, Part 1; Cambridge 1985) 237 f.
  2. Vgl. ebd., 238.
  3. Vgl. Klaus Flessel: “Die Erfindung des Buchdrucks in China sowie einige Anmerkungen zu seiner frühen Nutzung” In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 57 (2003) 267 f.
  4. Tsien: Paper and Printing, 241. Zu Song vgl. Dagmar Schäfer: “Der Außenstehende. Song Yingxing 宋應星 (1587-1666?). In: Heiner Roetz (Hg.): Kritik im alten und modernen China (Jahrbuch der Deutschen Vereinigung für Chinastudien 2, Wiesbaden 2006) 165-178.
  5. Flessel, “Erfindung des Buchdrucks”., 268. Vgl. dazu auch Tsien: Paper and Printing, 246 sowie Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 219 “Pflanzliche Beimengungen der Tusche (zusammengestellt nach den Erwähnungen im Mopu fashi)
  6. Vgl. dazu Tsien: Paper and Printing, 245 f.
  7. Vgl. Roland G. Knapp (Text), Michael Freeman (Fotos): Things Chinese. Antiques – Crafts – Collectibles (Tokyo/Rutland/Singapore, 2011) 41 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/523

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Vier Schätze des Studierzimmers (I)

Entsprechend der großen Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit maßen die Gelehrten-Beamten im traditionellen China den zum Schreiben benötigten Utensilien große Bedeutung bei. Diese Bedeutung von Schriftlichkeit und Schriftkunst spiegelt sich nicht zuletzt in dem für die im Frühjahr 2004 an der Pariser Bibliothèque Nationale gezeigte Ausstellung gewählten Titel “Chine: l’Empire du trait” wider. In diesem Sinne würdigt “De rebus sinicis” die kulturgeschichtlichen Bedeutung dieser Utensilien im Rahmen einer Serie, die mit der Erläuterung des Begriffs der “Vier Schätze” und mit einem Überblick über frühe Abhandlungen darüber beginnt.

Papier (zhi 紙), (Schreib-)Pinsel (bi 筆 bzw. maobi 毛筆), Stangentusche (mo 墨) und Reibstein (yan 硯) wurden gemeinhin als die “vier Schätze des Studierzimmers” (wenfang sibao 文房四寶) bezeichnet.[1]

“Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß die Schreibutensilien des Gelehrten nicht nur zu höchster Verfeinerung entwickelt wurden, sondern sich auch eine Kennerschaft und Liebhaberei um das Schreibgerät herausbildete, wie sie sich in diesem Maße in keiner anderen der uns bekannten Kulturen finden.”[2]

Die intensive Beschäftigung mit diesen “vier Schätzen” führte schließlich auch zu deren ausführlicher Beschreibung.

Vier Schätze

“Vier Schätze” | Foto: Monika Lehner

Der aus der heutigen Provinz Sichuan stammende Autor Su Yijian 蘇易簡 verfasste im 10. Jahrhundert (das Nachwort ist auf das Jahr 986 datiert) das Wenfang sipu 文房四譜 (d. i. “Abhandlung über die Vier Schätze des Studierzimmers”; in einigen Bibliographien auch mit dem Titel Wenfang sibao pu 文房四寶 gelistet). Su präsentierte darin Informationen über jeden dieser Vier Schätze, unter anderem zur Herstellung sowie zu “historischen Begebenheiten”[3].

Später folgte das von Lin Hong 林洪 verfasste Wenfang tuzan 文房圖贊 (“Illustrierte Huldigungen zur Studierstube”, Vorwort aus dem Jahr 1237). Auch wurden einzelnen dieser Vier Schätze ähnliche Abhandlungen gewidmet, so widmete sich Gao Sisun 高似孫 im 13. Jahrhundert den Tuschereibsteinen (Yan jian 硯箋, 1223)[4].

Weitere Autoren beschrieben die Herstellung von Tusche beziehungsweise den qualitativen Aspekten. Von besonderer Bedeutung ist beispielsweise das vermutlich im späten 11. Jahrhundert 李孝美 verfasste Mopu fashi 墨譜法式, das detaillierte Angaben zur den bei der Herstellung von Tusche erforderlichen Arbeitsschritten enthält.[5]

  1. Vgl. u.a. die Bemerkungen zu “The Scholar’s Desk” in The British Museum/Online Tours: “Mountains and Water: Chinese landscape painting”. Die “vier Schätze” durften auch bei der von Juni bis Oktober 2012 an der Universitätsbibliothek Marburg gezeigten Ausstellung “Kulturgeschichte des chinesischen Buches” nicht fehlen.
  2. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 2. Aufl., 1999) 84 f.
  3. Vgl. dazu Martina Siebert: Pulu 譜錄. “Abhandlungen und Auflistungen” zu materieller Kultur und Naturkunde im traditionellen China (Opera Sinologica 17; Wiesbaden 2006) 218 sowie chinaknowledge.de: “Wenfang sipu. Notes on the Four [Tools] of the Study”
  4. Vgl. dazu Siebert: Pulu, 218 (Yan jian) und 233 (Wenfang tuzan).
  5. Vgl. dazu ebd., 183, zur Übersetzung des Titels vgl. ebd., 139 Anm. 246. Zum Mopu fashi vgl. auch Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 220 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/497

