Der Feuerlöschdienst – ein Problem der Suburbanisierung

Eine Dorfgesellschaft, das ist bekannt, basierte auf klaren sozialen Unterschieden. Auch die Pflichten im Dorf wurden nicht gleichverteilt, sondern unterschiedlichen Besitzklassen und sozialen Gruppen unterschiedlich zugeteilt. Klassischer Fall: die Aufgaben im Feuerlöschdienst.

Noch im November 1902 legte die Gemeindevertretung des brandenburgischen Ortes Mahlow noch mal fest: Auch bei Feuerlöschproben, nicht nur im Alarmfalle, waren es die Büdner, die reihum für das Löschen des Feuers zuständig waren, also die Kleinstellenbesitzer, die kaum genug Grund zur Selbstversorgung besaßen und zur Unterschicht des Bauerndorfs gehörten bzw. sie stellten.

Diese Festlegung erfolgte, als Mahlow bereits begonnen hatte, sich zu verändern. Die Bevölkerung war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von gut hundert Bewohnern auf mehr als vierhundert angewachsen, und langsam fand der Zuwachs vor allem jenseits des eigentlichen Dorfkerns statt.

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Quelle: https://uegg.hypotheses.org/355

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Ländlicher Raum: Was mag das sein?

Rural history - ich suche immer noch nach einer Übersetzung, die den offenen Charakter des englischen Begriffs ins Deutsche überträgt. Auf Dauer werde ich mich wohl mit Hilfskonstruktionen durchs Leben schlagen, denn “ländliche Geschichte” geht gar nicht, Geschichte des Ländlichen klingt mir schon wieder zu wolkig. Warum aber nicht, wie mein Kollege Jürgen Finger vorgeschlagen hat, “Geschichte ländlicher Räume”?

Nun, das würde bedeuten, dass ich einen klaren Fokus auf die Historizität von Räumen legen würde - das tue ich aber nicht, zumindest nicht schwerpunktmäßig. Natürlich fließt das ein, aber der Fokus liegt in meinem Projekt auf dem Wandel politischer Formen und Felder, nicht auf Raumproduktion und -aneignung. Trotzdem ist die Auseinandersetzung damit, was einen ländlichen Raum ausmacht, für mich selbstverständlich eine wichtige konzeptionelle Frage. Heute ein paar erste Überlegungen dazu:

Wenn man einen Raum als “ländlich” beschreibt, setzt das die Abgrenzung von einem anderen Raum voraus - zumindest in der ersten Assoziation. Ist dieser “andere” Raum die Stadt? Handelt es sich also bei ländlichen um “nicht-städtische” Räume, und damit ist dann alles gesagt? Dann sind wir natürlich flugs in der Problematik, was eigentlich eine Stadt ist, wie sie sich konstituiert, wann wir es mit einer sehr kleinen Stadt, wann mit einem sehr großen Dorf zu tun haben: Ist es also nur ein quantitatives Problem, Städte und Dörfer, Städte und den "ländlichen Raum" voneinander abzugrenzen? Ist es das Recht, die Ökonomie (Markt statt Subsistenz) gar die Mentalität, was die Stadt zur Stadt macht? Über diese Fragen diskutiert die Stadtforschung interdisziplinär seit vielen, vielen Jahrzehnten, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen (zumindest soweit ich weiß - ich lasse mich gerne belehren!). Und es geht auch gar nicht, zu wandlungsfähig und zu kulturell geprägt sind Städte - und damit auch nicht-städtische Räume.

Wichtig scheint mir - jenseits der Abgrenzung von Städten und ländlichen Räumen - aber noch ein anderes Problem zu sein, nämlich die Relationierung ländlicher Räume. Das heißt also; in welchem (funktionellen) Verhältnis stehen sie zu anderen Räumen?

