Über die Gefahr ‚unterwegs im Malfeld abzusaufen‘…

Stuhlkreis

Sinnfällige Metapher oder ironische Anspielung?

… diese Formulierung hat eine Freundin einmal gefunden, um die Schwierigkeiten zum Ausdruck zu bringen, die mit dem fünften der funktional-pragmatischen Felder einhergehen. Und in der Tat rühren diese Schwierigkeiten daher, dass dieses Feld noch wenig bestellt ist.

Ich habe mich an diese Formulierung erinnert, als ich letztens wieder einmal über die Beobachtungsgabe Erving Goffmans staunen musste. Sie geht freilich einher mit einer Gabe, zu schildern, was er beobachtete.

“First, there are overlayed “keyings.” The published text of a serious paper can contain passages that are not intended to be interpreted “straight,” but rather understood as sarcasm, irony, “words from another’s mouth,” and the like. However, this sort of self-removal from the literal content of what one says seems much more common in spoken papers, for there vocal cues can be employed to ensure that the boundaries and the character of the quotatively intended strip are marked off from the normally intended stream. (Which is not to say that as of now these paralinguistic markers can be satisfactorily identified, let alone transcribed.) Thus, a competent lecturer will be able to read a remark with a twinkle in his voice, or stand off from an utterance by slightly raising his vocal eyebrows. Contrariwise, when he enters a particular passage he can collapse the distance he had been maintaining, and allow his voice to resonate with feeling, conviction, and even passion. In sensing that these vocally tinted lines could not be delivered this way in print, hearers sense they have preferential access to the mind of the author, that live listening provides the kind of contact that reading doesn’t.” (Goffman 1981: 174f.)

Hier handelt es sich um einen Auszug aus Goffmans kursorischem Gang durch die Spezifika von Vorlesungen; und was er dort berührt, ist ein nicht uninteressanter Aspekt von Hochschul- und noch mehr von (interner) Wissenschaftskommunikation. Dabei kennzeichnet die Eingangspassage schon eine erste Schwierigkeit, die sich mit diesen Aspekten verbindet. Bei der Umsetzung in die Schriftlichkeit mögen Spuren der von Goffman beobachteten Aspekte noch übrig bleiben. Diese aber identifizieren zu können, gestaltet sich als äußerst voraussetzungsreiche Aufgabe.

Um was für Aspekte handelt es sich dabei aber? Und warum sind diese für mich, sprich für mein Promotionsprojekt1 eigentlich interessant?

Beginnen wir mit dem eingangs erwähnten Malfeld oder vielleicht besser mit der sog. Fünf-Felder-Lehre der Funktionalen Pragmatik: Karl Bühler (1934/1984) hat in seiner Sprachtheorie zwei sprachliche Aufgabenfelder unterschieden. Das Zeigfeld und das Symboldfeld. Das Zeigfeld betrifft die Organisation von Aufmerksamkeit. Indem mit verschiedenen Wörtern und anderen Zeighilfen in unterschiedlichen Verweisräumen gezeigt wird, wird die Aufmerksamkeit von Sprecher und Hörer synchronisiert. Ich, jetzt, hier, her, hinda, dort, jener, dieser, du. Das sind Beispiele für deiktische Ausdrücke. Nonverbale Deixeis spielen selbstverständlich eine ebenso wichtige Rolle (vornehmlich in der Kommunikation unter Anwesenden). Das Symbolfeld betrifft den begrifflichen Haushalt einer Sprache. Symbolfeldausdrücke sind dazu in der Lage begriffliche Gehalte im Hörer zu aktualisieren oder sie veranlassen ihn dazu, in seinem Wissen danach zu suchen. Die Substantive, Adjektive und Verben bzw. ihre Stämme sind die einfachsten Beispiele für Symbolfeldausdrücke. Hören wir diese Stämme geht es nicht darum unsere Aufmerksamkeit auf etwas im Wahrnehmungs-, Rede-, Text- oder Vorstellungsraum zu richten, sondern wir aktualisieren ein begriffliches Wissen; man könnte auch sagen: einen spezifisch strukturierten Frame mit charakteristischen Anschlussstellen (siehe z.B. Busse 2012).

