Satirisch-humoristische Periodika | Digital

Satirisch-humoristische Periodika sind nach wie vor eine unterschätzte Quelle. Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben den sehr hohen Anforderungen, die die Interpretation der Texte und Bilder stellt, spielt wohl auch der mitunter schwierige Zugang zu kompletten Reihen eines Blattes eine Rolle. Diverse Digitalisierungsprojekte erleichtern inzwischen den Zugriff auf satirisch-humoristische Periodika – die Suche danach gleicht dennoch häufig der Suche nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen.

Figaro 1 (4.1.1857) | Quelle: ANNO
Figaro 1 (4.1.1857) | Quelle: ANNO

“Satirisch-humoristische Periodika | Digital” will in loser Folge raum- und epochenübergreifend auf Digitalisate hinweisen[1], den Anfang machen einige der bekannteren Blätter aus großen  Repositories (ANNO, gallica, Heidelberger Historische Bestände – digital)

  • Figaro (Wien 1857-1919)

    • ANNO (1857-1862, 1865-1911, 1913-1915, 1919)
  • Kikeriki (Wien 1861-1933)
    • ANNO (1861-1883, 1885-1933)
  • Der Floh ([Wien] 1869-1919)
    • ANNO (1869-1870, 1872-1882, 1884-1919)[2]
  • Die Bombe (1871-1925)
  • Die Muskete (1905-1941)
  • La caricature (Paris 1830-1835)

  • Le charivari (Paris, 1841-1893)
    • gallica (1832, 12, 01 (N1)-1833, 06, 30 (A2,N212))[3]
    • UB Heidelberg (Jg. 11 (1842)-17 (1848), 19 (1850), 54 (1885), 58 (1889)-62(1893)
  • Le Grelot. Journal illustré, politique et satirique (1.1871- 29.1899)
    • UB Heidelberg  (Jg. 1 (1871)-12 (1882), 14 (1884)-21 (1891), 23 (1893)-29 (1899)
  • La lune (1865-1868)
  • Le rire (Paris 1894-1940, 1946-1949, 1951-1971)
    • gallica (1898-1920, 1924)
    • UB Heidelberg (1895-1903 (Nr. 53-430), N.S. 1904-N.S. 1907 (Nr. 48-256), N.S. 1912-N.S. 1913 (Nr. 466-569)
  • Lustige Blätter (Berlin 3.1888 – 59.1944)

  • Meggendorfer-Blätter (München, Eßlingen  1889-1928)
    • “Humoristische Monatshefte: aus Lothar Meggendorfer’s lustiger Bildermappe”

    • “Lothar Meggendorfers humoristische Blätter”
      • UB Heidelberg (4 (1891), 6 (1891), 8 (1892)-10 (1892), 12 (1893)-15 (1893)
    • “Meggendorfer Blätter”
      • UB Heidelberg (52 (1903)-55 (1903), 62 (1905)-63 (1905), 73 (1908), 75 (1908)-77 (1909), 79 (1909)-80 (1910), 96 (1914)-119 (1919), 122 (1920)-135 (1923), 146 (1926)-149 (1927)

Fortsetzung folgt.

  1. Ergänzungen willkommen!
  2. Das Digitalisat ist leider nur S/W (und von zum Teil sehr schlechter Qualität) – was gerade beim Floh schade ist, denn das war das erste ‘Wiener’ Blatt, das mit farbigen Karikaturen erschien.
  3. Der Zugriff auf manche Zeitschriften-Digitalisate ist bei gallica auf ein Jahr begrenzt.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/2047

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Zum plötzlichen (?) Interesse an Karikatur

Der #JeSuisCharlie-Hype scheint am Abebben, die Zeit der aktionistischen Solidarisierungen ebenfalls, langsam werden differenziertere  Stimmen lauter (Hashtag #jenesuispascharlie), Stimmen, die Terror verurteilen, aber nicht unbedingt die Positionen von Charlie Hebdo teilen. [1]  Charlie Hebdo ordnet sich selbst dem politisch linken Spektrum zu, bewegt sich dann doch bei vielen Themen in der politischen Mitte.[2]. Charlie Hebdo ist radikal antiklerikalistisch und provoziert mit derber Satire.  Die Karikaturen sind reduziert, sie wirken durch energische Striche und kräftige Farbflächen ohne jede Schattierung.Die Botschaften sind direkt und wenig subtil.

#JeSuisCharlie und der marche republicaine, der am 11. Januar zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Menschen auf die Straßen von Paris brachte[3], lassen vergessen, dass Charlie Hebdo im Kern so etwas wie ein Minderheitenprogramm ist. Die Angaben zur Auflage schwanken zwischen 45.000 (2012) und 60.000 (zum Vergleich: Le canard enchainé erscheint mit einer Auflage von rund 400.000 Exemplaren[4]; Private Eye erscheint mit rund 220000 Exemplaren (S. "Mag ABCs: Full circulation round-up for the first half of 2013". Press Gazette. 15 August 2013. <abgerufen am 12.1.2015>.)); das deutsche Titanic-Magazin mit einer Auflage von 99760 Exemplaren[5] Am 14. Januar 2015 erscheint die Ausgabe Nr. 1178 in einer Auflage von zwei, drei oder fünf Millionen ... die 'letzten' Exemplare werden zu Rekordpreisen auf einschlägigen Verkaufsplattformen gehandelt.
Einen ersten Einblick gibt die Fotostrecke "Charlie Hebdo": 16 Seiten Mut" auf spiegel-online.de.

Fast alle österreichischen Tageszeitungen brachten vorab das Titelblatt der Ausgabe Nr. 1178.[6] Die Tageszeitung Der Standard bringt österreich-exklusiv am 14.1.2015 einen Auszug aus der aktuellen Nummer. Die Karikatur - die Seiten 8 und 9 von Charlie Hebdo Nr. 1178 - wurden um 6.00 Uhr veröffentlicht.

Beigegeben sind Übersetzungen, die In den Kommentaren heftig diskutiert werden - u.a. die Übersetzung von "tortionnaire" [Folterer, Folterknecht] mit "Quälgeist)".  Beigegeben sind auch rudimentäre Erklärungen, die sich in der Regel auf Offensichtliches beziehen, schwierigere Stellen bleiben unkommentiert.

Ein Beispiel: "Keep Calm and Charlie on" von David Ziggy Greene thematisiert die Solidaritätskundgebungen am Trafalgar Square am 7. Januar 2015. Schon zum Titel "Keep Calm and Charlie On" bräuchte es wohl den Hinweis auf das 'Keep Calm and Carry On"-Poster von 1939, das erst 2000 quasi wiederentdeckt wurde (und seither alle möglichen Gegenstände ziert - und in zahllosen Varianten in Umlauf ist).
Bei "Silence under 'le coq bleu' fehlt der Hinweis, dass es sich bei dem "blauen Hahn" um eine Skulptur auf dem Trafalger Square handelt: Hahn/Cock von  Katharina Fritsch. Die Skulptur aus blauem Fiberglas steht für 18 Monate auf dem 'Fourth Plinth', dem leeren Sockel in der Nordwestecke des Platzes.[7] Und wer ist der 'einsame' Typ, der 3 Stunden allein herumsteht?

Die Karikaturen dieser Doppelseite  machen die Herausforderungen des Mediums deutlich: Es braucht gute bis sehr gute Sprachkenntnisse, um Wortspiele und Anspielungen dekodieren zu können. Und es braucht Kontext- und Faktenwissen, sonst bleibt das 'eigentlich' Gemeinte unverständlich.