Provisorisch lassen sich drei Relationen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Umgangsweisen mit dem ländlichen Raum und bestimmte Ausformungen der Stadt-Land-Verhältnisse in der Moderne beschreiben:

  • Komplementäre Räume: Ländliche Räume werden als komplementäre Räume, vor allem komplementär zur Stadt, konstituiert, und das vor allem (aber nicht nur) in ökonomischer Hinsicht. Sie funktionieren anders und sind damit dazu geeignet, bestimmte Defizite der Stadt auszugleichen. Das betrifft in besonderem Maße die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern, die in der Agrarwirtschaft hergestellt werden. Das betrifft aber auch, in bestimmter Hinsicht, die Funktion der ländlichen Räume als Erholungsräume, die Städtern dazu dienen, sich vom hektischen Leben in der Stadt zu erholen, um dann, ausgeruht und erholt, in die Stadt zurückzukehren und dort wieder im Rahmen der städtischen Ökonomie produktiv zu sein. Umgekehrt würde der Austausch funktionieren, wenn Arbeitslose im ländlichen Raum angesiedelt werden sollen (wie in der Zwischenkriegszeit durchaus geschehen) oder Flüchtlinge Dörfern zugteilt wurden/werden, um die überlasteten Städte (z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg) nicht noch mehr zu belasten. In diesem Fall werden also ländliche Räume als Versorger und Entlaster der Städte konzipiert.
  • Oppositionelle Räume: Ländliche Räume werden als Gegen-Räume zur Stadt oder zu Ballungsgebieten entworfen, und das seit vielen, vielen Jahrzehnten, in sehr unterschiedlichen Formen. Idealisierte Ländlichkeit ist ein Typ davon, wenn etwa Riehl das “Land” als Hort der “Kräfte der Beharrung” gegenüber den “Kräften der Bewegung” in der Stadt entwirft. Die ländlichen Räume dienen dann nicht als Versorgungsräume, sondern als Gegengewichte für problematische Entwicklungen in den Städten oder den Gesamtgesellschaften. Innere Kolonisation oder Siedlungsbewegungen wären vor allem dann aus dieser Relationierung erklärlich, wenn es um die Schaffung eines “gesunden Bauernstandes” im rassistischen Interesse ginge. Es wäre zu überlegen, ob bestimmte Formen der Stadt-Land-Wanderung durch diese räumliche Relation verständlicher werden, etwa der Zuzug von Städtern in periphere Räume, etwa die Uckermark.1 Ländlichkeit erscheint so als Gegenbild zur städtischen Welt.
  • Darüber hinaus gibt es den dritten Typus, die Entwicklungsräume: Ländliche Räume wurden in der Moderne immer auch als rückständig beschrieben, die durch bestimmte Maßnahmen modernisiert werden müssten. Auch dies ist eine räumliche Relation, vor allem im Vergleich zu städtischen Räumen, aber auch zu “allgemeinen”, d.h. Makro-Räumen. Wenn etwa in den Bildungsdebatten der 1960er Jahre das “katholische Mädchen vom Lande” als eine Chiffre für den Entwicklungsbedarf des gesamten Bildungssystems, vor allem aber als Modernitätsdefizit des ländlichen Bildungssystems verstanden wird, dann handelt es sich um die Produktion eines ländlichen Entwicklungsraums.

 

Das sind nur erste Überlegungen; die Zeit wird zeigen, inwiefern diese Gedanken dazu beitragen, ländlichen Politisierungsprozessen besser zu Leibe rücken zu können. Interessant ist auf jeden Fall, dass es offenbar auch an anderer Stelle das Bedürfnis gibt, die Begriffsverwendung und -geschichte des “ländlichen Raums” genauer zu reflektieren: Ulrich Schwarz vom Institut für Geschichte des ländlichen Raums (IGLR) in St. Pölten weist in seinem Tagungsbericht zur Veranstaltung “Ländliche Geschichte neu schreiben”, die im November in Wien stattfand, explizit darauf hin, dass dies bislang noch nicht ausreichend geschehen ist. “Ländlich”, so schreibt er, sei ein Adjektiv, das mehrfach relational verstanden werden müsse.2 In den nächsten Wochen und Monaten werde ich auf diese Überlegungen zurückkommen.

