Historisches Denken. Lernprozessdiagnose statt Leistungsmessung

 

“If you wish to improve teaching and learning, you have to attend to teaching and learning.” Mit diesem Statement regt Bruce A. VanSledright dazu an, eine einseitige Fixierung auf Fragen der Leistungsüberprüfung und Kompetenzmessung im Large-Scale-Format zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf Aspekte der Lernprozessbeschreibung und -diagnostik zu durchbrechen. Nur auf diese Weise, so VanSledright, könne man Lehrer und Schüler erfolgreich darin unterstützen, Geschichte zu lehren und zu lernen, und nur auf diese Weise lasse sich Geschichtsunterricht substantiell verbessern.

 

 

Fragebögen als Basis didaktischer Handlungsempfehlungen?

VanSledrights Position1 ist zwar nicht vollkommen neu, aber sie ist ‒ gerade in ihrer Zuspitzung ‒ zweifellos relevant. Verdeutlichen lässt sich das u.a. an den Publikationen des Berliner Politikwissenschaftlers Klaus Schroeder. Eigentlich ist zu den Schroeder-Studien seit langem alles gesagt: Theoriedefizite, Methodenmonismus, eindimensionale und daher apodiktisch anmutende Befunde.2 Trotzdem versucht Schroeder, LehrerInnen zu erklären, „wie guter Geschichtsunterricht gelingen kann“. Über dieses Thema diskutierte er vor kurzem im Deutschlandfunk mit Peter Droste und Alfons Kenkmann.3 Genau genommen war es gar keine Diskussion, denn Schroeder beschränkte sich auf ein zuvor aufgezeichnetes Eingangsstatement, das sich als “Sternstunde” geschichtsdidaktischer Reflexion erwies.4 Beispielsweise schlägt er vor, den Anteil zeitgeschichtlicher Themen deutlich zu erhöhen ‒ und das, obwohl Antike und Mittelalter in den meisten Lehrplänen ohnehin schon deutlich an Gewicht verloren haben und obwohl Zeitgeschichte (je nach Definition) klar dominiert. Außerdem setzt Schroeder auf Wiederholungen (“Wenn ein Stoff […] wiederholt wird […], [bleibt] mehr hängen […].”). Repetitio est mater studiorum. Diese auf Cassiodor zurückgehende Einsicht findet man auch bei Wikipedia ‒ in der “Liste lateinischer Phrasen/R”.5 Und mit Blick auf Gedenkstättenbesuche empfiehlt Schroeder eine gründliche Vor- und Nachbereitung. Die Aufzählung der Binsenweisheiten ließe sich mühelos verlängern. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass Schroeder und sein Team Geschichtsunterricht als solchen gar nicht untersucht haben. Ihr Haupterhebungsinstrument sind geschlossene Fragebögen (Multiple-Choice; Likert-Skalen). Allein auf dieser Grundlage beruhen die Messergebnisse und die daraus abgeleiteten didaktischen Handlungsempfehlungen.

Messeuphorie nach PISA: Cui bono?

Ebenso wie andere Fachdidaktiken hat auch Teile der Geschichtsdidaktik im Gefolge von PISA eine bemerkenswerte Messeuphorie erfasst.6 Jörn Rüsen definiert Geschichtsdidaktik bekanntlich als “Wissenschaft vom historischen Lernen”,7 nicht ‒ so könnte man zugespitzt formulieren ‒ als Wissenschaft der historischen Leistungsmessung. Das ist zwar keine grundsätzliche Absage an Versuche, historische Lernleistungen bzw. Kompetenzen empirisch zu erfassen, aber es ergeben sich doch wichtige Fragen: Lassen sich zentrale historische Kompetenzen im Large-Scale-Modus zuverlässig messen und graduieren? Gibt es dafür entsprechende Aufgabenformate? Und, wenn ja, welche Vorteile hat diese Form des Assessments? Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen der US-amerikanischen Bildungswissenschaftler James Pellegrino, Naomi Chudowsky und Robert Glaser:

“A second issue concerns the usefulness of current assessments for improving teaching and learning – the ultimate goal of education reforms. On the whole, most current large-scale tests provide very limited information that teachers and educational administrators can use to identify why students do not perform well or to modify the conditions of instruction in ways likely to improve student achievement. […] Tests do not reveal whether students are using misguided strategies to solve problems or fail to understand key concepts within the subject matter being tested. They do not show whether a student is advancing toward competence or is stuck at a partial understanding of a topic that could seriously impede future learning. Indeed, it is entirely possible that a student could answer certain types of test questions correctly and still lack the most basic understanding of the situation being tested, as a teacher would quickly learn by asking the student to explain the answer.”8

Unterrichtsverbesserung durch Lernprozessdiagnose

Messung im Large-Scale-Modus allein reicht also nicht aus. LehrerInnen und GeschichtsdidaktikerInnen haben die mindestens ebenso wichtige Aufgabe, historische Lehr-Lernprozesse zu verbessern (“improving teaching and learning”). Dazu müssen sie wissen, an welchen Hürden diese Prozesse immer wieder scheitern (“identify why students do not perform well”). Zu diesem Zweck wiederum bedarf es offener Aufgabenformate. Und nicht zuletzt sollte man mit SchülerInnen über die “Ergebnisse” ihrer Aufgaben ins Gespräch kommen (“learn by asking the student to explain the answer”). Nur auf diese Weise lässt sich nämlich in Erfahrung bringen, vor welchen Herausforderungen sie stehen, wenn sie historisch denken wollen oder sollen. Und erst auf dieser Grundlage wiederum ist ein Beitrag zur Verbesserung von Lehr-Lernprozessen und Geschichtsunterricht möglich. Das ist die zentrale Aufgabe praxisrelevanter geschichtsdidaktischer Forschung. Messung und Quantifizierung im Large-Scale-Format sind zwar möglicherweise nicht vollkommen überflüssig. Wer aber dafür sorgen will, dass Unterricht gelingt, der muss ‒ anders als Klaus Schroeder ‒ auf individuelle Diagnose und die Analyse von Lehr-Lernprozessen setzen. “If you wish to improve teaching and learning, you have to attend to teaching and learning.”9

 

 

Literatur

  • Köster, Manuel et al. (eds.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions, Schwalbach/Ts. 2014.
  • Pellegrino, James W. et al. (eds.): Knowing what Students Know. The Science and Design of Educational Assessment. 2nd ed. Washington, DC 2003.
  • VanSledright, Bruce A.: Assessing Historical Thinking and Understanding. Innovative Designs for New Standards, New York/London 2014.

Externer Link

 



Abbildungsnachweis
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Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Historisches Denken. Lernprozessdiagnose statt Leistungsmessung. In: Public History Weekly 2 (2014) 19, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2058.

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