  1. S. u. a. Pascale Robert-Diard, "Les petites voix discordantes de #jenesuispasCharlie" Le Monde 10.01.2015 à 10h41; Mis à jour le 10.01.2015 à 16h30 - Online. Roxane Gay "If je ne suis pas Charlie, am I a bad person? Nuance gets lost in groupthink" The Guardian Monday 12 January 2015 12.50 GMT - Online.
  2. S. dazu Roderic Mounir "Charlie Hebdo, c'est la gauche plurielle" lecourrier.ch du 9 avril 2010 - Online | archive <abgerufen am 12.1.2015>
  3. S. dazu: "Marche républicaine à Paris : une ampleur 'sans précédent'" Libération 11 janvier 2015 à 13:46 (Mis à jour : 11 janvier 2015 à 20:37) - Online <abgerufen am 12.1.2015).
  4. Le Monde.fr avec AFP: "La crise de la presse touche aussi 'Le Canard enchaîné'." lemonde.fr 04.09.2014 à 13h13; Mis à jour le 04.09.2014 à 14h06. Online <abgerufen am 12.1.2014>.
  5. TITANIC - Das endgültige Satiremagazin, Impressum <abgerufen am 12.1.2015>.
  6. U.a. Der Standard, Kurier, Salzburger Nachrichten, Kleine Zeitung, Die Presse.
  7. S. London.gov.uk: A new icon for London <abgerufen am 14.1.2015>.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1999

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Ikonographien von Solidarität und Widerstand: Karikaturen zum Anschlag auf ‚Charlie Hebdo‘

Der 7. Januar ist der erste Tag nach der Weihnachtspause ... das übliche Programm: Post, nebenher Nachrichten und wie immer zur Einstimmung Karikatur/Karikaturistinnen/Karikaturisten-Feeds aus aller Welt und Daryl Cagles PoliticalCartoons.com. Die Themen sind wenig überraschend, die Tagespolitik läuft an. Charlie Hebdo hat (wie am 6.1. getwittert) Houellebecqs Soumission auf dem Titel[1].

Aber plötzlich ist alles anders. Ab Mittag überschlagen sich Nachrichten mit immer mehr Details zum Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Sondersendungen, Eilmeldungen, Live-Ticker ...

Kurz vor 13.00 twittert Joachim Roncin:

pic.twitter.com/5hr2brBJQt

— joachim (@joachimroncin) 7. Januar 2015

Die weißen und grauen Buchstaben auf Schwarz verbreiten sich in Windeseile und werden zum Hashtag #jesuischarlie, zu spontanen (Tee-)Lichtinstallationen, zu Plakaten, die hundert- und tausendfach hochgehalten werden, zu riesigen Transparenten etc.

Im Laufe des Nachmittags tauchen mehr und mehr Karikaturen zum Thema auf. Karikaturistinnen und Karikaturisten twittern und bloggen spontane Reaktionen.

Am Tag danach bringen die Karikaturen als Antwort auf die Ereignisse. Herausragend (vor allem in Bezug auf die internationale Resonanz )ist The Independent mit einer Arbeit von Dave Brown, die den Geist von Charlie Hebdo symbolisieren soll.[2]

Inhaltlich sind es überwiegend nahezu prototypische Ereigniskarikaturen, die aktuelles Geschehen quasi in Echtzeit kommentieren. Daneben finden sich auch Zustandskarikaturen, die das konkrete Geschehen in einen größeren Kontext einordnen.  Formal sind alle Formen vertreten: personale Individualkarikaturen, personale Typenkarikaturen und apersonale Sachkarikaturen.

Die Themen der Karikaturen sind das Heraufbeschwören von liberté, égalité, fraternité, die Unbeugsamkeit gegenüber allen Versuchen, freie Meinungsäußerung einzuschränken, bis hin zum trotzigen Jetzt-erst-Recht  und  Charlie Hebdo als Märtyrer der Meinungsfreiheit.

Zur Ikonographie gehören

Die Sujets sollen die Unzerstörbarkeit der freien Meinungsäußerung und den Trotz[3] sichtbar machen, aber auch zeigen, dass Humor eine starke Waffe sein kann.

Je größer der zeitliche Abstand wird (und je mehr Fotos vom Schauplatz auftauchen) umso reflektierter werden die Karikaturen zum Thema, während die #JeSuisCharlie-Solidarität längst die Grenzen zur Vereinnahmung überschritten hat.[4]

  1. Luz (i.e. Renald Luzier): "Les prédictions du mage Houellebecq". In: Charlie Hebdo N°1177 (7 janvier 2015) 1.
  2. S. dazu auch: Dave Brown: "Charlie Hebdo cartoon: I knew I had to express defiance because I wanted to be true to the spirit of the magazine." The Independent, Thursday 8 January 2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  3. Dazu auch: Ann Telnaes: "A cartoon defying the Paris terrorists", Washington Post 7.1.2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  4. S. u.a. David Brooks: "I am not charlie" New York Times Jan 8, 2015 (Online); Jeffrey Goldberg: "We Are Not All Charlie", The Atlantic Jan 8 2015, 10:04 AM ET (Online); Michael White, "After the Charlie Hebdo attack, let’s not pretend we’re not afraid" The Guardian  Thursday 8 January 2015 11.41 GMT (Online);  Sebastian Loudon "Wir sind nicht Charlie", Horizont 08.01.2015 (Online); David Beard: "We're not all Charlie" PRI [Public Radio International] January 08, 2015 · 3:30 PM EST (Online).

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1989

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Chinabild in Karikaturen: “A new rôle” (1898)

Im Kontext der Besetzung des Jiāozhōu 膠州-Gebiets und der Verhandlungen über einen Pachtvertrag (1897/1898) erschienen in den satirisch-humoristischen Blättern Europas zahlreiche Texte und Karikaturen, die den deutschen Kaiser als neuen ‘Kaiser von China’ darstellten. Zu den wohl bekannteren (und immer wieder verwendeten[1] Beispielen gehört eine Karikatur von Edward Linley Sambourne (1844-1910), die am 15. Januar 1898 im Punch erschien: “A new rôle!”[2]

Punch cartoons of the Great War (1915)

Punch (January 15, 1898) 14. Quelle: Internet Archive

Der britische Militärattaché Sir James Moncrieff Grierson (1859-1914) berichtete über ein Gespräch mit dem Kaiser über diese Karikatur: “Dann fragte er mich, ob ich sein Bild im ‘Punch’ als Kasier von China gesehen hätte, über das die Kaiserin wütend gewesen sei, das er selbst aber für einen recht guten Witz gehalten habe. [...]”[3]

Die Kaiserin dürfte wohl mehr über den Text erzürnt gewesen sein, denn da heißt es:

Imperial “Manager-Actor” (who has cast himself for a leading part in “Un voyage en Chine” sotto voce). “Um-Ha! With just a few additional touches here and there, I shall make a first-rate Emperor of China.[4]

Doch weder die Großmachtsphantasien noch die Eitelkeit des deutschen Kaisers sollen hier thematisiert werden, sondern ein bisher – trotz wiederholter Verweise auf die Karikatur ((S. auch: Richard Scully: “Mr Punch versus the Kaiser, 1892-1898: Flashpoints of a Complex Relationship.” In: International Journal of Comic Art 13.2 (Fall 2011) , 553-578.)) -  wenig beachtetes Element.

Die Szene zeigt ein Ankleidezimmer, an der Wand im Hintergrund ist über eine Tür das Wappen des Deutschen Reichs zu sehen. Im Vordergrund links steht ein großer Spiegel, dessen Rückseite dem Betrachter zugewandt ist. An den Spiegel gelehnt ist ein Degen mit Portepee, am Griff des Degens hängt eine ‘Pickelhaube’. Am Boden liegen Papiere verstreut: “Lease Kiao chau 99 year[s]“, “Music” und “Un Voyage en Chine”. Im Spiegel betrachtet sich der (durch Gesichtszüge und Bart eindeutig markierte) deutsche Kaiser: Er trägt – abgesehen von Stiefeln und Sporen – ‘asiatische’ Gewänder.

Die ‘asiatischen’ Elemente sind:

  • die Kopfbedeckung (und der lange Zopf)
  • eine wadenlanges Gewand, dessen Saum mit einer breiten Borte eingefasst ist, und
  • eine  Jacke mit weiten Ärmeln.