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Kinder Medien Bildung

Vom 9. bis 11. November findet an der Hochschule Fulda die Jahrestagung des Forums “InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung” statt. Das diesjährige Thema lautet: “Digitalisierte Gesellschaft – Wege und Irrwege”. Während am Samstag und Sonntag stärker Workshops und Vorträge für ein Fachpublikum stattfinden ist der Freitag sehr offen gehalten: Im Fulda Transfer gibt es am 9.11.2012 von 18 bis 20 Uhr zwei Vorträge zu Bereichen der KinderMedienBildung. Zuerst spricht Prof. Dr. Manfred Nagl (Hochschule der Medien Stuttgart) über die Geschichte der Kindermedien. Es [...]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/477

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Bildung II.: Der Bildungserfolg, das Schulsystem und die Lehrer

Von Jens Röcher Der zweite Teil der Reihe Probleme im Bildungssystem beschäftigt sich mit dem System Schule an sich und den Lehrern und Lehrerinnen. Ich betrachte in diesem Beitrag den Einfluss von Lehrern und des Schulsystems auf den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Denn dieser Übergang ist im deutschen Schulsystem von grundlegender Bedeutung und eine Entscheidung an dieser Schwelle kann später nur mit größter Mühe, wenn überhaupt geändert werden. Zumindest was den Weg in eine höhere Schulform angeht. Einfacher und schneller [...]

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/2325

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Bildung I.: Bildung und Migrationshintergrund

Von Jens Röcher   Dies ist der erste Teil einer Serie, die sich mit den Problemen des Bildungssystems auseinandersetzt. Darin geht es um die Gruppe von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund, die immernoch eine Benachteiligung erfahren. Zunächst einmal zur Begriffsklärung. Was ist eigentlich ein Migrationshintergrund und warum benutzt man nicht einfach den Begriff Migranten? Das liegt einfach daran, dass wir es nicht mehr nur mit Menschen zu tun haben, die außerhalb von Deutschland geboren sind und dann einwanderten. Vielmehr sind inzwischen die Kinder und Enkel der [...]

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/2313

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Früher lag PISA noch in Italien – Bildungsorganisation in Hamburg

von Gunnar B. Zimmermann -

Nicht erst in der jüngsten Vergangenheit haben Fragen der Organisation schulischer Bildung und Ausbildung im Hamburger Stadtstaat das Potential zu politischen wie gesellschaftlichen Kontroversen gehabt. Wie der folgende Blick in der Vergangenheit zeigt, gehört das diesbezügliche Ringen vielmehr zum Traditionsbestand der Hansestadt.

 

Antwort auf Industrialisierung und Urbanisierung – Das Gewerbeschulwesen

Als die Patriotische Gesellschaft sich in den 1860er Jahren erfolgreich für die Schaffung eines staatlichen Gewerbeschulwesens in Hamburg einsetzte, lag die Notwendigkeit dieses Zieles klar auf der Hand: Im Zuge der Industrialisierung und des stetigen Anwachsens der Stadt waren zahlreiche neue Branchen und Berufe entstanden, die jenseits der akademischen (Funktions-)Eliten auf gut ausgebildete Menschen angewiesen waren. In der neugeschaffenen Schulform verbanden sich emanzipatorische Aufstiegs- und Bildungs­chancen für bislang unterprivilegierte Teile der Gesellschaft mit hinreichend ökonomisch orientierter Substanz für die bislang führenden Kreise der Stadt. So basierte die Entstehung des Gewerbeschulwesens auf einem soliden gesellschaftlichen Konsens.

 

Weimar als Eldorado der schulreformerischen Modellversuche

Die pluralistische Offenheit der Weimarer Jahre führte in Hamburg zu einer ganzen Reihe von schulreformerischen Modellversuchen, von denen die ehemalige Lichtwarkschule sicherlich das heute den meisten Hamburgern noch geläufige Beispiel ist (das Ehepaar Schmidt durchlief hier seine schulische Ausbildung). Ein neuer inhaltlicher Zuschnitt des Lehrplans, eine veränderte Ausrichtung der pädagogischen Rolle des Lehrers im Verhältnis zu den Schülern und auch die Einführung von musisch orientierten Fächern sollte den als autoritär empfundenen pädagogischen Mief der wilhelminischen Jahre vertreiben. Ziel war es, die Schüler in einem emanzipatorischen Klima zu gleichwertigen Mitgliedern einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu erziehen. Dieser aufklärerische Impetus lag auch den 1919 erfolgten Gründungen von Universität und Volkshochschule zugrunde, die im Rahmen der Erwachsenenbildung die Partizipation breiterer Bevölkerungskreise an Bildung und Wissenschaft ermöglichen sollten (hierzu und zum Folgenden vgl. Milberg: Schulpolitik 1970).