In Auseinandersetzung mit Bühler hat die Funktionale Pragmatik drei weitere sprachliche Aufgabenfelder ausgemacht (vgl. überblickend Ehlich 2010). Die einzelnen sprachlichen Felder benennen dabei Zweckbereiche sprachlichen Handelns unterhalb der Ebene des Sprechakts. Auf dieser Ebene sprachlichen Handelns wird davon gesprochen, dass “Prozeduren” ausgeführt werden, um spezifische Zwecke zu bearbeiten. Bspw. deiktische Prozeduren mit sprachlichen Mitteln wie ich oder hier zum Zweck der Aufmerksamkeitssynchronisation. Prozeduren sind also Handlungseinheiten, deren Zweck sie zu einem Feld zuordenbar macht. In den verschiedenen Sprachen wurden die sprachlichen Mittel, die diese fünf Aufgabenfelder bearbeiten, jeweils unterschiedlich funktionalisiert. Mit Prozeduren werden sprachliche Akte und Handlungen, also Handlungseinheiten höherer Stufe gebildet.

Die drei weiteren Felder, die die Funktionale Pragmatik unterscheidet, sind die Folgenden: das Bearbeitungsfeld, das Lenkfeld, das Malfeld. Zum Bearbeitungsfeld werden sprachliche Mittel gezählt, die das Verhältnis anderer Ausdrücke zueinander verstehbar machen (operative Prozeduren). Damit erfüllen sie eine spezifische Funktion bei der Konstitution propositionaler Gehalte aus einfachen, aneinandergereihten Ausdrücken. Zum Lenkfeld gehören sprachliche Mittel, die einen ‘direkten’ Eingriff ins hörerseitige Handeln nehmen (expeditive Prozeduren). Hörerseitige Interjektionen beispielsweise geben auf subtile aber äußerst präzise und ökonomische Art und Weise dem Sprecher einen Eindruck davon, wie sein Gesagtes verstanden wird, das er auf diese Verstehenssignale hin anpassen kann. Vokativ und Imperativ gehören ebenso in diese Kategorie.

Was leistet nun diese Kategorie der sprachlichen Prozeduren, versammelt in unterschiedlichen sprachlichen Feldern?

“Es sind nun die sprachlichen Prozeduren, die die sprachliche Realisierung von Handlungen [...] tragen, Scharniere, in denen sich die sprachlichen Funktionen, wie sie sich in den mentalen Prozessen hörerseitig niederschlagen, formal erfassen lassen und damit den bekannten linguistischen Analyse-Instrumentarien öffnen.” (Rehbein 2001: 937)

Mit der Kategorie der Prozeduren wird es also möglich die kleinsten grammatischen Strukturen handlungstheoretisch zu begreifen und zu fragen, was diese Mittel interaktional und kommunikativ leisten. Die Feldzugehörigkeit einzelner Ausdrücke und anderer sprachlicher Mittel ist nicht zwangsläufig eine einfache, d.h. einzelne Ausdrücke können durch Aspekte zweier Prozeduren bestimmt sein und in ihrer Funktionalität gerade davon abhängen. Zudem ist die Feldzugehörigkeit, also die Funktionalität (einzelner) sprachlicher Mittel historisch (und auch subkulturell) veränderlich – wie das bei Sprache immer der Fall ist.

Nun zum letzten Feld, dem Malfeld. Sprachliche Mittel dieses Feldes werden ausgeführt, um expressive Prozeduren zu realisieren. Zum Malfeld heißt es an unterschiedlichen Stellen z.B.:

“Mittels der malenden Prozedur drückt der Sprecher eine affektive Befindlichkeit aus, die er so dem Hörer kommuniziert, um eine vergleichbare Befindlichkeit bei ihm zu erzeugen.” (Ehlich 2010: 541f.)

“Abgleichung der S+H-Einschätzungen” (Ehlich 2009: 435)

das Malfeld mit Ausdrücken zum Vollzug malender Prozeduren, d.h. im weiten Sinne zur expressiven Verbalisierung von Atmosphärischem und Emotionen, was im Deutschen vor allem durch  intonatorische Modulation, kaum durch einzelne Wörter geschieht” (Redder 1998: 67)

“die expressiven Prozeduren des Malfeldes wie Imitationen, geheimnisvolle oder expressive Intonation (wie Toll!), die bei H eine Bewertung bewirken” (Rehbein 2001: 937)

“Solche Prozeduren haben es mit der Kommunikation von situativer “Atmosphäre” und psychophysischer Befindlichkeit, von Stimmung und Emotion  zu tun.” (Redder 1994: 240)