Die Kopfbedeckung ist eine kleine runde Kappe, von der drei Pfauenfedern nach oben abstehen. Sieht man genau hin, dann ist zu erkennen, dass diese drei Feder wie ‘aufgepappt’ wirken, denn der eigentliche Federschmuck (kǒngquèlíng 孔雀翎 ["Pfauenfedern"][5] ) wird mit einem Ring an dem  Knopf am höchsten  Punkt der Kappe bestigt und hängt nach hinten unten. Die Karikatur “Another Sick Man” vom 8.1.1898[6] zeigt, dass das den Karikaturisten des Punch bekannt war.

Die Jacke  ist aufwändig bestickt mit dem deutschen Adler, der von zwei ‘chinesischen’ Drachen flankiert wird. Das aufwändige Dekor und die breiten Bordüren erinnern zunächst an die von den Porträts chinesischer Kaiser vertrauten Zeremonialgewänder. Sieht man genauer hin, fallen schnell Unterschiede auf: die Kleider/Mäntel der Ahnenporträts sind waden- bis bodenlang, die Ärmel laufen zum Handgelenk schmal zu, die farblich abgesetzten Manschetten zeigen die typische ‘Pferdehuf’-Form[7]
Die Jacke in der Karikatur reicht bis zur Mitte des Oberschenkels und zeigt gerade, sehr weite Ärmel.

The Metropolitan Museum of Art: Woman's Short Informal Robe

The Metropolitan Museum of Art: Woman’s Short Informal Robe (ca. 1900)
Accession Number: 1978.214.2 -  http://www.metmuseum.org

Sie entspricht der Form der Jacken, den Frauen der späten Qing-Zeit bei informellen Anlässen trugen[8].
Die Figur in der Karikatur trägt zu der Jacke  alledings nicht den langen Faltenrock, sondern eine wadenlange weite Hose, deren Säume mit breiten Borten eingefasst sind …

 

 

 

 

 

  1. S. u. a.: Wolfgang J. Mommsen: “Kolonialherrschaft und Imperialismus: Ein Blick zurück” In: Tsingtau. Ausstellung im Deutschen Historischen Museum vom 27. März bis 19. Juli 1998. Online-Veröffentlichung des Ausstellungskataloges;
  2. Punch Vol. (15 January 1898) 14 – Online: Internet Archive. Auch abgedruckt in: Punch cartoons of the Great War (New York: George H. Doran 1915), 21. Internet Archive
  3. Grierson an Bigge, 21. Januar 1898, RA I61/32a. Zitiert nach: John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie. (München: Beck 2001), 1079 und 1377, Anm. 15
  4. ((Punch Vol. (15 January 1898) 14 – Online: Internet Archive.
  5. Zur Bedeutung dieser Auszeichnung s. Uppolit Semenovich Brunnert/V. V. Gagelstrom: Present day political organization of China (New York: Paragon [s. d., Foreword dated Foochow, 1911]) S. 498, Nr. 950.
  6. Punch (8.1.1898) 7 – Online: Internet Archive.
  7. Chin. mǎtíxiù 馬蹄袖 “Pferdehufärmel”.
  8. Weitere Beispiele: Metropolitan Museum: “Woman’s Informal Robe” (China, late 19th–early 20th century; Accession Number: 1979.107); Ebd., “Short Informal Jacket” (China, late 19th century; Accession Number: 46.133.7); Ebd., “Woman’s Short Informal Robe” (China, ca. 1900, Accession Number: 1978.214.2).

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1900

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Die sogenannte ‘Hunnenrede’ im Spiegel satirisch-humoristischer Blätter. Eine Materialsammlung

Am 27. Juli 1900 verabschiedete Wilhelm II. das deutsche Ostasiatische Expeditionskorps mit einer Ansprache, die schon bald unter der Bezeichnung “Hunnenrede” Gegenstand hefitger Debatten wurde.[1]  Die wohl bekanntesten Zitate aus dieser Rede lauteten:

Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!

Wie vor tausend Jahren die Hunnen … sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.

In den allgemeinen Tageszeitungen der letzten Julitage wurde die Rede ausführlich dargestellt und kommentiert, unter anderem in der Neuen Freien Presse vom 28. Juli 1900[2], in Das Vaterland vom 28. Juli 1900[3] oder in der Reichspost vom 29.7.1900[4] So ist es wenig überraschend, dass auch satirisch-humoristische Blätter das Thema schnell aufgriffen;  Verweise auf die Rede (häufig ohne diese explizit zu erwähnen) folgen auch noch nach Monaten (z.B. im Kontext der schleppenden Friedensverhandlungen mit China 1901) und Jahren – wie diese kleine Materialsammlung zeigt.

Die Schwierigkeiten, eine verbindliche Textfassung der Rede aufzutreiben, thematisiert der Kladderadatsch  am 5.8.1900:

Die Ansprache, die unser Kaiser am 27. Juli in Bremerhaven an die nach China abfahrenden Truppen gehalten hat, ist der Welt nur bruchstückweise und in so verschiedenen Fassungen bekannt geworden, daß sich ihr Wortlaut schwerlich noch wird feststellen lassen. Darüber herrscht im Publicum lebhafte Verwunderung. Man meint, es sei doch bekannt geesen, daß der Kaiser sich von den Truppen verabschieden wollte, und da hätte man für die nöthigen Stenographen sorgen und vielleicht den ganzen Vorgang durch den Kinematographen aufnehmen lassen müssen.
Das ist ja alles ganz gut, aber wer konnte denn wissen, daß der Kaiser sich von den Truppen gerade mit einer Ansprache verabschieden würde?[5]

Der in Wien erscheinende Floh brachte auf dem Titelblatt der Nr. 31 (1900) die Karikatur “Der Siegeszug der Hunnen”.

Der Floh Nr. 31 (1900) S. 1

Der Floh Nr. 31 (1900) S. 1 – Quelle: ANNO

Der auf einem schnaubenden Pferd sitzende “König Etzel” (der zum wallenden Haar und zum üppigen Vollbart den für den deutschen Kaiser so typischen hochgezwirbelten Schnurrbart trägt)wendet sich an die Truppen:

Hunnen und Avaren! Ihr zieht jetzt gegen die grausamen Cherusker und Cimbrier! Seid tapfer, wie es den Mannen Etzels gebührt, tapfer, aber nicht grausam! Gebt Pardon! Gefangene werden gemacht und Wehrlose menschlich behandelt. Führt Eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Cherusker Anlaß hat, einen Hunnen scheel anzusehen! Adieu, Kameraden![6]

In den Wiener Caricaturen vom 5. August 1900 wird die Passage “Pardon wird nicht gegeben!” aufgegriffen – im Gedicht “Kein Pardon!”, wo es unter anderem heißt:

Verthiertes Asiatenvolk
Hat in den letzten Wochen
Mit Lug und Trug und feigem Mord
Das Völkerrecht gebrochen.
Drum fand das Wort wie Donnerschall
In ganz Europa Wiederhall [sic!]
Das Wort des Rächers auf dem Thron:
Kein Pardon! [...][7]

Der Kikeriki greift das Thema nicht direkt auf, sondern lässt die ‘Hunnenrede’ nur anklingen, wenn es heißt:

Rache den Chinesern!
Wenn sie einmal gebändigt sein werden, dann sollen sie die ganze Wucht der europäischen – Cultur kennen lernen![8]

Im Rahmen der Beschäftigung mit der Rückkehr des ‘Weltmarschalls’ Graf Waldersee nach Europa kommen wiederholt (in der Regel nicht weiter erläuterte) Anspielungen auf die ‘Hunnenrede’, so heißt es etwa im Floh Nr. 24 (1901):

Empfangsvorbereitungen für Waldersee in Berlin
[...] Anläßlich eines Manövers, das dem heimgekehrten Grafen zu Ehren veranstaltet werden soll, werden die modernen Hunnen das Abhauen von Köpfen produciren.[9]

Wenige Wochen später geht es im Floh um Auszüge “Aus Waldersee’s Liederbuch”:

I.
Gottlob, der Krieg ist nun vorbei,
jetzt gibt es kein Gemetzel,
Man reibt mir unter die Nase nicht mehr
Den Hunnenkönig, den Etzel. [..][10]

Die Wiener Humoristischen Blätter schossen sich besonders auf Waldersee ein. So heißt es am 18. August 1901 unter dem Titel “Vom Grafen Waldersee”:

[...] Beim Diner sieht er es nicht gerne, wenn Lorbeersauce auf den Tisch kommt, weil er darin eine Frozzelei erblickt. Die Worte „Attila“, „Hunnen“, „Rache“ darf man vor ihm nicht aussprechen, und wenn er einmal indisponirt ist, dürfen die Aerzte Alles veschreiben nur keine Chinapräparate. Am merkwürdigsten ist aber daß er oft in der Nacht auffährt, nach dem Säbel greift und durchaus Jemanden köpfen will. Seine Schlaflosigkeit ist so hochgradig, daß man ihm die Protocolle der chinesischen Verhandlungen vorlesen muß, bis er endlich einschläft. ((Humoristische Blätter Nr. 33 (18.8.1901) 2.))