  1. Vgl. dazu das Buch der Geographin Julia Rössel: Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark, Bielefeld: Transcript 2014.
  2. Ulrich Schwarz: Tagungsbericht: Ländliche Geschichte neu schreiben, 13.11.2014 Wien, in: H-Soz-Kult, 18.12.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5739>; 19. Januar 2015.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/297

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Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften, Episode 1

Heute: Josef Moosers "Ländliche Klassengesellschaft"

Vor sehr, sehr langer Zeit (zumindest kommt es mir so vor) habe ich hier einmal über Klassiker geschrieben – und warum das Lesen von Klassikern mehr ist, als nur einem (eingebildeten oder realen) Kanon hinterher zu hecheln. Auch wenn ich den Text von damals heute in der Form sicher nicht mehr schreiben würde, bleibe ich doch dabei: Klassiker Lesen hat einen Sinn. Es öffnet den Blick auf vergangene Diskussionen und schärft damit auch die Aufmerksamkeit für gegenwärtige Probleme.

Dies ist nun also die erste Folge einer losen Serie, in der ich Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften vorstellen werde. Damit schaffe ich selbst einen „Kanon“, einen Korpus von Texten, die ich für wichtig halte, wenn man sich mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften in der Neuzeit auseinandersetzen will.

Josef Moosers Werk über die „Ländliche Klassengesellschaft“1 ist ganz sicher ein solcher Klassiker. Das Buch wird als Grundwissen über die Sozialgeschichte ländlicher Gesellschaften zumindest in der deutschen Diskussion stillschweigend oder explizit vorausgesetzt. Stefan Brakensiek hat vor einiger Zeit einen sehr lesenswerten Artikel über Rezeption und Aktualität des Werks veröffentlicht, auf den ich verweisen kann.2 Damit bin ich entlastet und kann kurz erklären, welche Punkte für mich in dem Buch wichtig und weiterführend sind:

1. Mooser war einer der ersten, die im deutschsprachigen Raum das Konzept der „peasant society“, das aus der Sozialanthropologie stammt, verwendet haben. Zu dem Konzept selbst schreibe ich noch mal genauer was, hier soll nun das reichen: Die bäuerliche Gesellschaft wird als Teilgesellschaft verstanden, die durch eigene Werte, Regeln und Mechanismen gekennzeichnet ist; durch Herrschaftsverhältnisse („mächtige Außenseiter“ wie Staat und Grundherrschaft) ist die Teilgesellschaft in größere Zusammenhänge eingebunden. Mooser greift das Konzept als heuristisches Werkzeug auf, trotz der Kritik, die er daran grundsätzlich übt (zu stark homogenisierend, Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilgesellschaften werden systematisch unterschätzt). Denn die Idee der „peasant society“ ermöglicht es, die Eigenständigkeit ländlicher Gesellschaften zu analysieren, ohne dabei grundsätzlich von ihrer Rückständigkeit auszugehen – und da sind wir wieder bei der Problematik der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, über die ich neulich schrieb. Das Modell der „peasant society“ ist für Mooser ein Hilfsmittel, diesem Problem zu entkommen. Zwar ist meine Meinung, dass man sich damit mehr Schwierigkeiten einbrockt als vom Hals schafft, aber die Frage bleibt: Wie relationiere ich die ländliche zur „Gesamt“-Gesellschaft, die offenbar nach anderen Regeln spielte?

