Provisorische Zentralgewalt und Mikrofilm, oder: Digitalisierung unserer Arbeitsgrundlagen abgeschlossen


Die 60 Filmrollen (hier jeweils zweifach hintereinander gestapelt) entsprechen knapp 20 Laufmetern Akten – oder einer Festplatte. 

Während des ersten Projektjahres hat sich die Arbeit an der Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt auf die zentrale Serie von Quellen, die Sitzungsprotokolle des Gesamt-Reichs-Ministeriums, konzentriert. Die insgesamt 185 Protokolle wurden in diesem Zeitraum vollständig transkribiert, ihre zahlreichen Beilagen in Regestenform bearbeitet. Dieser Arbeitsgang ist inzwischen abgeschlossen und es steht bereits die Kollationierung der Transkripte an. Im zweiten Jahr geht es nun an die Aufarbeitung der wesentlich umfangreicheren Sachakten aus den Registraturen der einzelnen Ministerien. Zum einen sind jene Aktenstücke nachzuweisen, auf die in den Protokollen ausdrücklich Bezug genommen wird; zum anderen werden auch weitere Stücke ausgesucht, die zu den Leitfragen unseres Projekts besonders interessante Informationen liefern können. Sie sollen als ergänzende Quellen in die Edition aufgenommen werden.

Arbeitsgrundlage sind für alle diese Tätigkeiten digitale Reproduktionen der Akten auf der Basis einer vom Bundesarchiv vor einigen Jahren durchgeführten Sicherheitsverfilmung der Bestände DB 52 bis DB 59. Dass diese Mikrofilme bereits vorhanden sind, hat uns ermöglicht, Reproduktionen in einem Ausmaß zu beziehen, das ansonsten mit den Mitteln eines verhältnismäßig bescheiden dotierten Projekts nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Die kurze Lebensdauer der Provisorischen Zentralgewalt tut ein Übriges dazu, den Gesamtumfang beherrschbar zu halten; somit befindet sich unser Projekt in der vermutlich sehr seltenen Lage, fast den gesamten schriftlichen Niederschlag einer Regierung während der Dauer ihrer Existenz als Arbeitsmaterial unmittelbar zur Hand zu haben. (Nur „fast“ den gesamten, denn es gibt da auch etliche ganze Filmrollen, auf denen nur die beim Reichsministerium der Finanzen in gewaltigen Mengen gesammelten Abrechnungen und Einzelbelege für die Verpflegung, Unterbringung und Beförderungskosten der Reichstruppen reproduziert sind. Diese und noch einige weitere kleinere Serien, die für unser Forschungsinteresse nicht relevant erscheinen, blieben bei unserer Bestellung ausgespart, um ihre Bearbeitung künftigen Forschenden mit entsprechenden Fragestellungen vorzubehalten …)

Um von dem Ganzen eine Vorstellung zu vermitteln, ein paar Zahlen: Die genannten Bestände des Bundesarchivs, entsprechend den (rekonstruierten) Archiven des Gesamtministeriums und der insgesamt sieben Einzelministerien, haben laut den Verzeichnissen einen Gesamtumfang von etwa 26 Laufmetern, entsprechend 1033 Archiveinheiten (hier in der Hauptsache Aktenfaszikel von sehr unterschiedlicher Stärke). Diese Akten haben auf insgesamt 83 Rollen Mikrofilm Platz gefunden. Davon wurden insgesamt 60 Filme im Verlauf des vergangenen Jahres für unser Projekt dupliziert und im Dezember von einem privaten Anbieter für uns digitalisiert. Das Ergebnis sind ungefähr 107.000 Bilddateien, die bequem auf eine Festplatte passen respektive über einen Webspace allen Projektmitarbeitern zur Arbeit an verschiedenen Standorten verfügbar gemacht werden können. Da in der Regel zwei Seiten nebeneinander aufgenommen wurden, sind es also grob geschätzt etwa 200.000 Seiten Akten.