Ähnliches findet sich zwei Beiträgen in den Wiener Humoristischen Blättern vom 28. Juli 1901. Unter dem Titel “Programm für Waldersee’s Ankunft. (Von “Ihm” [d.h.: vom deutschen Kaiser] entworfen” heißt es:

  1. Begrüssungsansprache, gehalten von Aegir.
  2. Rede, theils zu Wasser, theils zu Lande gehalten von „Ihm“
  3. Defilirung sämmtlicher Bürgermeister Deutschlands unter dem Commando eines Unteroffciers.
  4. Einzug durch eine mit Chinesenschädeln verzierte Triumphpforte
  5. „Civilisations“-Festessen im Rathhaus
  6. Festvorstellung mit folgenden Nummern:
    a. Hunnenritte, ausgeführt von einer hervorragenden Circusgesellschaft
    b. Civilisationsquadirlle, angeführt von sämmltichen Scharfrichtern Deutschlands
    c. Preisköpfen
    d Festvorstellung im Theater (Aufgeführt wird „Attila“, ein Gelegenheitsstück von Major Lauff)
    e. Neuerliche Ansprache von „Ihm“[11]

Das Thema ‘Reden des deutschen Kaisers’ – extrem lang und bei jeder sich bietenden Gelegenheit – nimmt in den Wiener satirisch-humoristischen Blättern breiten Raum ein, hier aber sind die gehäuften Reden beim Empfang ein direkter Verweis auf die ‘Hunnenrede.’
Der zweite Beitrag der Humoristischen Blätter widmet sich den Orden und Auszeichnungen, mit denen die aus China zurückkehrenden Truppen bedacht wurden. Unter dem Titel “Der Culturorden.” heißt es:

Wie wir erfahren, soll jetzt in Deutschland ein neuer Orden eingeführt werden. Er führt den Namen Culturorden und wird in drei Classen verliehen.

  1. Das gewöhnliche Culturordenskreuz. Es ist ein Ordenskreuz, wie jedes andere, nur hat es im Mittelfelde eine kleine Knute. Es wird verliehen an Leute vom Feldwebel abwärts, die sich in Colonien energisch und thätig erwiesen haben.
  2. Der Commandeurstern des Culturordents ist ein grosser Stern, der an der linken Brustseite zu tragen ist. Im Mittelfelde ist ein abgeschnittener Chinesenkopf zu sehen. Wird an höhere Officiere verliehen, die sich in Colonialkriegen ausgezeichnet haben.
  3. Das Grosskreuz des Culturordens, überreich mit Brillanten besetzt, trägt im Mittelfelde das Bildnis Attila’s und der Wahlspruch: „Unten durch!“ Das Bildnis ist mit Todtenschädeln [sic!] garniert. Das Grosskreuz wird nur an siegreiche Weltmarschälle verliehen.[12]

In der Zeit des Besuchs der so genannten “Sühnegesandtschaft” in Berlin taucht das Thema ‘Hunnen’ wieder auf. Der Floh berichtet über “Populäre Vorlesungen (Gehalten an der ‘Akademie für Schwachsinnige der höheren Stände)

[...] Das römische Weltreich ging hauptsächlich in Folge der Völkerwanderung unter. Es war nämlich gegen Ende des Alterthums eine Menge von Völkern herausgewachsen, die es schon nicht mehr erwarten konnten, in der Weltgeschichte eine Rolle zu spielen. Da waren zunächst die Hunnen, die unter Attila so fürchterlich hausten, dass sie dem Weltmarschall Waldersee später in China als Vorbild dienen konnten. – […][13]

“Tsin, Tsan, Tschun …! Ein chinesisches Sühnelied” in den sozialdemokratischen Neuen Glühlichtern[14] verbindet die ‘Sühnegesandtschaft’ direkt und explizit mit der ‘Hunnenrede’:

Tsin, Tsan, Tschun.
Der Sühneprinz hier war nun.
Er bracht’s in Tusch und Seiden fein,
Man wolle fürder brav nun sein,
Und daß es ihn stets hat gegraut,
Wenn man ‘nen Deutschen „scheel“ ang’schaut! [...]

Tsin, Tsan, Tschun,
Der Sühneprinz still stand’ nun.
ER ernst doch auf dem Throne saß
(Sogar auf’s Reden ganz vergaß) [...]

Drauf sah ER streng an Tschunen
(Denkt an die Red’ der Hunnen!) [...][15]

Und die ‘Hunnenrede’ könnte auch gemeint sein, wenn es in  dem (schon an anderer Stelle erwähnten) “Belehrenden Stammtisch-Vortrag” des “Original-Geographen” des Kikeriki  im November 1911 heißt:

Sonst haben sie [gemeint: die Chinesen] noch geschlitzte Augen, mit denen sie alle Fremden schief anschauen und einen langen Zopf.[16]

Der Wahre Jakob Nr. 367 (14. August 1900)

Der Wahre Jakob Nr. 367 (14. August 1900) | Quelle: UB Heidelberg

Im Simplicissimus finden sich einige Stellen, die sich auf die ‘Hunnenrede’ beziehen – in Karikaturen und Texten. Die Karikatur “Moderne Hunnen” von Eduard Thöny[17] zeigt nichts Chinesisches, sondern drei Offiziere, die einander begegnen:

“Hätte die Herren beinahe nicht jesehen, Pardon.”
“Pardon wird nich mehr jejeben.”[18]

Am 28. 8. 1900 heißt es in der “Schloßhofrede” von Peter Schlemihl:

Der Großherzog von Gerolstein ließ sein Regiment und alle Beamten im Schloßhofe antreten und sprach mit lauter Stimme:
“Soldaten! In der letzten Zeit wird sehr viel über mich genörgelt. Ich pfeife darauf. Das lausige Bürgerack meint, zum Maulaufreißen ein Recht zu haben, weil es Steuern zahlt. Das ist Dummheit. Ich werde den Hunden zeigen, was Raison heißt. Maul halten, das will ich! Schießt jeden nieder, der mit der Wimper zuckt, wenn ihr meinen Allerhöchsten Namen nennt. Das befehle ich euch. Schont kein Alter und kein Geschlecht, ich will es. Verstanden? Abtreten!” [... ][19]

Nota bene … ist diese Materialsammlung nur ein Anfang, Fortsetzung folgt (und Hinweise werden gerne entgegengenommen!)