Insgesamt blieb der reformerische Flügel in der hamburgischen Lehrerschaft aber in der Minderheit. Die Lehranstalten klassischen Zuschnitts bildeten nach wie vor das Gros der Bildungseinrichtungen der Stadt. Ein Blick in die Hamburger Lehrerzeitung (dem ab 1922 erscheinenden Organ der hamburgischen Lehrerschaft) zeigt, mit welcher kontroversen Dynamik über die Entwicklung der Modellschulen, und damit indirekt stets auch über den Bestand der klassischen Organisation von Schule überhaupt, diskutiert wurde.

Vor allem die akademisch gebildeten, konservativ ausgerichteten Oberlehrer (so hießen bis Ende der Weimarer Republik die Lehrkräfte an den höheren Schulen) konnten sich mit Teilen der Reformanstrengungen nicht anfreunden. Sie bemühten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um den Erhalt traditioneller Bildungspatente, was in der Auseinandersetzung um den Bestand des humanistischen Gymnasiums mit seiner altsprachlichen Ausrichtung (Griechisch und Latein) einen auch für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Ausdruck fand. Doch für einen offenen Widerstand waren den Oberlehrern die Hände gebunden. Die Neuausrichtung von Schule und Bildung war politisch gewollt und wurde durch die sozialdemokratisch dominierten Senate der Weimarer Jahre und deren Schulsenatoren gestützt. Breite Unterstützung bekamen die Reformgegner hingegen aus Kreisen der städtischen Bildungs- und Funktionselite, die sich um den Verlust des privilegierten Zugangs zu höherer Bildung für den eigenen Nachwuchs und somit auch um den Zugang zu Spitzen­positionen im Machtgefüge des Stadtstaates sorgte.

Hamburger Schule im NS-Staat

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war es in Hamburg ab 1933 erst einmal mit der offenen Diskussion über die (Aus-)Bildungsorganisation vorbei. Zwar führten die Apologeten des NS-Systems ständig das Wohl der „Volksgemeinschaft“ als Motiv ihres Handelns an, doch hatte ihre Politik auch im Bildungsbereich wenig umwälzenden und keinerlei emanzipatorischen Charakter.

Die demokratische Verfasstheit der Schulleitung (ab 1919 hatten die Lehrerkollegien ihre Schulleiter wählen dürfen) und die Elternmitbestimmung sowie die Reformschulprojekte wurden zugunsten einer straffen, am Führerprinzip orientierten Schulorganisation kassiert (Schmidt: Schulen 2010, S. 31 f.). Die Gleichschaltung aller Lehrer im Nationalsozialistischen Lehrerbund sorgte schnell dafür, dass für abweichende Vorstellungen kein öffentlicher Raum mehr vorhanden war (Schmidt: Schulen 2010, S. 153 ff.). Entscheidungen zur Form der Bildungsorganisation oblagen nun nur noch der mit Nationalsozialisten besetzten Schulbehörde .

Doch wie in vielen anderen politischen Ressorts waren die Nationalsozialisten auch im Bereich der Bildung mit keinem ausgereiften Plan angetreten. Seit ihrer Entstehung hatten sie sich stets in Abgrenzung zu anderen definiert (gegen Demokratie, gegen Pluralismus, gegen den Versailler Vertrag usw.) und hatten darüber die Entwicklung konkreter Pläne vernachlässigt. Auch wenn unter den Nationalsozialisten die Rolle der Volksschulen gestärkt wurde, bedeutete das Jahr 1933 in der äußeren Form der Schulorganisation letztlich eine Rückkehr zum Status quo der wilhelminischen Zeit. Vorhandene Pläne zur Umgestaltung des Bildungs- und Schulsystems wurden in ihrer Entwicklung und Umsetzung durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs abgewürgt. Ein trügerischer Pluralismus und hoher Aktivismus herrschte in den Friedensjahren der NS-Herrschaft lediglich in der Frage, wie die nationalsozialistische Weltanschauung in die Lehrpläne zu integrieren sei, wobei aber kein Zweifel daran gelassen wurde, dass die Schulen am Ende lauter stramme Nationalsozialisten hervorbringen sollten.

Nimmt man den starken, durch erlassene Zugangsbeschränkungen erzwungenen Rückgang der Studierendenzahlen an Universitäten und Hochschulen hinzu, wird der bildungsfeindliche Charakter des NS-Systems deutlich. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 zementierten letztlich also den seit jeher bestehenden engen Zusammenhang von sozialer Herkunft auf der einen sowie Bildungserfolg und Karrierechancen auf der anderen Seite für weitere zwölf Jahre.

 

Wider den Untertanengeist – Bildungsreform in der Nachkriegszeit

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 setzte sowohl bei den Alliierten als auch bei den neuen politischen Kräften auf deutscher Seite eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage ein, wie es zur „deutschen Katastrophe“ hatte kommen können.