2. Über weite Strecken handelt es sich bei dem Buch um eine Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft in den zwei untersuchten westfälischen Gebieten (Minden-Ravensberg und Paderborn). Vor allem im letzten Kapitel kommt Mooser aber auf die vielfältigen Prozesse der Politisierung zu sprechen, die im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 eine Rolle spielten und die einen neuen Blick (also in den 1980ern) auf die Rolle der ländlichen Gesellschaften versprachen: Vor allem ist sehr einleuchtend, wie komplex das Ineinandergreifen von Konservatismus und Politisierung sich am Beispiel der untersuchten ländlichen Unterschichten darstellt. Mooser nennt die Haltung „reflektierten Traditionalismus“, um damit zu zeigen: Es handelte sich keineswegs um eine unpolitische Haltung der ländlichen Unterschichten bzw. der ländlichen Gesellschaften insgesamt, sondern im Gegenteil um eine hochpolitisierte Einstellung, die aber eben nicht demokratisch oder gar sozialistisch geprägt war, sondern konservativ-traditionalistisch, staatsnah und anti-bürgerlich. Der Traditionalismus der ländlichen Unterschichten war, so Mooser, keineswegs nur auf den Erhalt des Vorhandenen gerichtet, sondern hat auch utopische Anteile – es ging um die Neuschaffung von Institutionen, um der traditionalen moral economy (Mooser übersetzt den Begriff E.P. Thompsons mit „sittliche Ökonomie“) zum Durchbruch zu verhelfen. Dass in diesem Zusammenhang der Staat als Akteur angerufen wurde, ist auch ein Zeichen davon, dass ein rein lokaler Gesellschaftsbezug im 19. Jahrhundert nicht mehr funktionierte, weil sich gesellschaftlich etwas verändert hatte:

Mit der Aushöhlung der subsistenzorientierten Familienwirtschaft und der wachsenden Marktabhängigkeit der Einkommen entstand und erweiterte sich die politische Betroffenheit wie umgekehrt eine lebensnotwendige Angewiesenheit auf Politik. 3

Der Staat hatte also nicht nur seine Form und seine Wirkungen verändert (wie in vielen Theorien und Untersuchungen zum Staatsausbau im 19. Jahrhundert nachzulesen ist), sondern auch seine Adressierbarkeit.

Mooser weist also auf zwei bemerkenswerte Punkte hin: Erstens ist eine auf den ersten Blick „unpolitische“ oder „traditionale“ Positionierung möglicherweise hochpolitisch – es kommt darauf an, mit welchen Politikbegriffen man an die Untersuchung geht, und ob man (implizit oder explizit) Vorstellungen von „Fortschrittlichkeit“ zu Kriterien für Politisierung macht.

Zweitens: Im Anschluss an Mooser könnte man die These aufstellen: Der Wandel von Staatlichkeit hat auch etwas mit dem Wandel von Wahrnehmungen, Erwartungen und Ansprüchen nicht-staatlicher Akteure zu tun. Staatlichkeit und Politik sollten als (sich verändernde) Relationen untersucht werden.

Beide Hinweise sind – blickt man auf das Veröffentlichungsdatum des Buches – nun also keineswegs neu, aber ich sollte sie im Kopf behalten. Wir werden sehen, welche Ergebnisse ich damit für die Zeit nach 1848 zutage fördern kann.

  1. Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984
  2. Brakensiek, Stefan: "Ländliche Klassengesellschaft. Eine Relektüre", in: Maeder, Pascal/Lüthi, Barbara/Mergel, Thomas (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Moser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 27-42
  3. Mooser, Klassengesellschaft, 365

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/282

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Projektbeschreibung: Übergangsgesellschaften. Zur Politik und Politisierung ländlicher Gesellschaften in Mitteleuropa, ca. 1850-1950

Das neue Jahr hat längst begonnen, und damit auch ein neues Blog-Jahr. Ich beginne es mit guten Vorsätzen (die ich jedoch für mich behalte), und mit einer aktualisierten Beschreibung meines Forschungsprojekts. Seit einigen Wochen ist dieser Text auch auf meiner dienstlichen Homepage zu lesen; hier hoffe ich vor allem auf neue, andere Leser – und auf Kommentare, Hinweise, Diskussionen. Ich freue mich auf ein reges 2014!

Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit regionalen und nationalen Eigenzeiten, wandelten sich mitteleuropäische Gesellschaften von Agrar- zu Industriegesellschaften, wobei regional und national große Unterschiede zu beobachten sind. Diese Transformationen betrafen längst nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern wirkten sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Wie Gunther Mai gezeigt hat, verlief die „agrarische Transition“ etwa im politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, was zu Ungleichzeitigkeiten, Spannungen und Konflikten führte. Ausgehend von diesen Überlegungen zur Makroebene europäischer Gesellschaften setzt mein Projekt auf der Mikroebene an und fragt danach, ob, und wenn ja, in welchen Formen, diese agrarische Transition in lokalen Kontexten stattfand und sich niederschlug. Ich frage danach, wie ländliche Mikrogesellschaften, genauer gesagt agrarisch geprägte Dorfgemeinden, den gesamtgesellschaftlichen Wandel wahrnahmen, wie sie ihn verarbeiteten und für sich gestalteten. Dabei gehe ich zunächst davon aus, dass die Makroprozesse sich nicht eins zu eins auf der Mikroebene niederschlugen, dass andererseits aber die lokalen Mikrogesellschaften spätestens im untersuchten Zeitraum eng in größere Kontexte eingebunden waren. Das Projekt basiert nicht auf der Gegenüberstellung von Land und Stadt oder lokalen Gemeinschaften und nationaler Gesellschaft, sondern fasst ländliche Mikrogesellschaften als Kontaktzonen auf, in denen unterschiedliche Interessen und Machtverhältnisse, Praktiken und diskursive Ordnungen miteinander interferierten.

Zur Beobachtung des gesamteuropäisch feststellbaren sozialen Wandels wird in der diachron angelegten Studie der Bereich der Politik als Untersuchungsgegenstand gewählt. Zum einen dient er pars pro toto als Indikator für gesellschaftlichen Wandel in einer funktional differenzierten Gesellschaft; zum anderen kann der Bereich des Politischen als besonders dominante Sphäre im Untersuchungszeitraum ausgemacht werden: Viele soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen wurden politisiert, der politischen Bearbeitung unterworfen. Für diese Anlage des Projekts ist ein breiter Politikbegriff notwendig, der Handlungs- und Kommunikationspraktiken ebenso umfasst wie diskursive und symbolische Systeme.

Um die Komplexität politischer Prozesse im Lokalen adäquat untersuchen zu können, werden ländliche Mikrogesellschaften sowohl als politische Akteure wie auch als politische Räume begriffen:

  •  Als politische Akteure treten Dorfgemeinden vor allem als Gemeinderat oder Gemeindeverwaltung in Erscheinung. Gegenüber anderen Gemeinden, den übergeordneten Verwaltungsebenen, externen Akteuren und der eigenen Bevölkerung agieren Dorfgemeinden politisch, indem sie (vermeintliche) Kollektivinteressen artikulieren und durchzusetzen versuchen.
  • Gleichzeitig waren die Gemeinden Räume, die durch politische Prozesse und Konflikte geprägt wurden. Wer wurde durch die Dorfgemeinde überhaupt repräsentiert? Welche Machtverhältnisse strukturierten die Gemeinde? Wer handelte politisch – etwa jenseits der „großen Männer“ innerhalb des Dorfes auch Vereine und Verbände, unterprivilegierte Gruppen, die Kirchen, Unternehmen oder Touristen?

Die Studie kombiniert dabei diachrone und synchrone Ansätze. So sollen zum einen langfristige Konjunkturen sichtbar gemacht werden (etwa in der Arbeit des Gemeinderates, der Wahlbeteiligung oder auch der Partizipationspraxis), zum anderen werden „lokale Momente“ ausfindig gemacht, die als zeitliche Verdichtungen von Wandlungsprozessen und Dynamiken analysiert werden können. Umbruchphasen und Krisen, die nicht immer mit den bekannten Ereignissen der „großen“ Geschichte zusammenfallen, veränderten Handlungsoptionen und Deutungsmuster ebenso wie Gestaltungsperspektiven der lokalen Akteure.