Das Malfeld erweist sich in diesen Charakterisierungen wahrlich als ein weites Feld, dessen Bestimmung offenbar noch nicht präzise greifbar ist: Befindlichkeit, Einschätzung, Atmosphärisches, Emotionen, Bewertung. Das scheint mir eine äußerst heterogene Liste zu sein, die andeuten könnte, dass das Malfeld als – wie es sich bisher darstellt – Restkategorie des Subjektiven vielleicht grundlegend überdacht werden sollte.2 Dass sich das so darstellt, liegt auch daran, dass Untersuchungen dazu noch recht rar sind. Redders (1994) Analyse einer Nacherzählens stellt dazu einen ersten Schritt dar. Zu den sprachlichen Mitteln des Malfeldes schreibt sie:

“Es dominieren eindeutig Formen der Modulation. Allerdings sind auch vereinzelte lexikalische Formen verwendet, namentlich ‘ach Gott!’ [...] und das Kompositumelement ‘Riesen-’ [...]. Eine einzig syntaktisch zu nennende Form fällt auf, nämlich die rhythmische Isolierung syntaktisch ansonsten verbundener Ausdrücke [...]; ich habe sie als Parallelismus interpretiert.” (Redder 1994: 253)

Das bringt uns zurück zum obigen Zitat von Goffman, in dem er eine Reihe kommunikativer Mittel hervorhebt, mit denen bewertet, eingeschätzt, eine Befindlichkeit gegenüber dem Gesagten zum Ausdruck gebracht wird. Er beschreibt unterschiedliche intonatorische, modulatorische aber auch nonverbale Mittel der Distanzierung und der Approximation an das Gesagte. Sein Beispiel stammt selbstverständlich aus einem spezifischen Kommunikationsbereich. In der Wissenschaft besteht eine große Notwendigkeit solche Verhältnisse zum  Zitierten, um das es hier ja hauptsächlich geht, herzustellen. Genauer: Es besteht essentielle Notwendigkeit eine Positionierung zum bisherigen Forschungsstand darzustellen. Und Goffman hat hier quasi die virtuosen Mittel herausgegriffen, die diesen Zweck auf äußerst subtile und differenzierte Art und Weise bearbeiten und er hat nicht einfache Formulierungsmuster im Blick, die das Zitierte oder Referierte in bestimmter Weise qualifizieren, indem dieses in Matrixsätze wie X betont zu recht, dass oder Y hat sehr treffend herausgearbeitet, dass eingebettet wird (Steinseifer 2010: 95). Das sind gewissermaßen neuralgische Punkte, an denen sich eristische Handlungen manifestieren dürften (vgl. da Silva 2014),3 da die Qualifizierung fremder Erkenntnisse für die Konturierung der eigenen Position – ich bin geneigt zu sagen: der eigenen eristischen Origo – wesentlich ist.

Wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, wir die Beherrschung der Mittel, die dem Hörer oder Leser solche Hinweise geben, mit zunehmender Sozialisation im Wissenschaftsbetrieb immer zahlreicher, immer subtiler und auch (mehrfach) adressierbar.4 Und wie Goffman zeigt, geht es dabei nicht nur um Einschätzungen des Wahrheitsgehaltes vorgängiger Forschung. Wissenschaft ist ja gewissermaßen eine Lebensentscheidung. Zwangsläufig bleiben Befindlichkeiten und Emotionen nicht aus. Fraglich ist nur, wie stark sie einerseits Eingang in die traditionellen Publikationsinfrastrukturen finden DÜRFEN und andererseits, ob sie überhaupt Eingang finden KÖNNEN in diese Verdauerung wissenschaftlicher Kommunikation. Nicht ohne Grund schreibt Goffman:

“In sensing that these vocally tinted lines could not be delivered this way in print, hearers sense they have preferential access to the mind of the author, that live listening provides the kind of contact that reading doesn’t.” (Goffman 1981: 174f.)