  1. Zur Rede und zur maßgeblichen Textversion: Bernd Sösemann: “Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven.” In: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 342–358.
  2. Neue Freie Presse Nr. 12905 (28.7.1900) S. 3 f. – Online: ANNO.
  3. Das Vaterland Nr. 205 (28.7.1900) S. 4. – Online: ANNO.
  4. Reichspost Nr. 171 (29.7.1900) 2 – Online: ANNO.
  5. Kladderadatsch Nr. 31 (5.8.1900) 123.
  6. Der Floh Nr. 31 (1900) [1].
  7. Wiener Caricaturen Nr. 32 (5.8.1900) S. 2 – Online: ANNO.
  8. Kikeriki Nr. 61 (2.8.1900) S. 4- Online: ANNO.
  9. Der Floh Nr. 24 (1901) S. 4.
  10. Der Floh Nr. 32 (1901) 2.
  11. Humoristische Blätter Nr. 30 (28.7.1901) 2.
  12. Humoristische Blätter Nr. 30 (28.7.1901) 2.
  13. Der Floh Nr. 35 (1901) 3.
  14. Neue Glühlichter Nr. 143 (26.9.1901) 163.
  15. Neue Glühlichter Nr. 143 (26.9.1901) 163.
  16. Kikeriki Nr. 92 (16.11.1911) 2.
  17. Simplicissimus  14.08.1900 Jg. 5, Heft 21, 168.
  18. Simplicissimus  14.08.1900 Jg. 5, Heft 21, 168.
  19. Simplicissimus 28.08.1900 (Jg. 5) Heft 23, S. 182.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1483

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Zwei Sammlungen von China-Karikaturen (1900)

Die militärische Intervention zur Unterdrückung der Yihetuan 義和團-Bewegung (1900/01) war (wie an anderer Stelle ausgeführt) in den Zeitungen Europas das Thema des Sommers  des Jahres 1900, in allgemeinen Zeitungen, aber auch in satirisch-humoristischen Blättern – es ist daher wenig überraschend, dass schon zeitnah Sammlungen von China-Karikaturen erschienen. Zwei dieser Sammlungen sollen in diesem Beitrag vorgestellt werden.

Vermutlich Ende1900 gab der Journalist und Kunsthistoriker John Grand-Carteret (1850-1927) eine Sammlung von China-Karikaturen heraus. Der Titiel – Chinois d’Europe et chinois d’Asie : documents illustrés pour servir à l’histoire des
chinoiseries de la politique européenne de 1842 à 1900. (([John Grand Carteret:] Chinois d’Europe et chinois d’Asie : documents illustrés pour servir à l’histoire des chinoiseries de la politique européenne de 1842 à 1900. Recueillis et mis en ordre par John Grand-Carteret collectionneur ès-chinoiseries. (Paris : Libraire illustrée Montgredien, 1900). – Digitalisat → Bibliotheca Sinica 2.0.)) – erscheint etwas irreführend, denn es handelt sich um eine Sammlung von Karikaturen aus europäischen und amerikanischen Blättern.

Die rund 170 Karikaturen sind etwa 50 verschiedenen Blättern entnommen. Darunter finden sich viele der bekannten Blätter wie Punch (London), Le Charivari (Paris), Simplicissimus[1], Kladderadatsch[2], Puck (New York), Kikeriki[3], Figaro ((Digitalisiert bei ANNO -  S/W und in zum Teil eher schlechter Qualität.)) und Floh[4]. Darunter finden sich aber auch Blätter, die heute zum Teil vergessen sind: Papagallo (Bologna), Pasquino (Torino), Bolond Istök und Borsszem Jankö, El Cardo (Madrid) oder Humoristické listy[5]
Zu jeder Karikatur wird die Quelle – Titel der Zeitschrift und Datum – angegeben, Titel und Texte der einzelnen Karikaturen sind in französischer Übersetzung angeführt – wobei die Übersetzungen in manchen Fällen den ursprünglichen Text verzerren oder gar grob verfälschen …

Die Sammlung beginnt mit einigen französischen Karikaturen aus der Zeit des so genannten Zweiten Opiumkrieges (1856-1860) aus den späten 1850er und frühen 1860er Jahren, mit deutschen Karikaturen zur Reform der chinesischen Armeen aus den 1880er und 1890er Jahren und mit Karikaturen zur Europareise Li Hongzhangs. Der überwiegende Teil der Karikaturen bezieht sich auf die Ereignisse des Sommers 1900.

Ein deutschsprachiges Gegenstück ist das Album “Zopf ab” : die chinesische Affaire im Lichte der europäischen Karikatur[6]

In diesem Band finden sich neben Karikaturen aus satirisch-humoristischen Blättern Europas auch satirische Texte, die diesen Blättern entnommen sind. In der Regel wird nur der Titel des Blattes (häufig in Abkürzung) genannt, das genaue Datum fehlt.

Sammelalben wie die beiden hier vorgestellten zeigen, dass der China-Diskurs in der satirisch-humoristischen Publizistik weit über simple Bildchen von ‘kleinen gelben Männchen mit langem Zopf und komischer Kleidung’ hinausgeht. Texte und Bilder zeugen von Fakten- und Kontextwissen zu den Ereignissen in China, aber auch von Wissen um chinesische Besonderheiten (im weitesten Sinn) beim Publikum, denn kein Karikaturist hätte in seinen Arbeiten Markierungen verwendet, von denen er annehmen musste, dass das Publikum sie nicht spontan erkennt …

  1. Digital: simplicissimus.info.
  2. Digitalisat: UB Heidelberg.
  3. Digitalisiert bei ANNO-  S/W und in zum Teil eher schlechter Qualität
  4. Digitalisiert bei ANNO – der Floh war das erste Wiener Blatt mit farbigem Titelblatt, weshalb hier das (teilweise sehr schlechte)  S/W-Digitalisat kritisch anzumerken ist.
  5. Digitalisat: Ústav pro českou literaturu AV ČR.
  6. “Zopf ab” : die chinesische Affaire im Lichte der europäischen Karikatur (Berlin : Verlag von Dr. Eysler [1900]]. Digitalisat → Bibliotheca Sinica 2.0.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1502

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Ein Bild sagt mehr … (XXII): “The Germans to the Front” in zwei Karikaturen (1900, 1915)

Der Ausspruch “The Germans to the front” wurde im Sommer 1900 dem britischen Admiral Sir Edward Hobart Seymour (1840-1929) zugeschrieben. Seymour hatte im Juni 1900 versucht, von Tianjin aus auf Beijing vorzurücken, um die belagerten Gesandtschaften zu befreien, musste diesen Vorstoß jedoch abbrechen und nach Tianjin zurückkehren. Daraufhin soll er deutsche Soldaten vorgeschickt haben – eben mit der Aufforderung: “The Germans to the front!” Der Ausspruch wurde bald zum geflügelten Wort, Anspielungen darauf finden sich (nicht nur) in satirischen Blättern immer wieder. Zwei Beispiele sollen hier kurz vorgestellt werden.

Im Sommer 1900 dominierte in den österreichisch-ungarischen satirisch-humoristischen Blättern nur ein Thema: die Yihetuan 義和團-Bewegung (der sogenannte ‘Boxeraufstand’) und die militärische Intervention der acht Mächte zu ihrer Unterdrückung. Ein großer Teil von Figaro, Kikeriki, Floh und Humoristischen Blättern ist den Vorgängen in China und den Debatten über die Vorgänge in China in den Parlamenten Europas gewidmet. Obwohl das Deutsche Reich ungleich stärker in die Ereignisse involviert war, beschäftigen sich die großen satirisch-humoristischen Blätter wie Kladderadatsch, Simplicissimus und Der wahre Jakob doch eher verhalten mit dem Thema. Ein Beispiel ist die Titelkarikatur “Gute Freunde” im Beiblatt zum Kladderadatsch vom 12. August 1900.[1].

Kladderadatsch (Beiblatt), 12.8. 1900

Beiblatt zum Kladderadatsch, 12. August 1900 | UB Heidelberg

Das Bild zeigt eine etwas makabere Szene in einer Schlucht. In der Mitte liegen auf einer in den Fels gehauenen Treppe Totenschädel und Skelettteile. Am Kopf der Treppe sitzt ein Drache, der eine Art von Schatz (Kisten und Vasen) zu bewachen scheint.  Auf einer Klippe über der Schlucht kniet “Uncle Sam” und versucht, nach dem Schatz zu angeln. Im Vordergrund – mit dem Rücken zum Betrachter – sind zwei Figuren zu sehen: ein beleibter “John Bull”, der gerade dabei ist, sich anzuziehen – und “Michel”, ein Ritter mit gezücktem Schwert. “John Bull” spricht zum Ritter: “Vorwärts, Michel! Ich komme gleich nach.”