Als Faktoren, die Aufstieg und Akzeptanz des Nationalsozialismus begünstigt haben, machte man damals das weitgehende Versagen der Funktionseliten in Staat und Gesellschaft sowie die zu große Undurchlässigkeit zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten aus. Die Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für die Versprechungen Hitlers und seiner Gefolgsleute sah man unter anderem im ausgeprägten Untertanenbewusstsein und einer unterentwickelten demokratisch-emanzipa­to­risch­en Grundausrichtung begründet.

Da neben dem Elternhaus die Schule der zentrale Ort zur Vorbereitung junger Menschen auf das Leben ist, versuchten die von der SPD dominierten Senate der frühen Bundesrepublik genau hier auch reformerisch anzusetzen, um stabile Grundlagen für eine pluralistische Demokratie zu schaffen. Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass 1945 mit Heinrich Landahl (1895-1971) ein bekennender linksliberaler Demokrat der Weimarer Jahre als Schulsenator eingesetzt wurde.

In den ersten Nachkriegsjahren ging es zwar noch fast ausschließlich um rein materielle Dinge, wie zum Beispiel den Wiederaufbau der zerstörten Schulgebäude, die Anstellung einer ausreichenden Anzahl an Lehrkräften und die Beschaffung geeigneter Lehrmittel (Schmidt: Schule 2010, S. 685 ff.). Doch Landahl bemühte sich auch zeitnah darum, die aus dem Nationalsozialismus gezogenen Lehren in eine Reform der generellen Schulorganisation in Hamburg einmünden zu lassen. Dass Landahl für diese Aufgabe die geeignete Kraft war, stand außer Zweifel. In den Weimarer Jahren hatte er nicht nur als Bürgerschaftsabgeordneter demokratisches Engagement bewiesen, Landahl war auch von 1927-33 als Schulleiter für die eingangs erwähnte Lichtwarkschule verantwortlich gewesen. Somit kannte er sich auch in praktischer Hinsicht mit den Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Schulorganisation bestens aus (Schmidt: Schule 2010, S. 698 ff.).

Ergebnis der politischen und pädagogischen Überlegungen war das Schulgesetz vom 25. Oktober 1949, das einen tiefen Einschnitt in die traditionelle Schulorganisation der Hansestadt darstellte. Eine für Alle verpflichtende sechsjährige Allgemeine Volksschule sollte der Auftakt der Bildungskarriere der Schüler werden. Daran schloss sich je nach Bildungserfolg und Berufsziel ein dreigliedriges System weiterführender Schulen an: Eine auf drei Jahre angelegte Praktische Oberschule sollte die ehemaligen Volksschulen ersetzen. Die Realschulen wurden von einer vierjährigen Technischen Oberschule abgelöst und eine dem Gymnasialabschluss äquivalente Qualifikation sollte nun in sieben Jahren auf der Wissenschaftlichen Oberschule erworben werden. An der Zeitspanne, die zum Erreichen der jeweiligen Bildungspatente nötig war, änderte sich im Vergleich zu früher nichts. Neu war in der äußeren Form nur das um zwei Jahre verlängerte gemeinsame Lernen aller Schüler.

Die Initiatoren versprachen sich von der Reform die Auflösung der beklagten wilhelminischen Untertanenmentalität, eine Liberalisierung und Demokratisierung der Bildungs- und Karrierechancen für alle Menschen sowie daraus resultierend auch einen verbesserten Zugang zu den Machtstrukturen des Landes. Das längere gemeinsame Lernen hielt man pädagogisch für den zentralen Schlüssel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 6 ff.).

 

Rolle rückwärts – Bildungsstreit im Bürgerschaftswahlkampf 1953

Doch wie schon in den Weimarer Jahren formierte sich von Seiten der traditionellen konservativen Funktionseliten der Stadt und ihrer politischen Vertreter von Beginn an Widerstand gegen diese Neustrukturierung der (Aus-)Bildungsorganisation. In der offiziellen Beschneidung des Gymnasiums sah man den Untergang der traditionellen humanistischen Bildung gekommen und das längere gemeinsame Lernen stellten Kom­menta­toren unter Kommunismusverdacht (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 62 ff.).

Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik sorgte somit die in Hamburg stets aktuelle Frage, wer wann und unter welchen Bedingungen einen Zugang zur schulischen Bildung bekommen soll, für neue Frontlinien in der Gesellschaft und zu langwierigen Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulreform.