Die Studie setzt sich mehrere Ziele:

  1. Es sollen verschiedene Formen der Politisierung in ländlichen Gemeinden identifiziert werden. Ausgehend von einem bestimmten Gemeindetypus, nämlich einem postkommunalistischen zentraleuropäischen Typ (anhand von bayerischen, elsässischen und schweizerischen Beispielen), soll der Einfluss von Selbstverwaltungstraditionen und –formen auf Politisierungsprozesse untersucht werden. Ziel ist es, sowohl diachron als auch synchron zu einer Typenbildung beizutragen.
  2. Zweitens sollen dadurch ländliche Gemeinden als wichtiger Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Mobilisierungsprozesse sichtbar gemacht werden. Gerade für den Zeitraum ab 1850 interessierte sich die Geschichtswissenschaft bislang vor allem für städtische Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse, während ländliche Mikrogesellschaften kaum beachtet wurden.
  3. Drittens dient die Studie der Erprobung globalgeschichtlicher Methodensets für die problemorientierte Bearbeitung lokaler Gesellschaften in Zentraleuropa. Welche Methoden der global studies können hier gewinnbringend eingesetzt werden? Wie können diese Methoden für die peripheren Regionen in Europa angepasst und weiterentwickelt werden?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/248

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Wolxheim – (m)eine Gemeinde im Unterelsass

Nach einem Archivaufenthalt während der Semesterferien kann ich vermelden: Ich habe eine zweite Untersuchungsgemeinde. An die Seite von Bernried am Starnberger See gesellt sich nun Wolxheim, eine kleine Gemeinde, heute im Arrondissement Molsheim, Département Bas-Rhin, etwa 20 Kilometer westlich von Strasbourg in der Nähe der Route des Vins d’Alsace gelegen.

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin)

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin); Foto: A. Schlimm

Die Auswahl einer Gemeinde für den Untersuchungsraum Elsass hat sich länger hingezogen, als ich erwartet hatte – unter anderem lag das daran, dass die Informationen über die archivalische Überlieferungslage nicht gut zugänglich waren. Wolxheim aber hat eine gute Überlieferung (im Vergleich zu anderen Gemeinden dieser Größe), wie ich jetzt weiß. Und das ist für mein Projekt ein gewichtiges Argument. Vor allem die Gemeinderatsprotokolle sind für meinen Untersuchungszeitraum lückenlos zugänglich. Warum das so wichtig ist? Hier habe ich darüber schon einmal geschrieben.

Wolxheim ist – abseits der guten Überlieferungslage – ein „ganz normales“ Dorf, nichts ist besonders herausragend oder speziell. Um 1850 hatte es rund 1000 Einwohner, meist Weinbauern, aber auch Kanalschiffer, denn es liegt am Canal de la Bruche (Breuschkanal), der bis zum Zweiten Weltkrieg als Wasserweg benutzt wurde. Dadurch und durch die geographische Lage – ca. 4,5 Kilometer vom Gerichts- und Kantonsort Molsheim entfernt – war Wolxheim nicht vollkommen isoliert. Vielmehr war es ein typisches Dorf, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend in überlokale Zusammenhänge integriert wurde und dadurch an vielen Entwicklungen partizipierte, ohne seinen dörflichen Charakter vollkommen zu verlieren.

Foto: A. Schlimm

Im Sitzungsraum in der Mairie Wolxheim; Foto: A. Schlimm

Wolxheim war darüber hinaus ein Dorf, das über eine ganze Reihe gemeindlicher Institutionen verfügte – über eine Feuerwehr zum Beispiel, auch über einen Armenrat. Um 1900 wurde eine Poststelle gegründet, und auch einen Fernsprecher und Telegraphen gab es ungefähr ab diesem Zeitpunkt. Alles in allem zeugt das von einer guten Einbindung in überlokale Kommunikationszusammenhänge bei gleichzeitiger Stärke der gemeindlichen Selbstverwaltung. Und damit ist Wolxheim – in seiner ganzen Normalität – ein guter Untersuchungsgegenstand für meine Arbeit.