Im März 1915 findet sich im Kikeriki die Karikatur “Die Zukunft Chinas”

Kikeriki (7.3.1915)

Kikeriki (7.3.1915) | Quelle: ANNO

Dargestellt ist ein gefesselter Drache “China”, sein Kopf ist in einen Maulkorb gezwängt, seine Klauen sind an einen vierrdrigen Wagen genagelt, der Schwanz ist verknotet. Am Maulkorb ist mit einem Schloss eine Kette bestigt. Diese Kette hält eine durch Uniform und Gesichtszüge als japanisch markeirte Figur, die mit einer Peitsche auf den Drachen einschlägt. Im Hintergrund steht ‘Uncle Sam’ (erkennbar an Zylinder, Frack, gestreifter Hose und dem typischen Bart) und ‘John Bull’ (erkennnbar an der beleibten Gestalt im knappen Frack und am flachen Hut). Der Text zum Bild:

John Bull: Das dürfen wir uns nicht bieten lassen von Japan; da müssen unbedingt wieder Deutsche an die Front![2]

Der riesige Drache China ist gefesselt und dem kleinen Japan ausgeliefert. Auch hier ergibt sich aus dem Erscheinungsdatum der Kontext: die Verhandlungen über die Einundzwanzig Forderungen, die die japanische Regierung im Januar 1915 an China gerichtet hatte. Diese Forderungen hätten Japan de facto volle Kontrolle über die Mandschurei und über die Wirtschaft Chinas gegeben. Sohl die USA (“Uncle Sam”) als auch Großbritannien (“John Bull”) waren gegen jede Ausweitung des japanischen Einflusses in China.

Auffallend ist, dass im Kladderadatsch die Nationalallegorien “Uncle Sam”, “John Bull” und “Michel” durch Inserts benannt sind. Im Kikeriki ist zwar der Drache mit “China” bezeichnet, “Uncle Sam”/USA, “John Bull”/Großbritannien und Japan sind nur durch Kleidung, Körperform, Gesichtszüge, Haar- und Barttracht markiert. Beide Karikaturen ist eines gemeinsam: Sie funktionieren nur, wenn dem Betrachter der Ausspruch “The Germans to the front!” vertraut ist – im Sommer 1900 ebenso wie im März 1915.

 

 

  1. Beiblatt zum Kladderadatsch Nr. 32 (12. August 1900) [1].
  2. Kikeriki, Nr. 10 (7.3.1915), [8] – Online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1485

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Ein Bild sagt mehr … (XXI): “Das ostasiatische Geschäft” (1914)

Großbritannien und Japan waren seit dem Vertrag von 30.1.1902 Verbündete – und im August 1914 forderte Großbritannien die Hilfe des Verbündeten. Japan trat an der Seite Großbritanniens in den Krieg ein. Das Deutsche Reich wurde per Ultimatum aufgefordert, alle Kriegsschiffe aus chinesischen und japanischen Hoheitsgewässern abzuziehen und die Kontrolle über ‘Tsingtao’ (Qingdao 青島) an Japan zu übergeben. Nach Ablauf des Ultimatus folgte die Kriegserklärung. Qingdao wurde am 7. November 1914 nach drei Monaten Belagerung besetzt.

In der allgemeinen Presse (sowohl in deutschen als auch in österreichisch-ungarischen Blättern) wurden die Ereignisse eher beiläufig geschildert und wenig kommentiert.[1] In den deutschen satirisch-humoristischen Blättern wurde Japan in zum Teil sehr drastischen Bildern (im Wortsinn wie im übertragenen Sinn) als Handlanger der Engländer gezeichnet – ein Beispiel ist das Gedicht “Tsingtau” (Kladderadatsch Nr. 46 (15.11.1914) [S. 2] – oder als Barbar oder Affe verunglimpft, der sich an seiner Beute “erwürgen” soll (s. Die Bombe Nr. 46 (15.11.1914) S. 2.).
In vielen Texten, die sich auf die Ereignisse in Ostasien beziehn, werden Spannungen zwischen den ‘Verbündeten’ voraus – vor allem um die besetzten deutschen Kolonien im Pazifik ‘vorhergesehen’. Der Wahre Jakob bringt in der Nummer vom 28. November 1914[2] den Bilderbogen “Das ostasiatische Geschäft”.

Der Wahre Jakob

Der Wahre Jacob Nr. 740 (28.11.1914) 8524
Quelle: UB Heidelberg

Das ersten drei Bilder zeigen identische Szenen: einen Thronsessel auf einem Podest, im Hintergrund ein Motiv, das an die Kyokujitsuki 旭日旗, die Flagge der aufgehenden Sonne” erinnert. Dargestellt sind drei Personen, zwei sind durch Kleidung, Haar- und Barttracht und Schuhe als ‘japanisch’ markiert, die dritte durch den Tweed-Anzug als ‘britisch’. Der eine der beiden ‘Japaner’ sitzt auf dem Thronsessel, er ist prächtig gekleidet und trägt einen großen Orden um den Hals. Der zweite – etwas schlichter gewandete – steht neben ihm. Der ‘Engländer’ steht auf den Stufen des Podests beziehungsweise vor dem Podest und spricht zu den beiden:

“Wenn Japan unser Bundesgenosse werden will, erhält es Kiautschau[3], die Mariannen [sic!] , und die Karolineninseln[4] —” [Bild oben links]
“— auch auf Deutsch-Ostafrika soll es uns nicht ankommen, wenn Japan uns hilft, Indien und China in Ruhe zu halten!” [Bild oben rechts]

Der auf dem Thron sitzende ‘Japaner’ nimmt den großen Orden, den er um den Hals trägt ab und schickt sich an, diesen dem sich vor ihm verneigenden ‘Engländer’ umzuhängen:

“Dein erhabener König soll an mir einen guten Bundesgenossen haben!” [Bild unten links]

Im letzten Bild wird die weitere Entwicklung skizziert: Aus dem Podest im Thronsaal ist eine lange Treppe geworden, an deren Fuß ‘Engländer’ und einer der ‘Japaner’ derangiert am boden liegen – denn sie wurden von ‘Indien’ und ‘China’ die Treppe hintergeworfen:

“Wie es den braven Bundesgenossen wahrscheinlich ergehen wird.” [Bild unten rechts.]

Es bleibt zunächst offen, wer die dargestellten Personen sind – ob sie für konkrete Personen stehen oder ob sie ‘Typen’ darstellen sollen. Aus dem Text zum Bild links unten wird klar, dass die auf dem Thron sitztende Figur den japanischen Kaiser darstellen soll. Ob das Publikum die auf dem Thron sitzende Figur spontant als den Taishō-tennō 大正天皇 (1879-1926, regierte 1912-1926) identifizieren konnte?

  1. Vgl. dazu “Der Fall von Tsingtau” in Neue Freie Presse (9.11.1914) 3. Online: ANNO.
  2. Der Wahre Jacob Nr. 740 (28.11.1914) – Digitalisat → UB Heidelberg.
  3. Gemeint ist das Pachtgebiet Jiaozhou 膠, das 1898 von China an das Deutsche Reich verpachtet worden war. Hauptort des Pachtgebiets war Tsingtau [Qingdao].
  4. Die Nördlcihen Marianen und die Karolinen waren ebenfalls 1899 durch den Deutshc-Spanischen Vertrag unter die Kontrolle des Deutschen Reichs gekommen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1450

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Ein Bild sagt mehr … (XIX): “Die verkehrten Verbeugungen” (1901)

Im Beitrag Sühne wurde eine Karikatur zur so genannten “Sühnegesandtschaft” diskutiert, die die Diskrepanz zwischen den Erwartungen an eine Sühnegesandtschaft und dem tatsächlichen Verlauf thematisierte. Nach dem eigentlichen Sühne-Akt überschlugen sich die Kommentare, wie das Ereigniss einzuschätzen wäre und warum sich wer wann wie verhalten hat. Eine sehr prägnante Interpretation findet sich in der Karikatur “Die verkehrten Verbeugungen.” im Kikeriki vom 15. September 1901:

Kikeriki Nr. 74 (15.9.1901) 1.