In der Tat sind die Mittel, die Redder (1994) herausgearbeitet hat, nicht einfach in die Schriftlichkeit überführbar, ja sie scheinen nicht einmal einfach ‘übersetzbar’ zu sein, wenn man bedenkt, welche stilistischen, ja normativen Anforderungen an den wissenschaftlichen Ausdruck geknüpft sind. Nichtsdestotrotz haben wir alle schon Texte von Kolleg_innen gelesen, die wir gut und lange kennen, mit deren Auffassungen und deren Stil wir vertraut sind. Mit diesem Hintergrundwissen meint man, Spuren malender Prozeduren in einzelnen Texten ganz sicher ausmachen zu können, man ‘hört’ den_die Autor_in und seine_ihre Befindlichkeiten gewissermaßen beim Lesen selbst sprechen. Welche Mittel das sind, die uns diesen Eindruck gewinnen lassen, ist freilich nicht so ohne Weiteres zu sagen. Ist doch schließlich auch das höchst individuell.

Das Problem linguistischer Analysen diesen Zuschnitts ist, dass sie mit zunehmendem Hintergrund-, ja mit zunehmenden Feldwissen zunehmend komplex und detailliert; aber auch zunehmend idiosynkratisch werden. Gerade für das Malfeld, das in weiten Bereichen sicherlich auf gruppenspezifisches Hintergrundwissen aufbaut oder anders: das die detaillierte Kenntnis gemeinsamer oder zumindest geteilter Kommunikationsgeschichte bedarf, um umfänglich verstanden zu werden – gerade für das Malfeld also bedeutet das, dass dessen Rekonstruktion äußerst voraussetzungsreich ist. Genauso verhält es sich mit der titelgebenden Phrase und der gewählten Illustration. Es schließt sich die Frage an, ob es sinnvoll erscheint, diese Voraussetzungen für die Analyse z.B. interner Wissenschaftskommunikation restlos einzuholen. Mir scheint nicht. Sind doch die Mitglieder der akademischen Gemeinschaft, die am Diskurs teilnehmen, i.d.R. auch nicht umfänglich über die Hintergründe verständigt, die die jeweiligen Anspielungen vielleicht nur von den Mitgliedern einer Schule oder gar nur von einer kleinen Gruppe von Kollegen lesbar werden lassen.

Die illokutiven Horizonte5, die wissenschaftliche Texte bergen, weil ihre Autor_innen damit befasst sind, kontinuierlich, konkurrenziell und kooperativ um die Wahrheit zu ringen, sind also mit unterschiedlichen Wissenshintergründen auch unterschiedlich tief zu erschließen. Selbiges kennzeichnet aber auch die Situation des durchschnittlichen Wissenschaftlers, was diese hermeneutische Herausforderung nicht zu einem Spezifikum der Forschungssituation macht, sondern auch die alltägliche Situation der Akteure selbst kennzeichnet.

Literatur

Bühler, Karl (1982): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ungekürzter Nachdruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart: Gustav Fischer.

Busse, Dietrich (2012): Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin, Boston: De Gruyter.

Ehlich, Konrad (2009): Interjektion und Responsiv. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin, New York: De Gruyter, S. 423–444.

Ehlich, Konrad (2010): Prozedur. In: Glück, Helmut (Hg.): Metzler-Lexikon Sprache. 4., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 541–542.

Goffman, Erving (1981): The Lecture. In: Erving Goffman: Forms of Talk. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 160–196.

Pohl, Thorsten (2007): Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens. Tübingen: Niemeyer.

Redder, Angelika (1994): “Bergungsunternehmen” – Prozeduren des Malfeldes beim Erzählen. In: Brünner, Gisela/Graefen, Gabriele (Hg.): Texte und Diskurse. Methoden und Forschungsergebnisse der funktionalen Pragmatik. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 238–264.

Redder, Angelika (1998): Sprachbewusstsein als handlungspraktisches Bewusstsein – eine funktional-pragmatische Diskussion. In: Didaktik Deutsch 3 (5), S. 60–76.

Rehbein, Jochen (2001): Das Konzept der Diskursanalyse. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Berlin, New York: De Gruyter (HSK, 16.2), S. 927–945.

Silva, Ana da (2014): Wissenschaftliche Streitkulturen im Vergleich. Eristische Strukturen in italienischen und deutschen wissenschaftlichen Artikeln. Heidelberg: Synchron.