Wie geht es nun weiter? Ich werde in den kommenden Monaten versuchen, die Gemeinderatsprotokolle auszuwerten und die sonstigen Archivalien, die ich als Fotografien aus Strasbourg und Wolxheim mitgebracht habe, zu sichten. Im Frühjahr geht es wohl wieder nach Wolxheim, dort wartet ein Schrank voller grob sortierter Unterlagen aus dem 20. Jahrhundert darauf, von mir durchforstet zu werden. Und dann ist da ja auch noch eine dritte Region, die ich untersuchen will … Dazu aber zu einem anderen Zeitpunkt mehr.

Auch wenn ich keine Dörfer, sondern nur in Dörfern untersuche, freue ich mich doch über mein neues Untersuchungsfeld. Willkommen, Wolxheim, auf meinem Schreibtisch, in meinem Kopf, und natürlich auch auf diesem Blog!

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/206

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Bayernwahl spezial: Die Starnberger Landtagswahl 1875

Ein Spezialartikel zur Landtagswahl in Bayern, das hatte ich mir vorgenommen. Und es wurde ein anekdotischer Rückblick ins Jahr 1875. Denn in der vergangenen Woche bin ich – eher zufällig – über ein paar Zeitungsmeldungen gestolpert, die einen ganz guten Eindruck davon vermitteln, welche Rolle die Landtagswahlen in einem bayerischen Fischerdorf wie Starnberg spielten. Gefunden habe ich die Meldungen im Starnberger See-Boten, einer Wochenzeitung, die ab 1875 in Starnberg erschien, zunächst eben nur einmal in der Woche (immer samstags), und über allerlei Amtliches und Vermischtes, vornehmlich aus Starnberg und Umgebung, berichtete.

Die erste Meldung mit Bezug zur Landtagswahl findet sich in der Ausgabe Nr. 10 (vom 3. Juli 1875, Seite 1). Dort wird in der Rubrik „Amtliches“ bekanntgegeben, dass es vor der Landtagswahl noch die Möglichkeit gibt, den notwendigen Eid auf die Verfassung abzulegen, und zwar nicht nur im Bezirksamt links der Isar in München, sondern auch in Starnberg selbst – an einem Sondertermin am folgenden Dienstag, im Landgerichtslokal. Gleichzeitig informiert der See-Bote darüber, wer eigentlich wahlberechtigt war: „Wahlfähig ist jeder volljährige Staatsangehörige, welcher dem Staate eine directe Steuer entrichtet, soferne er nicht wegen Verurtheilung der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist.“

Diese Information war dringend notwendig, denn bereits zehn Tage später, am 15. Juli, fand die Wahl der Wahlmänner statt, die Vorstufe der Landtagswahl sozusagen. Auch dieser Termin wurde wenige Tage vorher im See-Boten (Nr. 11 vom 10.07.1875, S.1) angekündigt. Punkt 8 Uhr morgens sollte es losgehen, und zwar im „Tutzingerhof“ (da bekommt das Wort „Wahllokal“ zumindest mal den richtigen Beigeschmack). Erinnert wurde daran, dass jeder, der wählen wollte, selbst anwesend sein musste: „Stellvertretung [findet] nicht statt“.

Zudem macht der See-Bote klar, welche Auswirkungen der wirtschaftliche Stand auf das Wahlrecht hat: „Jene Personen, welche bloße Einkommensteuer bezahlen, können als Wahlmann nicht gewählt werden, da nach einer hohen Ministerial-Entschließung vom 29. April 1869 die bloße Bezahlung von Einkommensteuer die passive Wahlfähigkeit zum Wahlmann bei den Landtagswahlen nicht begründet.“ (Ebd.) Man musste also auch andere Steuern als nur Einkommenssteuer bezahlen. Der Grundbesitz (und damit die Grundsteuerpflichtigkeit) dürfte es gewesen sein, die einen Bayern zum politisch voll Berechtigten machte. Wer keinen eigenen Grund und Boden besaß, konnte zwar abstimmen, aber nicht selbst Wahlmann sein. Darüber hinaus vermute ich mal: Wirtschaftliche Selbständigkeit dürfte es erst ermöglicht haben, überhaupt an der Wahlversammlung teilzunehmen. Donnerstags morgens um acht waren unselbständig Beschäftigte, auch wenn sie ein ausreichendes Einkommensteueraufkommen hatten, in der Regel wohl nicht so frei, in den Tutzingerhof zu gehen, um ihre Stimme abzugeben.