Kikeriki Nr. 74 (15.9.1901) 1  | Quelle: ANNO

Die anonyme Karikatur, die knapp die Hälfte der Titelseite der Nummer ausfüllt, zeigt zwei Figuren: Rechts steht hoch erhobenen Hauptes eine männliche, europäisch markierte Figur, die durch die Pickelhaube als Deutscher und durch die Gesichtszüge (und den “Es-ist-erreicht”-Bart) als deutscher Kaiser identifiziert wird. Links steht eine durch Zopf, Kleidung und Kappe mit Pfauenfeder als ‘asiatisch’ markierte Figur. Der Asiate verbeugt sich und reckt dabei dem Deutschen den verlängerten Rücken entgegen, auf dem ein lachendes Gesicht aufgemalt ist.
Darunter eine kurze Zeile:

Wahrscheinlich hat _diese_ Concession den Prinzen Tschun zur Reise nach Berlin bewogen.

Ohne Wissen um den Kontext erscheint das Bild eher banal und nicht besonders originell.
Was ist daran bemerkenswert, dass ein je nach Blickwinkel lächelndes oder hämisch grinsendes) komisches Männchen einer ebenso merkwürdig adjustierten Figur den Allerwertesten entgegenreckt?

Wie aber kommt man (so der Kontext nicht geläufig ist, darauf, was/wer gemeint sein könnte bzw. gemeint ist?
Es empfiehlt sich ein Blick in überregionale Tageszeitungen vom September 1901 nach Berichten über China und das Deutsche Reich und/oder einen Chinesen beim deutschen Kaiser. Für den Anfang sollten einige Berichte  genügen:

  • Neuigkeits-Welt-Blatt Nr. 200 (1.9.1901), 1; Nr. 203 (5.9.1901) 1 f.
  • Neue Freie Presse Nr. 13301 (5.9.1901) 1-3 (mit Abdruck der beim Sühne-Akt gehaltenen Reden)
  • Das Vaterland Nr. 243 (5.9.1901) 1 und 3.
  • Die Arbeiter-Zeitung Nr. 243 (5.9.1901) 1.
  • Pester Lloyd Nr. 212 (5.9.1901) 3.

Im Neuigkeits-Welt-Blatt heißt es am 5. September 1901:

In dem an den seltsamsten Zwischenfällen überreichen Drama des Kreiges mit _China_ darf die jüngste Episode, die famose _Sühn-Expedition_ des Prinzen _Tschun_ als eine der interessantesten erscheinen, wiewohl sie in ihrem Verlaufe nahe daran war, zu einer Farce herabzusinken. [...] Prinz Tschun weigerte sich, die sichere Schweiz zu verlassen, ehe man in Berlin von dem geforderten “Kotau”[1] Abstand nahm.
Diese echt chinesische Zeremonie besteht in einer dreimaligen tiefen Verbeugung des Oberkörpers und einer neunmaligen Rumpfbeuge, und ihre Durchführung erschien dem chinesischen Prinzen, dem Bruder des Kaisers von China, als eine zu große Demüthigung, obgleich sie in China selbst weder unter Prinzen noch unter Mandarinen etwas Seltsames ist.
Nun ist eine Sühneleistung, die nach dem Ausmaß der Verbeugungstiefe berechnet wird, allerdings eine Forderung, der man auch in den Bevölkerungskreisen Deutschlands wenig Geschmack abgewinnen kann, allein es liegt dem Begehren des deutschen Kaisers doch ein tieferer Sinn zu Grunde. In China spielt eben das Zeremoniell in allen Dingen, namentlich aber im Verkehr mit den Vertretern des Auslandes eine große Rolle. Sollten die chinesischen Machthaber den vollen Ernst ihrer Pflicht, für das begangene Verbrechen des Gesandtenmordes Buße zu thun, erkennen, dann müßte dies auch in einer Form geschehen, die ihrem eigenen, dem chinesischen Zeremoniell entspricht und gerade aus der Weigerung des Prinzen Tschun, sich dieser Forderung zu unterwerfen, kann man den Schluß ziehen, daß es den Chinesen noch immer beliebt, Europa mit den gewohnten Ränken zu begegnen.[2]

Und in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung vom selben Tag heißt es:

[...] Dem maßlos eitlen Sinn des deutschen Kaisers mag es schmeicheln, die Chinesen einmal so anschnauzen zu dürfen, wie er es sonst nur mit seinen “Unterthanen” wagen dard; aber ob die erlittene Demüthigung den Chinesen imponiren, sie einschütern wird, ist noch sehr die Frage [...][3]

Damit wird klar, was dem zeitgenössischen Leser im September 1901 niemand erklären musste: Die chinesische Seite hat Abbitte geleistet, doch wäre zu bezweifeln, ob das von der chinesischen Seite allerdings tatsächlich ernst genommen wurde.

 

  1. Zum “Kotau” s. den Beitrag Kotau – die chinesische Ehrenbezeugung von Georg Lehner auf De rebus sincis.
  2. Neuig-keits-Welt-Blatt Nr. 203 (5.9.1901) 1 – Online: ANNO.
  3. Arbeiter-Zeitung Nr. 243 (5.9.1901) 1 – Online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1402

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Zur Arbeit mit Karikaturen

Eines der Themen dieses Blogs ist die Begleitung der Arbeit mit/an westlichen Karikaturen über China (einige Beispiele u.a. hier, hier, hier und hier). Das Blog dokumentiert die Arbeit an einem Korpus von mehreren hundert Karikaturen (und Witzzeichnungen) und Tausenden Textstellen aus österreichisch-ungarischen satirischen Periodika, vor allem die Herausforderung, Symbole, Attribute und Anspielungen richtig zu deuten.

Das Medium Karikatur ist ein in der Geschichtswissenschaft unterschätztes Medium. Eine Ausnhame bildet die Geschichtsdidaktik, die in den letzten Jahren verstärkt Karikaturen als Mittel, Interesse an Geschichte zu wecken. entdeckt.  “Einer Karikatur auf der Spur” ist Daniel Bernsen im Blog Medien im Geschichtsunterricht – aufgehängt an einer aus dem Kontext gerissenen, zeitlich falsch eingeordneten Karikatur. Er macht sich auf die Suche und wird (teilweise) fündig – und stellt interessante Fragen zum Bild.

Check 1: Was war in Varzin?
Wikipedia hilft schnell weiter: http://de.wikipedia.org/wiki/Warcino Mit dem Bild hat es nichts zu tun, außer dass wir bestätigt bekommen, dass das Bild später als 1867 (Kaufjahr des Schlosses) zu datieren ist. Das wussten wir aber schon.

Check 2: Gibt es den Punch oder Charivari digitalisiert online?

Die zweite Frage scheint fast als ‘Fangfrage’, wenn impliziert wird, dass das zwei Zeitschriften sein könnten.[1] Leider gibt es in den 1880ern und 1890ern derzeit noch Lücken – und der September 1884 ist (derzeit noch) nicht online.
Die erste Frage ist viel spannender.  Ich hätte sie mir zu dieser Karikatur vermutlich so nicht gestellt – ich hätte eher gefragt, wen/was “ventriloquist of Varzin” meint …

Mit dem Bild auf der LSG-Seite ist m.E. nichts anzufangen – eine aus dem Kontext gerissene Karikatur, bei der Über-/Unterschrift und konkretes Datum fehlt, ist wertlos, denn Karikaturen sind Bild und Abbild ihrer Zeit. Sie bleiben letztlich unverständlich, wenn die zeitliche Einordnung fehlt.

Fügt man den Bild-URL in die Google-Suche ein und sucht mit ‘Bildersuche’, findet sich schnell dieses Bild:

By Неизвестен (Скан иллюстрации в Punch) [Public domain], via Wikimedia Commons

By Неизвестен (Скан иллюстрации в Punch) [Public domain], via Wikimedia Commons

Mit diesem Bild ist schon mehr zu anzufangen- die Seite aus dem Punch liefert alle Angaben, die man braucht[2]: “The Three Emperors, or, the ventriliquist of Varzin” aus Punch or the London Charivari vom 20. September 1884.