  1. Wobei ich betonen möchte, dass ich nicht nur aus Promotionsprojekt bestehe! ;-) 
  2. Überdacht vor allem deswegen, weil die expressiven Prozeduren, im Vergleich zu allen anderen Prozeduren, gewissermaßen omnipräsent sind. D.h. es muss angenommen werden, dass Ausprägungen expressiver Prozeduren überall und immer in unterschiedlicher Markiertheit vorhanden sein müssen, da immer eine Befindlichkeit, Stimmung, Emotionalität in verschiedenen Graden rekonstruiert werden kann. Ein Anschluss an die Diskussionen der linguistischen Stilistik (z.B. die Arbeiten von Fix oder Sandig) erschiene hier sinnvoll.
  3. Ich bin gerade über Ana da Silvas (2014) Dissertation. Sie ist ganz frisch erschienen und ich freue mich schon auf ihre Analysen.
  4. Pohl (2007) scheint mir zum Thema der Ontogenese wissenschaftlicher Schreibfähigkeit äußerst reichhaltig und ertragreich zu sein. Dem muss ich bei Gelegenheit noch mehr Aufmerksamkeit widmen.
  5. Ana da Silva (vgl. 2014: 45f.) spricht von ‘illokutiven Strata’.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/645

Weiterlesen

Wozu braucht die Linguistik (noch) den Zeichenbegriff?

Wenn man wissenschaftlich aufwächst an einem Ort, an dem die Zeichennatur der Sprache ganz selbstverständlich vermittelt wird, braucht es – selbst bei professoralem Frischwind – eine Weile, bis man die Grenzen dieses Begriffes wirklich durchschaut und dann zu der unumgänglichen Frage kommt: Wozu ist der dann eigentlich noch gut?

Jüngst bin ich wieder auf einen Handbuchartikel von Ludwig Jäger gestoßen, den ich noch aus meiner Chemnitzer Zeit als Preprint kannte. Und wie das so ist, wenn man ‘flügge’ wird, stellen sich die Dinge rückblickend manchmal ganz anders und wieder draufschauend ganz neu dar.

Es handelt sich um den Artikel Sprache, erschienen in Binczek, Natalie/Dembeck, Till/Schäfer, Jörgen (Hg.) (2013): Handbuch Medien der Literatur. Berlin: De Gruyter, S. 11–26. Hier möchte ich nicht eingehen auf die sehr guten Gedanken bezüglich der Materilität/Körpergebundenheit von Sprache, ihre bewusstseins- und weltkonstitutive Kraft und die fruchtbare Relektüre von Saussures (2003a; 2003b) nachgelassenen Schriften. Was mich hier interessieren soll, ist der Abschnitt zur “Zeichenhaftigkeit” von Sprache (S. 16-19).

Die Zeichenhaftigkeit von Sprache steht gewissermaßen – auch widerstreitend in meinem Kopf – der Handlungsqualität von Sprache gegenüber. Schließen sich diese beiden Gedanken wechselseitig aus? Sicherlich nicht – auch wenn Ausdrücke wie ‘Zeichenhandeln’ oder ‘Zeichengebrauch’ doch stark den Eindruck einer begrifflichen Krücke machen. Fraglich ist dabei nur, wer wen wie abstützt und auf welche begrifflichen Schwächen das hinweist?

Diese Ausdrücke weisen auf jeden Fall darauf hin, dass dem Begriff des Zeichens die Handlungsqualität nicht unmittelbar zu eigen ist. Man fühlt sich zu dieser Wortbildung oder zur Erwähnung des Determinatums genötigt, um diesen Aspekt am Zeichen hervorzukehren. Solch eine Explikationsform findet sich auch in Jägers Ausführungen zur Sozialitätsbedingung von (sprachlichen) Zeichen:

“Gerade hier hat die Sozialität sprachlicher Zeichen ihren systematischen Ort. Die Konstitution von Bewusstsein ist eng mit dem Gebrauch von Zeichen im diskursiven Horizont sozialen Austauschs verknüpft.” (Jäger 2013: 18; Herv. i.O.)

Im Kontext der Zeichentheorie scheint es also nicht das Determinatum (“-handeln”) zu sein, das es gilt, zu bestimmten und so bspw. Zeichenhandeln von anderem Handeln zu unterscheiden, sondern vielmehr ist es das Determinans (“Zeichen-”), dem hier etwas nebengeordnet wird. Aus dem Determinativkompositum wird in dieser Verwendung ein doppelköpfiges Kopulativkompositum. Die Relation zwischen diesen beiden ‘bestimmenden’ Bestandteilen/Köpfen des Kompositums ist nun relativ unklar. Wie stehen Zeichen und Handlung in einem Verhältnis zueinander? Wie lässt sich Zeichenhandeln hinsichtlich beidem, der Zeichennatur und der Handlungsqualität, bestimmen? Hier deutet sich schon die – m.E. einzige – begriffliche Lösung an, auf die ich am Ende zurückkommen werde.