Nichtsdestotrotz, der See-Bote rief zur Wahl auf – und zu Vernunft und Besonnenheit:

„[A]n die Urwähler Starnberg’s! Mit Riesenschritten rückt jener ernste Tag immer näher an uns heran, wo wir uns zur Wahlurne zu begeben haben um aus unserer Mitte jene Männer zu wählen, welche das Vertrauen besitzen und Einsicht haben, für das Wohl und Gedeihen unseres lieben Vaterlandes entschieden mitzuwirken. Wir sollen deshalb als Staatsbürger die wenigen noch vor uns liegenden Tage nicht gleichgiltig [sic] vorübergehen lassen, ohne nicht auch den großen Wert dieser Wahl in’s Auge zu fassen; es muß deshalb jedem Bürger von uns sehr daran gelegen sein, Männer zu wählen, bei denen man sich überzeugte, daß dieselben nicht nur geistige Befähigung besitzen, sondern nebst dieser Eigenschaft auch einen festen Charakter behaupten und ihre Gesinnungen standhaft vertheidigen um nicht bei jeder Anfechtung ihre Farbe zu wechseln. – Möge diese Wahl eine unbeschränkte sein und nur auf oben Angeführtes Bedacht genommen werden.“ (Ebd.)

Schlussendlich wurde in der nächsten Ausgabe (Nr. 12 vom 17. Juli 1875, S. 1) über den Ausgang der Wahl in Starnberg berichtet. Ganz ruhig, entschlossen und gesittet sei die Wahl verlaufen. Von acht bis elf wurde gewählt, dann war alles vorbei. Offenbar kamen aber auch später noch Wähler, um ihre Stimme abzugeben – ohne Erfolg. Insgesamt wurden 248 Wahlzettel abgegeben, von denen nur 2 ungültig waren. Gewählt wurden Sigmund v. Schab, königlicher Landrichter (der übrigens auch Leiter der Versammlung gewesen war), Xaver Friedl, Ökonom und Bürgermeister der Gemeinde Percha, Joseph Halmburger, Gastgeber, Adalbert Kinzinger, Silberarbeiter, und Simon Popp, Tapezierer. Alle – abgesehen vom Richter – waren, so ist zu vermuten, Selbständige. Und alle waren, wie der Seebote berichtete, Liberale. Auf den ersten Blick stimmte Starnberg also sehr geschlossen ab. Die Meldung im Seeboten verrät aber, dass die Wahl keineswegs so eindeutig war. Denn v. Schab, der die meisten Stimmen erhielt, konnte nur 131 davon auf sich vereinen – bei 246 gültigen Wahlzetteln liegt das nur knapp über der 50%-Marke. Offenbar waren sich also die Starnberger gar nicht so einig, wer sie am besten vertreten könnte, und es scheint doch eine Konkurrenz zwischen Kandidaten gegeben zu haben.

Nun haben wir einiges über die Wahlmänner-Wahlen in Starnberg erfahren. Angesichts der geringen Informationsdichte des See-Boten war die Wahl über immerhin drei Wochen hinweg das Top-Thema im Blatt. Doch mit der Wahl der Wahlmänner war die Berichterstattung erschöpft. Über die eigentliche Landtagswahl am 24. Juli 1875, die durch die Wahlmänner ausgeführt wurde, und ihre Ergebnisse berichtete der See-Bote nicht mehr. Offenbar befand der Herausgeber dieses Thema nicht für ausreichend relevant, um darüber zu berichten und die Ergebnisse zu kommentieren. Die „große“ Politik – Landtagswahl – blieb doch zumindest in der massenmedialen Berichterstattung sehr stark auf das eigene Umfeld bezogen. Es waren die Landtagswahlen in Starnberg, über die berichtet wurde, nicht die im Königreich Bayern. Wann sich das wohl änderte?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/168

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