Die Zeit der Wahrheit

Als letzten Denkanstoß vor der RKB-Tagung bringt Michael Sonnabend hier sein Statement – und damit die Gelegenheit, sich schon einmal warmzudiskutieren, entweder im stillen Selbstgespräch oder in den Kommentaren.

von Michael Sonnabend

Irgendwann werden sie anklopfen. Und Fragen stellen. Freundlich zwar, aber hartnäckig. Sie werden nach dem Sinn fragen, aber auch nach dem Zweck. Die Anderen. Die, die bisher still waren. Diejenigen, die immer glauben, sie seien nicht wichtig genug, um Fragen stellen zu dürfen. Diejenigen, die sich gar nicht getraut haben, misstrauisch zu sein. Weil sie nicht dazugehören.

Das wird die Zeit der Wahrheit. In der alles ans Licht kommt. Wo sich niemand mehr verstecken kann, hinter den dicken Mauern der Alma Mater. Hinter den dicken Panzern der Sprache. Dann werden die Anderen wissen wollen, was wirklich verhandelt wird im Namen der Wissenschaft. Wohl jenen, die dann erklären können, worin der gesellschaftliche Wert dessen liegt, womit sie sich tagtäglich beschäftigen.

Viele in der Wissenschaft halten diese Vorstellung sicherlich für eine Zumutung. Warum Wissenschaft für die Gesellschaft wichtig sei, liege doch klar auf der Hand. Es sei doch gesellschaftlicher Konsens, dass Wissenschaft und Forschung die Gesellschaft voranbringe. Ich wage das zu bezweifeln, zumindest was den Konsens betrifft. Und das liegt an der Wissenschaft selbst. Weil sie immer noch nicht angemessen kommuniziert. Weil sie sich immer nur die Fragen stellt, die sich aus ihr selbst heraus ergeben. Aber sich selten die Fragen anhört, die die Anderen sich stellen mögen.

Das hat viel mit Sprache zu tun. Mit dem offen zur Schau getragenen Unwillen, sich klar und deutlich – vielleicht sogar elegant – auszudrücken. Statt dessen flüchtet man sich lieber ins Unterholz der Passivkonstruktionen, erschlägt den Geist harmloser Mitmenschen mit dem rücksichtslosen Gebrauch von Substantiven und nicht enden wollenden Sätzen. Die Sprache der Wissenschaft ist darauf angelegt, nur von jenen verstanden zu werden, die zu den Eingeweihten gehören. Die Anderen werden sprachlich in die Flucht geschlagen. Wie zur Einschüchterung bläht sich die Sprache der Wissenschaft unentwegt auf.

Sie ist eine Form der Vorwärtsverteidigung. Verbunden mit der Hoffnung, dass niemand nachfragt, wenn es nur hübsch klug klingt. Aber schon Dürrenmatt wusste: „Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken.“ In meiner täglichen Arbeit bekomme ich oft genug den Eindruck, dass es mit den „Gedanken“ nicht allzu weit her ist. Nicht selten habe ich es mit Texten zu tun, in denen Allerweltsweisheiten und Selbstverständlichkeiten zum hochwissenschaftlichen Paper mit der entsprechenden Terminologie hochgejazzt werden.

Wir haben es also mit Distinktion und Nebelkerzen zu tun. Man will unter sich bleiben und die Anderen schickt man in den Dunst. Das ist lange gut gegangen, aber mit der wachsenden Vorherrschaft des Internets werden sich die Nebel bald lichten. Dann wird so manches sichtbar werden, was in vergangenen Jahrhunderten zwischen zwei Buchdeckeln dem Vergessen anheimgefallen wäre.

Ich bin mir nicht so sicher, ob wissenschaftliche Sprache – insbesondere die der Geisteswissenschaften – durch das Internet wirklich besser werden wird. Schließlich gibt es auch im Netz genug abgelegene Ecken, in die sich kaum jemand verirrt. Aber das Internet bietet Chancen für diejenigen, die sich nicht ausschließlich in Geheim-Gesellschaften wohlfühlen: Nämlich wahrgenommen zu werden, ins Gespräch zu kommen, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, den niemand mehr so ohne Weiteres in Zweifel ziehen kann. Wer das will, muss lernen, klar und deutlich zu sprechen. Dessen Tür werden sie dann vielleicht auslassen, wenn sie kommen und anklopfen.