Vorher soll hier aber darauf eingegangen werden, was für ein Bias allgemein im Zeichenbegriff liegt und wie diesen auch Jäger in seinen zeichenphilosophischen Überlegungen reproduziert, die Handlungsqualität von Sprache daher nur als argumentativen Unterbau gebraucht, sie in der Explikation seines Sprachbegriffs nur randständig behandelt und damit große Bereiche der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel ausblendet.

Zwar hat Jäger in seinem Handbuchartikel auch einen Abschnitt über die “Funktionalität” von Sprache (S. 12f.), dort deutet sich der eben erwähnte Bias aber schon an. Geht er dort doch nur recht abstrakt auf einerseits die “kommunikativen Funktionen” “der Übertragung, Distribution und Speicherung von Sinn” und andererseits die “kognitive[.] Funktion” ein. Bei letzterer geht es um das Verhältnis von Ich- und Weltbewusstsein und deren wechselseitige, konstruktive Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen Gebrauch vergesellschafteter Mittel. Hier spricht er sich also gegen eine simple Auffassung der Relation zwischen Bewusstsein und Welt aus, die in Begriffen des ‘Abbilds’ oder der ‘Wiederspiegelung’ auch in der Linguistik immer noch präsent sind. Die diesbezügliche Pointe ist – platt gesagt – das Medium ist die Botschaft: Die unterschiedlichen Sprachen sind mit ihren Strukturen immer auch Strukturierer: Sprache “verarbeitet keinen sprachtranszendenten Sinn, sondern sie erzeugt Eigensinn” (S. 12).

Wie dieser Eigensinn nun aber en détail und mithin sprachtypologisch je verschieden hervorgebracht wird, fällt aus Jägers philosophischer Perspektive heraus. Dies ist damit auch nicht Thema weder, wenn es um die Funktionalität von Sprache, noch, wenn es um ihre Zeichenhaftigkeit geht. Im Abschnitt zur Zeichenhaftigkeit wird auch wieder deutlich, wie stark Jäger der sprachphilosophischen und wie wenig er der im engeren Sinne linguistischen Diskussion verpflichtet ist.

Der ganze Abschnitt beschäftigt sich mit der großen Frage des Zusammenhangs zwischen materialem Zeichen und mentalem Begriff. Jäger formuliert in diesem Abschnitt vier Bedingungen, die die “Darstellungsleistung” (S. 16) von Sprache ermöglichen. Den Zusammenhang zwischen Ausdruck und Inhalt denkt Jäger also alles andere als (ver)einfach(t) und das begriffliche Entfalten der Handlungsqualität von Sprache torpediert diese Überlegungen m.E. auch nicht. Dennoch sind sie gewissermaßen auf einem Auge blind und einer zeichentheoretischen Tradition verpflichtet, die eine spezifische, durchaus wichtige Qualität von Sprache hervorhebt, damit aber eine Grundcharakteristik verkennt. Eine Reihe von Substantiven, die in diesem Abschnitt präsent sind, können verdeutlichen, um welchen Bias es mir hier geht:

“Bedeutung”, “Begriff”, “Darstellungsmittel”, “Darstellungsleistung”, “Gehalt”, “Ausdruck”, “Inhalt”, “Referenzgegenstände”, “Objekt”.

Weisen nicht alle diese Substantive mit gleicher Intensität in dieselbe Richtung und stammen sie u.a. auch aus unterschiedlichen Philosophenfedern (prominent sind Cassirer, Humboldt, Peirce), so wird doch durch diese Zusammenschau deutlich, dass dem Zeichenbegriff allgemein und auch in Jägers Artikel ganz zentral die Zweiseitigkeit von materialem Zeichen und mentalem Begriff zu eigen ist: aliquid stat pro aliquo. Wie komplex man diese antike Formel auch immer begreifen will, Gültigkeit hat sie nur für einen spezifischen Mittelbereich menschlicher Sprachen: für die “Symbolfeldausdrücke” (vgl. z.B. Redder 2005: 48) oder mit Bühler (1982: 149) die “Nennwörter”. Die funktional-pragmatische Unterscheidung von 5 sprachlichen Feldern (überblickend Ehlich 2007a), also von 5 Aufgaben- oder Zweckbereichen, für die in der Genese der Einzelsprachen die je spezifischen sprachliche Mittel funktionalisiert wurden, knüpft an Bühler an und folgt konsequent einer Rekonstruktion sprachlicher Handlungsqualität.