Selbstverständlich werden diese Materialmengen nicht vollständig ediert und auch sicherlich nicht jede Seite letztlich überhaupt von uns gelesen. Das alles in digitaler Form rasch greifbar zu haben, bedeutet allerdings eine enorme Erleichterung und Beschleunigung der Arbeit. Ein Beispiel: Das Protokoll der 82. Sitzung vom 22. Januar 1849 ist keines der besonders langen; es umfasst zehn Tagesordnungspunkte. Von den Aktenstücken, über die dabei verhandelt wurde, liegen fünf als Beilagen und Unterbeilagen in unmittelbarer Verbindung mit dem Protokoll vor. Verwiesen wird allerdings, nur zum Teil unter Nennung von Aktenzahlen, noch auf zwölf weitere Schriftstücke, die sich auf acht verschiedene Archiveinheiten in den Beständen von fünf Ministerien verteilen. Obwohl die Inventarisierung eine recht genaue ist, musste in einigen Fällen in mehreren Archiveinheiten mit verwandten Betreffen gesucht werden, um die fraglichen Stücke zu lokalisieren. Es kann getrost davon ausgegangen werden, dass diese Auffindung mehrere Tage gedauert hätte, wäre sie an Ort und Stelle im Bundesarchiv durch Bestellen, Ausheben und Durchsehen der Originalakten vorgenommen worden. Mit dem Fundus von 60 Filmrollen und einem Lesegerät ginge es deutlich schneller  aber die Zeitverluste für das Einlegen, Vor- und Rückspulen und Auswechseln der Rollen wären immer noch beträchtlich, und um mehr als ein Bild auf einmal anzusehen, müssten sie dann noch gescannt oder ausgedruckt werden. Mit dem Aktenbestand als Digitalisate auf der Festplatte hingegen war die Auffindung sämtlicher Stücke ohne Schwierigkeiten innerhalb eines Nachmittags zu bewältigen. Diese Überlegungen flößen erheblichen Respekt vor den Bearbeitern existierender Regierungsprotokoll-Editionen ein, die oft noch vor wenigen Jahren die geschilderten Aufgaben auf genau die Art und Weise erledigen mussten, von der wir jetzt froh sind, sie uns ersparen zu können.

Das bedeutet freilich nicht, dass mit dem Finden auch schon die editorische Bearbeitung erledigt wäre. Es gibt noch genug Dinge, die uns kein Computer abnimmt.

Und warum heißt der Beitrag nun nicht „Provisorische Zentralgewalt und Digitalisierung“? Auf dieser Plattform hat vor kurzem, angestoßen durch diesen Beitrag von Marc Mudrak, eine längere und teils recht kontroverse Diskussion über den Mikrofilm als Speichermedium stattgefunden und über die Forderung jenes Autors, dass „Mikrofilme endlich aus den Archiven verschwinden müssen“. Auch wenn dazu schon einiges nach beiden Seiten vorgebracht worden ist, können ein paar Sätze auf der Basis unserer jüngsten Erfahrungen vielleicht noch hilfreich sein. Die Erlebnisse, die Mudraks Äußerung veranlassten, sind wohl fast allen historisch Forschenden bekannt wer hat sich noch nicht darüber geärgert, eine Quelle nicht im Original, sondern auf Film benutzen und dabei die verschiedenen in jenem Beitrag aufgezählten Unannehmlichkeiten auf sich nehmen zu müssen? Und doch sei hier angemerkt, dass möglicherweise einige von diesen Ärgernissen dem Speichermedium Mikrofilm nicht ganz zu Recht angelastet wurden, weil sie mit ihm nicht unbedingt in ursächlichem Zusammenhang stehen.