Die Diskussion ebbte auch in den folgenden Jahren nicht ab und begleitete die Hamburger als eines der zentralen Themen in den Wahlkampf der für den Herbst 1953 anstehenden Neubesetzung von Senat und Bürgerschaft. Die konservativen Parteien versprachen bei einem Wahlsieg die Rücknahme der Schulreform und die Rolle rückwärts zum Schulsystem alter Ausprägung. Erneut wurde der Untergang des Abendlandes und der heimliche Sieg des Kommunismus beschworen, für den Wahlkampf öffentlichkeitswirksam zugespitzt und mit einer breiten Pressekampagne begleitet. Diese Zuspitzung verlieh dem durchaus zutreffenden Argument, dass nun die letzte Gelegenheit gegeben sei, ohne große negative Folgen für die Schüler das Bildungsexperiment abzubrechen, die notwendige Stoßkraft.

Der Streit um die Ausrichtung der Schulorganisation in Hamburg trug wesentlich zum Wahlsieg des konservativen Wahlbündnisses mit dem Namen Hamburger-Block aus CDU, FDP, DP (Deutsche Partei) und BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bei. Der neue Senat unter Bürgermeister Kurt Sieveking löste sein Wahlkampfversprechen ein und nahm die Schulreform von 1949 zurück (John: Wahlkampf 1997, S. 205).

 

PISA zum neuen Jahrtausend in Deutschland angekommen

Seit jenem bewegten Herbst des Jahres 1953 gab es in Hamburg in Fragen der äußeren Schulorganisation scheinbar nur wenig Bewegung. Und so weckte erst die im Jahr 2000 von der OECD erstmals publizierte PISA-Studie die Bildungspolitiker und die Öffentlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Studie stellte dem deutschen Bildungssystem eine schlechte Note beim Wissensstand der Schüler in bestimmten Lehrfächern aus. Viel gravierender war jedoch die Feststellung, dass es in keiner anderen wohlhabenden Industrienation westlicher Prägung einen derart engen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und -chancen der Schüler und der sozialen Herkunft ihrer Eltern gibt.

Dieser Befund hat in der letzten Dekade zu einer nachhaltigen Diskussion über die Organisation von Bildung in Deutschland geführt und auch in Teilen neue Modelle hervorgebracht, ohne dass die PISA-Nachfolgestudien in der Frage der sozialen Bedingtheit von Lebenschancen eine wesentliche Verbesserung festgestellt haben. Fest steht, dass diese Fragen bis in die jüngste Vergangenheit ihre gesellschaftspolitische Brisanz nicht verloren haben. Schließlich verfolgte die 2010 per Volksentscheid gestoppte schwarz-grüne Schulreform ganz ähnliche Ziele (längeres gemeinsames Lernen, höhere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen) wie sie die Reformer 1949 abgestrebt hatten. Und wie damals scheiterte die Reform an einer gebildeten Mittelschicht, die aus subtiler Angst um die Aufstiegschancen ihres Nachwuchses nicht bereit war, die sozialen Schranken bei der Verteilung von Zukunftschancen abzubauen. So scheint Bildungsgerechtigkeit in der Zukunft nur erreichbar, wenn die Pfade der in Hamburg nun schon seit beinahe neunzig Jahren andauernden Diskussion um die Organisation von Bildung verlassen werden und eine von ideologischen Scheuklappen befreite Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Raum greift.

 

Literatur

  • Böhling, Björn: Die Auseinandersetzung um das Hamburger Schulsystem 1949-1954, Norderstedt 2004.
  • John, Thomas: Wahlkampf und Bürgerschaftswahlen 1953 in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 83/2 (1997), Seite 205-236.
  • Milberg, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890-1935 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg 7), Hamburg 1970.
  • Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 64), Band 1, hrsg. v. Rainer Hering, Hamburg 2010.

 

Gunnar B. Zimmermann, M. A. hat an der Universität Hamburg Geschichts- und Politikwissenschaft studiert und arbeitet seit Sommer 2007, u. a. unterstützt durch eine Stipendium der Hamburger Landesgraduiertenförderung, an einer Dissertation über die Entwicklung des Vereins für Hamburgische Geschichte. Seit 2010 ist er in das Forschungsprojekt der Hamburgischen Biografie eingebunden. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Kultur der Weimarer Republik, bei Prozessen kultureller Erinnerung und auf biografischen Skizzen bedeutender hamburgischer Persönlichkeiten.

 

Nicht erst in der jüngsten Vergangenheit haben Fragen der Organisation schulischer (Aus-)Bildung im Hamburger Stadtstaat das Potential zu politischen wie gesellschaftlichen Kontroversen gehabt. Wie der folgende Blick in der Vergangenheit zeigt, gehört das diesbezügliche Ringen vielmehr zum Traditionsbestand der Hansestadt.

 

Antwort auf Industrialisierung und Urbanisierung – Das Gewerbeschulwesen

Als die Patriotische Gesellschaft sich in den 1860er Jahren erfolgreich für die Schaffung eines staatlichen Gewerbeschulwesens in Hamburg einsetzte, lag die Notwendigkeit dieses Zieles klar auf der Hand: Im Zuge der Industrialisierung und des stetigen Anwachsens der Stadt waren zahlreiche neue Branchen und Berufe entstanden, die jenseits der akademischen (Funktions-)Eliten auf gut ausgebildete Menschen angewiesen waren. In der neugeschaffenen Schulform verbanden sich emanzipatorische Aufstiegs- und Bildungs­chancen für bislang unterprivilegierte Teile der Gesellschaft mit hinreichend ökonomisch orientierter Substanz für die bislang führenden Kreise der Stadt. So basierte die Entstehung des Gewerbeschulewesen auf einem soliden gesellschaftlichen Konsens.