Die sprachlichen Mittel, die mit dem zeichentheoretischen Bias Jägers ausschließlich in den Blick kommen, sind z.B. Substantive, Adjektive und Verben. Diese werden als Symbolfeldausdrücke verstanden. Symbolische Prozeduren bearbeiten den Zweck begriffliches Wissen in der mentalen Sphäre des Hörers zu aktualisieren:

“In allen Sprachtheorien gilt eine Funktion von Sprache gemeinhin als fundamental, nämlich die des sprachlichen Benennens von Wirklichkeitselementen, mithin der durch nennende Prozeduren vollzogene Zweck. Deshalb erscheinen die Ausdrucksmittel des Symbolfeldes zumeist als sprachliche Mittel par excellence – so auch im Primat der Darstellungsfunktion von Sprache bei Bühler. Gewöhnlich gelten Symbolfeldausdrücke als situationsentbundene, kontextunabhängige Zeichen, eben als Symbole im Sinne der Semiotik. Handlungstheoretisch wird demgegenüber der Zeichenbegriff für Symbolfeldausdrücke wie auch für die anderen sprachlichen Mittel verflüssigt, wenn Zeichen nicht als Basisgrößen gelten, sondern als Mittel zum Vollzug von Prozeduren zwischen S[precher] und H[örer]. Der Zeichenbegriff gewinnt daher in der F[unktionalen] P[ragmatik] eine abgeleitete Qualität. Symbolische Ausdrucksmittel, Ausdrücke des Symbolfeldes also, gelten dann auch nicht länger als Leitgrößen für semantische Konzepte, für Bedeutungshaftigkeit schlechthin. Vielmehr haben alle sprachlichen Ausdrucksmittel gleichermaßen eine prozedurale Bedeutung. Beispielsweise besteht eine symbolische, nennende Prozedur in der Aktualisierung von sprachlich verfasstem Wissen über Wirklichkeit(selemente) [...]; das ist die kategoriale Bedeutung einer nennenden Prozedur. Die besondere, ausdrucksspezifische Prozedur ist im Falle von Symbolfeldausdrücken als das spezifisch zu aktualisierende Wissen zu rekonstruieren.” (Redder 2005: 48f.)

Handlungstheoretisch betrachtet, stellt sich die Rekonstruktion von solchen Ausdrücken also etwas anders dar als mit der Zeichenkonzeption: Es geht nicht nur um “Darstellungsleistung” (S. 16). Es geht vielmehr um die konstitutive Qualität der “kommunikative[n] Dyade” (Weinrich 2006: 17) und damit um die konsequent gestellte Frage, was macht ein sprachliches Mittel wie ein vom Sprecher geäußertes Substantiv mit dem Hörer?

Mehr noch aber führt die handlungstheoretische Sprachkonzeption dazu, zu bemerken, dass eine große Menge sprachlicher Mittel von der Aliquid-stat-pro-aliquo-Vorstellung des Zeichens gar nicht berührt wird: Was für einen begrifflichen Gehalt sollten auch Wörter wie ‘du’, ‘dabei’, ‘er’, ‘aber’, ‘der’, ‘seitdem’ etc. haben? Deren Funktionalität (bei der Konstitution von Ich- und Weltbezug) kann nicht als Zeichen und auch nicht als Zeichenhandeln befriedigend herausgearbeitet werden. In diesem Sinne gewinnt, wie Redder (2005: 48) schreibt, der “Zeichenbegriff” als spezifischer, nicht generalisierbarer Fall nur “abgeleitete Qualität“.

Es bleibt also die Frage, wozu der Zeichenbegriff dann noch taugt? Ist er lediglich ein Begriff für ein spezifisches semantisches Verhältnis, wie es die Symbolfeldausdrücke kennzeichnet? – Ich denke, damit wird man dem Zeichenbegriff der semiologischen Tradition nicht gerecht. Mag er zwar den erörterten Bias aufweisen, liegt doch aber eine Menge seines begrifflichen Gewichtes weniger im ‘Inhalt’ als vielmehr im ‘Ausdruck’! Immer, wenn von Zeichen gesprochen wird, ist unweigerlich seine materiale Beschaffenheit im Fokus, damit seine basale medialisierende Funktion, also das sinnliche Wahrnehmbar-Werden für Sprecher und Hörer im Sprechhandeln oder allgemein im Zeichenhandeln.