Nicht zu leugnen ist, dass bei manchen Quellentypen schwerwiegende Informationsverluste schon durch die Schwarzweißaufnahme eintreten rubrizierte oder gar illuminierte Handschriften wären ein schlagendes Beispiel. Im Gegensatz dazu sind aber gerade die in besonders großen Quantitäten überlieferten Archivalien, das Massenschriftgut der neuzeitlichen Amtsstuben, in vielen Fällen auch in Schwarzweiß unproblematisch zu benutzen; so die Akten der Provisorischen Zentralgewalt.

Nur auf den ersten Blick einsichtig ist, dass gegen „den Mikrofilm“ gewettert wird, weil schlechte Erfahrungen mit verwischten, schlecht belichteten, zu kleinen, unvollständigen oder sonstwie mangelhaften Aufnahmen gemacht wurden. Das liegt in der Hauptsache nicht am Speichermedium, sondern entweder am Aufnahmegerät oder an der Sorgfalt der Person, die dieses bedient. Wer etwa schon in irgendeinem Umfang alte Druckwerke via Google Books benutzt respektive zu benutzen versucht hat, kann rasch bestätigen, dass unlesbare, verwischte oder an den Rändern beschnittene Aufnahmen, übersprungene Seiten, mangelhafte oder nicht stattfindende Qualitätskontrolle keineswegs eine ausschließliche Domäne des Analogen sind. Von den 185 Sitzungsprotokollen der Provisorischen Zentralgewalt fehlt im Übrigen eine einzige Aufnahme auf dem Mikrofilm, zwei weitere sind wegen Überbelichtung nur teilweise lesbar.

Ähnliches gilt für die Beschwerde über unsystematische oder willkürliche Auswahl der Stücke zur Verfilmung, ungenaue oder irrige Katalogisierung der Filme. Alles das gibt es natürlich, und natürlich ist es hinderlich, aber es hat mit Mikrofilm per se rein gar nichts zu tun. (Was oben über Google Books steht, ist hier sinngemäß anwendbar. Man vergleiche dann mit kompetent gemachter Digitalisierung alter Bücher z.B. durch die Staatsbibliotheken in München oder Göttingen.)

Beklagt wird weiters, Mikrofilm sei schwierig und teuer zu reproduzieren. Gemeint ist damit allerdings nur die händische Anfertigung von Papierabzügen durch den Benutzer am Lesegerät, für welche die Klage auch zutreffend ist. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass eine Digitalisierung größerer Mengen auf der Basis eines schon vorhandenen Mikrofilms maschinell weitaus schneller, billiger und weniger fehleranfällig ist als jene auf Basis der Originale siehe unsere oben geschilderten Erfahrungen. Eine brauchbare Qualität der Mikrofilmaufnahmen vorausgesetzt, kann deren Existenz ein großes Glück sein. Wir hätten, wie gesagt, jene 100.000 Bilder keineswegs bezahlen können, wenn sie erst neu zu machen gewesen wären.

Der größte unbestreitbare Nachteil des Mikrofilms ist die Mühseligkeit und Langsamkeit seiner Benutzung am Lesegerät. Unser Projekt hat genau aus diesem Grund die bezogenen Filmrollen gleich als erstes digitalisieren lassen. Wenn es in nicht allzu ferner Zukunft möglich wird, dass Mikrofilm zwar nicht aus den Archiven, wohl aber aus deren Lesesälen verschwindet, weil zur Benutzung digitale Versionen vorliegen, wäre das sicherlich zu begrüßen. Die Frage seiner Zweckmäßigkeit als langfristiges Speichermedium steht auf einem anderen Blatt. Sie wird erst dann entschieden sein, wenn sichergestellt ist, dass digitale Speicherung auf sehr lange Laufzeiten womit der Bereich von 50 bis 100 Jahren oder noch darüber gemeint ist analoge Medien an Sicherheit und Kostengünstigkeit erreicht. Bis dahin sind auch die beträchtlichen Mengen an Mikrofilmen, die in den Bibliotheken und Archiven im Laufe der vergangenen Jahrzehnte angelegt worden sind, eine Ressource, die nicht einfach abgeschrieben werden sollte.

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/82

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