 

Weimar als Eldorado der schulreformerischen Modellversuche

Die pluralistische Offenheit der Weimarer Jahre führte in Hamburg zu einer ganzen Reihe von schulreformerischen Modellversuchen, von denen die ehemalige Lichtwarkschule sicherlich das heute den meisten Hamburgern noch geläufige Beispiel ist (das Ehepaar Schmidt durchlief hier seine schulische Ausbildung). Ein neuer inhaltlicher Zuschnitt des Lehrplans, eine veränderte Ausrichtung der pädagogischen Rolle des Lehrers im Verhältnis zu den Schülern und auch die Einführung von musisch orientierten Fächern sollte den als autoritär empfundenen pädagogischen Mief der wilhelminischen Jahre vertreiben. Ziel war es, die Schüler in einem emanzipatorischen Klima zu gleichwertigen Mitgliedern einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu erziehen. Dieser aufklärerische Impetus lag auch den 1919 erfolgten Gründungen von Universität und Volkshochschule zugrunde, die im Rahmen der Erwachsenenbildung die Partizipation breitere Bevölkerungskreise an Bildung und Wissenschaft ermöglichen sollten (hierzu u. zum folgenden vgl. Milberg: Schulpolitik 1970).

 

Insgesamt blieb der reformerische Flügel in der hamburgischen Lehrerschaft aber in der Minderheit. Die Lehranstalten klassischen Zuschnitts bildeten nach wie vor das Gros der Bildungseinrichtungen der Stadt. Ein Blick in die Hamburger Lehrerzeitung (dem ab 1922 erscheinenden Organ der hamburgischen Lehrerschaft) zeigt, mit welcher kontroversen Dynamik über die Entwicklung der Modellschulen, und damit indirekt stets über den Bestand der klassischen Organisation von Schule überhaupt, diskutiert wurde.

 

Vor allem die akademisch gebildeten, konservativ ausgerichteten Oberlehrer (so hießen bis Ende der Weimarer Republik die Lehrkräfte an den höheren Schulen) konnten sich mit Teile der Reformanstrengungen nicht anfreunden. Sie bemühten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um den Erhalt traditioneller Bildungspatente, was in der Auseinandersetzung um den Bestand des humanistischen Gymnasiums mit seiner altsprachlichen Ausrichtung (Griechisch und Latein) einen auch für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Ausdruck fand. Doch für einen offenen Widerstand waren den Oberlehrern die Hände gebunden. Die Neuausrichtung von Schule und Bildung war politisch gewollt und wurde durch die sozialdemokratisch dominierten Senate der Weimarer Jahre und deren Schulsenatoren gestützt. Breite Unterstützung bekamen die Reformgegner hingegen aus Kreisen der städtischen Bildungs- und Funktionselite, die sich um den Verlust des privilegierten Zugangs zu höherer Bildung für den eigenen Nachwuchs und somit auch um den Zugang zu Spitzen­positionen im Machtgefüge des Stadtstaates sorgte.

 

Hamburger Schule im NS-Staat

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war es in Hamburg ab 1933 erst einmal mit der offenen Diskussion über die (Aus-)Bildungsorganisation vorbei. Zwar führten die Apologeten des NS-System ständig das Wohl der „Volksgemeinschaft“ als Motiv ihres Handelns an, doch hatte ihre Politik auch im Bildungsbereich wenig umwälzenden und keinerlei emanzipatorischen Charakter.

 

Die demokratische Verfasstheit der Schulleitung (ab 1919 hatten die Lehrerkollegien ihre Schulleiter wählen dürfen) und die Elternmitbestimmung sowie die Reformschulprojekte wurden zugunsten einer straffen, am Führerprinzip orientierten Schulorganisation kassiert (Schmidt: Schulen 2010, S. 31 f.). Die Gleichschaltung aller Lehrer im Nationalsozialistischen Lehrerbund sorgte schnell dafür, dass für abweichende Vorstellungen kein öffentlicher Raum mehr vorhanden war (Schmidt: Schulen 2010, S. 153 ff.). Entscheidungen zur Form der Bildungsorganisation oblagen nun nur noch der mit Nationalsozialisten besetzten Schulbehörde .