Hier kann das ‘Zeichenhandeln’ nämlich wieder als Determinativkompositum ernst genommen werden. Im Verständigungsprozess bedienen wir uns naturgemäß immer “Sprache und mehr” (Linke et al. 2003). Der Zeichenbegriff ist vor dem Hintergrund der obigen Kritik mit dem begrifflichen Fokus auf die medial-materiale Charakteristik des Verständigungsprozesses m.E. ‘nur noch’ dazu geeignet, unterschiedliche Mittelkomplexe kontrastierend beschreibbar zu machen. Mit ihm kann auf die Prozesse der medialen Materialisierung und der daran geknüpften Eigenlogik der Sinnkonstitution abgehoben werden. So kann beispielsweise in den Fokus gelangen, wie Sprache im Vergleich zu Bildern ihre kommunikative Funktionalität aufgrund ihrer spezifischen materialen Struktur entfaltet. Dafür kommen eine Reihe von Bestimmungen infrage, die der Sinnentfaltung während des Sprechens, d.h. während des Material-Werdens von Gedanken, sowohl für den Sprecher wie auch für den Hörer zugrunde liegen. Dies stellt vor allem eine Herausforderung für die Medienlinguistik dar.

Die unumgehbare Linearität des Zu-Verstehen-Gebens und des Verstehens ist da nur die augenfälligste Bestimmung. Ehlich (2007b: 60) hat bspw. die sprachtypologisch unterschiedlich ausprägte Nutzung der materialen Potentiale des menschlichen Stimm- und Hörapparates als “Entscheidungen” beschrieben, die der Bearbeitung sprachinterner Zwecke dienen. ‘Entscheidung’ ist hier freilich nicht teleologisch zu verstehen, sondern weithin metaphorisch.

Der Zeichenbegriff ist also da noch gebrauchbar, wo es darum geht, die unterschiedlichen Mittel kommunikativen Handelns in ihrer materialen Eigenlogik und in ihrem, darauf beruhendem, potentiellen Zusammenwirken zu beschreiben. Jenseits dieser Basisdifferenzierung unterschiedlicher medialer Qualitäten der unterschiedlichen Zeichen, bedarf es aber dann einer handlungstheoretischen Konzeption, um beschreibbar zu machen, in welcher Weise im Verständigungsprozess Sprecher und Hörer gemeinsam sich dieser differenzierten Mittel bedienen, um Verstehen zu ermöglichen.

Bühler, Karl (1982): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ungekürzter Nachdruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart: Gustav Fischer.
Ehlich, Konrad (2007a): Prozedur. (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache). In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 2: Prozeduren des sprachlichen Handelns. Berlin, New York: De Gruyter, S. 1–2.
Ehlich, Konrad (2007b): Sprachmittel und Sprachzwecke. In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Berlin, New York: De Gruyter, S. 55–80.
Jäger, Ludwig (2013): Sprache. In: Binczek, Natalie/Dembeck, Till/Schäfer, Jörgen (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin: De Gruyter, S. 11–26.
Linke, Angelika/Ortner, Hanspeter/Portmann-Tselikas, Paul R. (Hg.) (2003): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer.
Redder, Angelika (2005): Wortarten oder sprachliche Felder, Wortartenwechsel oder Feldtransposition? In: Knobloch, Clemens/Schaeder, Burkhard (Hg.): Wortarten und Grammatikalisierung. Perspektiven in System und Erwerb. Berlin, New York: De Gruyter, S. 43–66.
Saussure, Ferdinand de (2003a): Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass : Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Saussure, Ferdinand de (2003b): Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlass. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger. Übersetzt und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Weinrich, Harald (2006): Einige kategoriale Überlegungen zur Leiblichkeit und zur ‘Lage’ der Sprache. In: Harald Weinrich: Sprache, das heißt Sprachen. Mit einem vollständigen Schriftenverzeichnis des Autors 1956–2005. 3., ergänzte Auflage. Tübingen: Narr, S. 17–25.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/581

Weiterlesen