Um nicht in eine Methodendiskussion abzugleiten, sei der Leitfaden Wie analysiert und interpretiert man eine Karikatur? im Online-Tutorium Geschichte des FB Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz herangezogen. Die folgenden Bemerkungen konzentrieren sich hier auf die ersten zweieinhalb Schritte; auf eine Diskussion, welche Ziele der Karikaturist verfolgte und wie die Karikatur zu werten ist, wird hier verzichtet.

  • Orientierende Betrachtung

    • Das Erscheinungsdatum und die Zeitschrift, in der die Karikatur erschien, sind klar aus dem Bild ablesbar.
    • Der Karikaturist ist durch die Signatur links unten identifiziert, die Tenniel-Signatur ist eindeutig. Ebenso eindeutig ist die Angabe “Swain” (das Studio, das die Karikaturen zum Druck aufbereitet).
    • Beim Thema der Karikatur hilft – wie Daniel Bernsen ausgeführt hat – das Datum.
      Im September 1884 trafen Alexander III., Franz Joseph I. und Wilhelm I. in Skierniewice zusammen. Das Treffen, bei dem auch Bismarck und die Außenminister Gustav Sigmund Graf Kálnoky von Kőröspatak (Österreich-Ungarn) und Nikolaj Karlovič de Girs [Giers] anwesend waren, blieb ohne nachhaltige Wirkung, die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Russland verhinderte konstruktive Lösungen.
  • Beschreibung
    • Dargestellt ist ein riesenhafter Puppenspieler, der drei kleine Marionetten führt, im Hintergrund eine Art Vorhang, von Rosetten gehalten.
    • Der ‘Puppenspieler’ ist Bismarck – allerdings ohne die in deutschen und österreichisch-ungarischen Karikaturen üblichen “drei Haare”.
    • Die Marionetten trage Uniformen und (leicht verfremdete) Kronen:
      • Die Figur ganz links trägt die Zarenkrone; der Bügelaufsatz (eigentlich ein gefasster Spinell, auf dem ein Kreuz sitzt) ist durch den  Doppeladler aus dem Staatswappen ersetzt ist. Krone, Uniform und der charakteristische Bart identifizieren die Figur als Alexander III.
      • Die Figur in der Mitte trägt die Reichskrone. Uniform und der weiße Backenbart identifizieren die Figur als Wilhelm I.
      • Die Figur rechts trägt die österreichische Kaiserkrone; der blaue Saphir auf dem Kronbügel ist durch den Doppeladler ersetzt. Die weiße Uniformjacke, der Bart und die Krone identifizieren die Figur als Franz Joseph I.
      • Die Bildunterschrift lautet “The three emperors, or, the ventriloquist of Varzin” macht deutlich, dass der ‘Puppenspieler’ ein Bauchredner ist, der die Fäden zieht und die Figuren sprechen lässt. Die Formulierung ‘ventriloquist of Varzin’ verweist auf einschlägige Zirkus-/Variété-Ankündigungen, wo die Künstler als “die Dame ohne Unterleib aus XY” und der “Zauberkünstler aus XZ” angekündigt wurden, der Konnex zwischen Bismarck und Varzin [poln.Warcino] ist eindeutig[3]
  • Erklärung
    • Die Karikatur visualisiert die – in der zeitgenössischen englischen Bewertung der Politik auf dem Kontinent verbreitete – Auffassung von Bismarck als Zentralfigur der Politik, von Bismarck als dem, der die Fäden zieht – und der den/die Kaiser lenkt. Gegenstand ist weniger das Treffen der Monarchen, sondern  eher die Rolle Bismarcks in der Politik.

Wie für alle anderen Karikaturen gilt auch für “The three emperors” die Binsenweisheit, dass sie nur verständlich ist, wenn der Zusammenhang klar ist – und der ist nur mit Kontextwissen erschließbar: Um Bismarck und die dargestellten Herrscher zu erkennen, müssen einschlägige Porträtdarstellungen vertraut sein. Ebenso muss das Zusammentreffen der drei Kaiser 1884 (und dessen Ergebnis) bekannt sein. Falls nicht, dann sieht man eine Puppenspieler, der drei Marionetten führt (was im Grunde grotesk ist), die an Erzgebirge-Nussknacker erinnern.

Ich würde mir zur Karikatur wohl (u.a.) die folgenden Fragen stellen:

  • Wodurch (Gesichtszüge, Frisur, Bart, Uniform/Kleidung, Orden, werden Personen identifiziert?
  • Wer ist der Puppenspieler/Bauchredner?
  • Warum ist Bismarck ohne die “drei Haare” dargestellt?
  • Welche Kronen tragen die drei Kaiser auf dem Kopf?
  • Warum trägt der deutsche Kaiser die Reichskrone? Was bedeutet das?
  • Etc. etc. etc.

Daniel Bernsens Beobachtung

Das passiert gerade bei Karikaturen immer wieder, dass ihre Ausage gut zu einem bestimmten historischen Ereignis zu passen scheint (hier: das Drei-Kaiser-Bündnis von 1873) und ihre Datierung dann daran zu pädagogischen oder illustrativen Zwecken irgendwie “angepasst” wird.[4]

ist vorbehaltlos zuzustimmen. Karikaturen werden häufig reduziert zu einer Übung, um Interesse an einem bestimmten historischen Ereignis zu wecken oder zum schmückenden und/oder originellen und/oder unterhaltsamen Beiwerk. Die Literatur zu Karikatur als Quelle[5] bzw. zum Themenkomplex Karikatur & Unterricht[6] scheint wenig Beachtung zu finden, man orientiert sich am im weitesten Sinn Originellen und/oder an Klassikern. Allerdings sind selbst Klassiker wie Tenniels “Dropping the Pilot” (Punch, 29.3.1890)[7] bei genauem Hinsehen nicht so ohne – denn der im Deutschen gebräuchliche Titel “Der Lotse verlässt das Schiff” fügt (zumindest) eine neue Bedeutungsnuance hinzu, die man diskutieren müsste.

  1. Es gab zahlreiche Zeitschriften, die “Punch” im Titel hatten, und einige, die “Charivari” als Titel oder Nebentitel hatten – aber das würde zu weit führen.
  2. Der Rahmen um die ganzseitige Karikatur und die gerahmte Kopfzeile sind typisch für das Punch-Layout auf Seiten, die ganzseitige Karikaturen enthalten.
  3. Bismarck hatte das Gut Varzin 1867 erworben, wo er zahlreiche Sommer verbrachte.
  4. Einer Karikatur auf der Spur: die Online-Suche Schritt für Schritt. Veröffentlicht am 9. März 2014 von <abgerufen am 10.3.2014>
  5. Vgl. die kursorischen Bemerkungen im Kapitel “Bilderbogen, Karikatur und illustrierte Zeitschrift” in: Christine Brocks: Bildquellen der Neuzeit (Historische Quellen Interpretieren;  Stuttgart: UTB 2012) 43-64.
  6. z.B. Hans-Jürgen Pandel: “Karikaturen. Gezeichnete Kommentare und visuelle Leitartikel.” In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. (Schwalbach/Ts. 2005) 255-276; Politik und Unterricht Heft 3-4/2005 “Gegen den Strich. Karikaturen zu zehn Themen” (2005) [pdf online]; das Heft 18 “Politische Karikaturen” der Zeitschrift Geschichte Lernen, besonders: Wolfgang Marienfeld: “Politische Karikaturen.” In: Geschichte Lernen „Politische Karikaturen“, Heft 18 (1990), S. 13-21. – und der ‘Klassiker’: Dietrich Grünewald, Karikatur im Unterricht: Geschichte, Analysen, Schulpraxis (Weinheim/Basel : Beltz, 1979).
  7. Zu Tenniels Karikatur und einigen Zitaten dieses Bildes s. Hans-Jürgen Smula: “‘Der Lotse geht von Bord’ Karikatur als historisches Zitat.” In: Geschichte lernen Heft 18 (1990) 45-52.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1375

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