 

Doch wie in vielen anderen politischen Ressorts waren die Nationalsozialisten auch im Bereich der Bildung mit keinem ausgereiften Plan angetreten. Seit ihrer Entstehung hatten sie sich stets in Abgrenzung zu anderen definiert (gegen Demokratie, gegen Pluralismus, gegen den Versailler Vertrag usw.) und hatten darüber die Entwicklung konkreter Pläne vernachlässigt. Auch wenn unter den Nationalsozialisten die Rolle der Volksschulen gestärkt wurde, bedeutete das Jahr 1933 in der äußeren Form der Schulorganisation letztlich eine Rückkehr zum Status quo der wilhelminischen Zeit. Vorhandene Pläne zur Umgestaltung des Bildungs- und Schulsystems wurden in ihrer Entwicklung und Umsetzung durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs abgewürgt. Ein trügerischer Pluralismus und hoher Aktivismus herrschte in den Friedensjahren der NS-Herrschaft lediglich in der Frage, wie die nationalsozialistische Weltanschauung in die Lehrpläne zu integrieren sei, wobei aber kein Zweifel daran gelassen wurde, dass die Schulen am Ende lauter stramme Nationalsozialsten hervorbringen sollten.

 

Nimmt man den starken, durch erlassene Zugangsbeschränkungen erzwungenen Rückgang der Studierendenzahlen an Universitäten und Hochschulen hinzu, wird der bildungsfeindliche Charakter des NS-Systems deutlich. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 zementierten letztlich also den seit jeher bestehenden engen Zusammenhang von sozialer Herkunft auf der einen sowie Bildungserfolg und Karrierechancen auf der anderen Seite für weitere zwölf Jahre.

 

Wider den Untertanengeist – Bildungsreform in der Nachkriegszeit

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 setzte sowohl bei den Alliierten als auch bei den neuen politischen Kräften auf deutscher Seite eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage ein, wie es zur „deutschen Katastrophe“ hatte kommen können.

 

Als Faktoren, die Aufstieg und Akzeptanz des Nationalsozialismus begünstigt haben, machte man damals das weitgehende Versagen der Funktionseliten in Staat und Gesellschaft sowie die zu große Undurchlässigkeit zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten aus. Die Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für die Versprechungen Hitlers und seiner Gefolgsleute sah man unter anderem im ausgeprägten Untertanenbewusstsein und einer unterentwickelten demokratisch-emanzipa­to­risch­en Grundausrichtung begründet.

 

Da neben dem Elternhaus die Schule der zentrale Ort zur Vorbereitung junger Menschen auf das Leben ist, versuchten die von der SPD dominierten Senate der frühen Bundesrepublik genau hier auch reformerisch anzusetzen, um stabile Grundlagen für eine pluralistische Demokratie zu schaffen. Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass 1945 mit Heinrich Landahl (1895-1971) ein bekennender linksliberaler Demokrat der Weimarer Jahre als Schulsenator eingesetzt wurde.

 

In den ersten Nachkriegsjahren ging es zwar noch fast ausschließlich um rein materielle Dinge, wie zum Beispiel den Wiederaufbau der zerstörten Schulgebäude, die Anstellung einer ausreichenden Anzahl an Lehrkräften und die Beschaffung geeigneter Lehrmittel (Schmidt: Schule 2010, S. 685 ff.). Doch Landahl bemühte sich auch zeitnah darum, die aus dem Nationalsozialismus gezogenen Lehren in eine Reform der generellen Schulorganisation in Hamburg einmünden zu lassen. Dass Landahl für diese Aufgabe die geeignete Kraft war, stand außer Zweifel. In den Weimarer Jahren hatte er nicht nur als Bürgerschaftsabgeordneter demokratisches Engagement bewiesen, Landahl war auch von 1927-33 als Schulleiter für die eingangs erwähnte Lichtwarkschule verantwortlich gewesen. Somit kannte sich er auch in praktischer Hinsicht mit den Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Schulorganisation bestens aus (Schmidt: Schule 2010, S. 698 ff.).

 

Ergebnis der politischen und pädagogischen Überlegungen war das Schulgesetz vom 25.10.1949, das einen tiefen Einschnitt in die traditionelle Schulorganisation der Hansestadt darstellte. Eine für Alle verpflichtende sechsjährige Allgemeine Volksschule sollte der Auftakt der Bildungskarriere der Schüler werden. Daran schloss sich je nach Bildungserfolg und Berufsziel ein dreigliedriges System weiterführender Schulen an: Eine auf drei Jahre angelegte Praktische Oberschule sollte die ehemaligen Volksschulen ersetzen. Die Realschulen wurden von einer vierjährigen Technischen Oberschule abgelöst und eine dem Gymnasialabschluss äquivalente Qualifikation sollte nun in sieben Jahren auf der Wissenschaftlichen Oberschule erworben werden. An der Zeitspanne, die zum Erreichen der jeweiligen Bildungspatente nötig war, änderte sich im Vergleich zu früher nichts. Neu war in der äußeren Form nur das um zwei Jahre verlängerte gemeinsame Lernen aller Schüler.

 

Die Initiatoren versprachen sich von der Reform die Auflösung der beklagten wilhelminischen Untertanenmentalität, eine Liberalisierung und Demokratisierung der Bildungs- und Karrierechancen für alle Menschen sowie daraus resultierend auch des Zugangs zu den Machtstrukturen des Landes. Das längere gemeinsame Lernen hielt man pädagogisch für den zentralen Schlüssel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 6 ff.).