Disclaimer: Ich weiß, es gibt nicht „die Wissenschaft“ oder „die Wissenschaftler“. Hier wäre eine Differenzierung notwendig, die ein Blogposting sicher nicht leisten kann. Es ist also die Einbildungskraft des Lesers und der Leserin gefragt, das allzu große Gefäß der Begrifflichkeiten mit je eigenen Vorstellungen und Erfahrungen zu füllen.

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/392

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Hierarchie meets Netz meets Wissenschaft

Web 2.0-Formate in der Wissenschaft leiden an einem chronischen Mangel an Kommentaren, das ist ein offenes Geheimnis. Alle fragen sich, wann wohl die Generation Y – oder nennen wir sie Generation Facebook – in der Sphäre höherer wissenschaftlicher Weihen angekommen sein und sich somit berechtigt fühlen wird, etwa an Rezensionsprozessen im Kommentarformat teilzunehmen, wie sie recensio.net anbietet.

Vielleicht aber gibt es noch ganz andere Hürden: Könnte ein wichtiger Grund für die Web 2.0-Skepsis in den Geisteswissenschaften nicht auch darin liegen, dass gerade im deutschsprachigen Bereich die Hierarchie im Wissenschaftsbetrieb, die sich an Titeln, Meriten und Positionen festmacht, eine traditionell viel wichtigere Rolle spielt als im europäischen Ausland, etwa in Frankreich? Dass in der Professorenschaft die Bereitschaft, sich ohne Würdigung ihrer Stellung gewissermaßen „auf Augenhöhe“ mit Studierenden, Nachwuchswissenschaftler oder Laien auszutauschen, eher gering ist? Und könnte es sogar sein, dass der Nachwuchs dieses Hierarchiebewusstsein frühzeitig erbt und damit die Offenheit im Meinungsaustausch, die wir auf privaten Plattformen boomen sehen, in der Welt der Wissenschaft unter sehr erschwerten Bedingungen und womöglich viel später einen Durchbruch erleben wird, als wir das ahnen?

Letzte Woche publizierte der Spiegel einen Artikel darüber, wie die Generation Y Unternehmenskulturen verändert:

Alles das, was eine hierarchische Organisation ausmacht, wird auf den Prüfstand kommen: Herrschaftswissen, Kontrolle, zentrale Steuerung, Machtspielchen. Stattdessen werden offenes Wissensmanagement, flache Organisationen, gelebte Work-Life-Balance, gute Fehlerkultur, hierarchielose Kommunikation und Vertrauen wichtiger – für Führungskräfte und für Mitarbeiter. Heute gibt es Mitarbeiterbeurteilungen – künftig wird es auch Chefbeurteilungen geben.

Vielleicht sollten wir uns alle darauf einstellen, dass ein fundamentaler Wandel begonnen hat hinsichtlich der Rolle des „Experten“, ob es nun der Chef, der Professor oder der Rezensent ist. Die Aura des „Unantastbaren“, die seine Meinungsäußerung umgibt, bröckelt zunehmend und wird schrittweise abgelöst durch dynamische Meinungsbildungsprozesse, die sich im Netz in der Regel in Kommentarspalten abspielen. Sicher wird dieser Wandel in der Wissenschaft stark verzögert vollzogen werden, aber sollten wir uns nicht darauf vorbereiten? Überlegen und erproben, wie unter den neuen Bedingungen wirksame wissenschaftliche Qualitätssicherung stattfinden kann?

Ob das Angebot von recensio.net als ein solcher Schritt betrachtet werden kann, wollen wir in Sektion 1 der RKB-Tagung besprechen, deren genaue Zusammensetzung in Kürze feststehen wird.

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/194

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Archives et hiérarchie

"Si nous abandonnons l'organisation hiérarchique de nos archives pour tout mettre à plat, c'est notre culture que nous perdons ! "

La phrase a été prononcée par un auditeur anonyme lors du congrès sur les archives digitales (ECA 2010), en réaction à la conférence de Charles Leadbeater, alors que ce dernier brossait avec panache un tableau d'avenir où Google et l'informatique dans les nuages régnaient en maîtres sur le monde des archives.

Quelle: http://www.infoclio.ch/de/node/20322

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