 

Rolle rückwärts – Bildungsstreit im Bürgerschaftswahlkampf 1953

Doch wie schon in den Weimarer Jahren formierte sich von Seiten der traditionellen konservativen Funktionseliten der Stadt und ihrer politischen Vertreter von Beginn an Widerstand gegen diese Neustrukturierung der (Aus-)Bildungsorganisation. In der offiziellen Beschneidung des Gymnasiums sah man den Untergang der traditionellen humanistischen Bildung gekommen und das längere gemeinsame Lernen stellten Kom­menta­toren unter Kommunismusverdacht (vgl. Böhling: Schulsystem 2004, S. 62 ff.).

 

Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik sorgte somit die in Hamburg stets aktuelle Frage, wer wann und unter welchen Bedingungen einen Zugang zur schulischen Bildung bekommen soll, für neue Frontlinien in der Gesellschaft und zu langwierigen Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulreform.

 

Die Diskussion ebbte auch in den folgenden Jahren nicht ab und begleitete die Hamburger als eines der zentralen Themen in den Wahlkampf der für den Herbst 1953 anstehenden Neubesetzung von Senat und Bürgerschaft. Die konservativen Parteien versprachen bei einem Wahlsieg die Rücknahme der Schulreform und die Rolle rückwärts zum Schulsystem alter Ausprägung. Erneut wurde der Untergang des Abendlandes und der heimliche Sieges des Kommunismus beschworen, für den Wahlkampf öffentlichkeitswirksam zugespitzt und mit einer breiten Pressekampagne begleitet. Diese Zuspitzung verlieh dem durchaus zutreffenden Argument, dass nun die letzte Gelegenheit gegeben sei, ohne große negative Folgen für die Schüler das Bildungsexperiment abzubrechen, die notwendige Stoßkraft.

 

Der Streit um die Ausrichtung der Schulorganisation in Hamburg trug wesentlich zum Wahlsieg des konservativen Wahlbündnisses mit dem Namen Hamburger-Block aus CDU, FDP, DP (Deutsche Partei) und BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bei. Der neue Senat unter Bürgermeister Kurt Sieveking löste sein Wahlkampfversprechen ein und nahm die Schulreform von 1949 zurück (John: Wahlkampf 1997, S. 205).

 

PISA zum neuen Jahrtausend in Deutschland angekommen

Seit jenem bewegten Herbst des Jahres 1953 gab es in Hamburg in Fragen der äußeren Schulorganisation scheinbar nur wenig Bewegung. Und so weckte erst die im Jahr 2000 von der OECD erstmals publizierte PISA-Studie die Bildungspolitiker und die Öffentlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Studie stellte dem deutschen Bildungssystem eine schlechte Note beim Wissensstand der Schüler in bestimmten Lehrfächern aus. Viel gravierender war jedoch die Feststellung, dass es in keiner anderen wohlhabenden Industrienation westlicher Prägung einen derart engen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und -chancen der Schüler und der sozialen Herkunft ihrer Eltern gibt.

 

Dieser Befund hat in der letzten Dekade zu einer nachhaltigen Diskussion über die Organisation von Bildung in Deutschland geführt und auch in Teilen neue Modelle hervorgebracht, ohne dass die PISA-Nachfolgestudien in der Frage der sozialen Bedingtheit von Lebenschancen eine wesentliche Verbesserung festgestellt haben. Fest steht, dass diese Fragen bis in die jüngste Vergangenheit ihre gesellschaftspolitische Brisanz nicht verloren haben. Schließlich verfolgte die 2010 per Volksentscheid gestoppte schwarz-grüne Schulreform ganz ähnliche Ziele (längeres gemeinsames Lernen, höhere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen) wie sie die Reformer 1949 abgestrebt hatten. Und wie damals scheiterte die Reform an einer gebildeten Mittelschicht, die aus subtiler Angst um die Aufstiegschancen ihres Nachwuchses nicht bereit war, die sozialen Schranken bei der Verteilung von Zukunftschancen abzubauen. So scheint Bildungsgerechtigkeit in der Zukunft nur erreichbar, wenn die Pfade der in Hamburg nun schon seit beinahe neunzig Jahren andauernden Diskussion um die Organisation von Bildung verlassen werden und eine von ideologischen Scheuklappen befreite Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Raum greift.

 

Literatur

 

Böhling, Björn: Die Auseinandersetzung um das Hamburger Schulsystem 1949-1954, Norderstedt 2004.

 

John, Thomas: Wahlkampf und Bürgerschaftswahlen 1953 in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 83/2 (1997), Seite 205-236.

 

Milberg, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890-1935 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg 7), Hamburg 1970.

 

Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 64), Band 1, hrsg. v. Rainer Hering, Hamburg 2010.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=11

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