Ins Abseits digitalisiert ?

volkskalender-5619-titelblatt-bwWürde tatsächlich (noch) jemand den 1858 erschienenen Volkskalender und Jahrbuch für Israeliten auf das Jahr 5619 (1859) suchen ? Wenn ja, er wird den Band in kaum einer Bibliothek finden. Diese Art von Gebrauchsdrucken ist nur selten aufgehoben worden, und entsprechend rar, gleichwohl durchaus von historischem Interesse.

So scheint also diese Ausgabe kaum erreichbar zu sein, die Recherche in den gängigen Online-Katalogen liefert nur wenige Treffer. Die Bibliothek des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden besitzt ein Exemplar, ein weiteres findet sich in der Germania Judaica in Köln, beide Präsenzbestand.

Dabei gibt es sogar ein uneingeschränkt zugängliches Digitalisat ! Denn ein Exemplar aus Harvard kann man bei Google Books einsehen. Das war natürlich ein Zufallsfund (denn die Katalogrecherche erbrachte ja zunächst nichts Digitales), den ich 2011 im Zusammenhang mit einem Aufsatz über Ludwig Philippson1 machte — das Jahrbuch enthält eine pittureske Lebens-Skizze zu seiner Person.

Aber warum ist es so schwer zu finden ? Des Rätsels Lösung: Dieses Exemplar ist zusammengebunden mit einem ganz anderen, älteren Buch, und beide offensichtlich ›in einem Rutsch‹ gemeinsam digitalisiert worden — aber nur der vordere Teil ist mit seinen Metadaten erfasst worden: Herrmann Schmeidler, Der Untergang des Reiches Juda, 1831.2

Interessanterweise findet sich in den Metadaten die (annähernd) richtige, nur auf Schmeidlers Buch sich beziehende Umfangsangabe von 167 Seiten — das Digitalisat selbst enthält aber insgesamt 350 Seiten. Zunächst hatte ich wegen dieser Diskrepanz vermutet, dass also doch (Etwas oder Jemandem) im Digitalisierungsworkflow etwas aufgefallen war, aber nun kam mir eine simplere Idee, und siehe da, richtig: Im OPAC der Widener Library (Harvard) findet sich natürlich der Hinweis »Bound with: Volkskalendar (!) und Jahrbuch für Israeliten auf das Jahr 5619 (1859).«3

Erstaunlicherweise bekommen die großen Suchmaschinen und Aggregatoren, Google, Bing und Co., KVK und Worldcat davon nichts mit: Auf der Metadatenebene bleibt dieser digitalisierte Band des Volkskalenders verschwunden (immerhin schon seit 2008), und ist dabei doch immer nur einen Mausklick entfernt. Denn, das kommt noch hinzu: Kurioserweise wurde der Text des in gebrochener Type (»Fraktur«) gesetzten Jahrbuchs mittels automatischer OCR geradezu verblüffend gut erkannt, was mit einer Google-Suche nach eingeleitet von Dr. L. Schragge (Philippsons Pseudonym) zu illustrieren wäre. Nur das Titelblatt selbst hat sich erfolgreich aller maschinellen Versuche erwehrt, seiner Geheimnisse entrissen zu werden, so dass wir das Prachtstück natürlich gern hier abbilden.

Ein Blogbeitrag als Lückenfüller digitaler ›Regale‹ ? Warum nicht ! Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist diese Fassung des Volkskalender und Jahrbuch für Israeliten auf das Jahr 5619 dadurch nun besser und direkter zu finden. Eine Web-Annotation an der entsprechenden Stelle im ZDB-Katalog würde ihr Übriges tun, aber das hat leider dort (noch) nicht funktioniert.4

Volkskalender und Jahrbuch für Israeliten auf das Jahr 5619 (1859.) Herausgegeben von K. Klein. Siebenzehnter Jahrgang. Mainz. Le Rour’sche Hofbuchhandlung. 1859. [nicht fortlaufend paginiert] Enthält u.a.:

  • [Kalendarium] S. 3–23
  • Aristobul, der letzte Hasmonäer. Von Stadtrabbiner Präger in Mannheim, S. 3–28
  • Die Confirmation im Israelitenthume. 2. Artikel. Vom Ober-Rabbiner Dr. Aub in Mainz, S. 28–50 [S. 51–54 fehlen im Digitalisat]
  • Humanes Benehmen von Christen gegen Juden während des Mittelalters. Ein historischer Nachweis von Dr. M. Wiener, Oberlehrer in Hannover, S. 55–61
  • Spinoza, ein Denkerleben von Berthold Auerbach. Beurtheilt von Dr. Grünebaum, Bezirksrabbiner in Landau, S. 74–99
  • Ludwig Philippson, eine Lebens-Skizze. Verfasst von Lehrer Alexander Elsäßer in Jebenhausen, S. 99–121
  • Zur Geschichte der Juden in Frankfurt a. M. [“Auszug einiger mit besonderen Umständen begleiteter Todesfälle aus dem Sterberegister …”] Mitgetheilt von Elias Ullmann, Secretär der Gemeinde, S. 123–126

 

  1. Harald Lordick / Beata Mache: »… nahm in Hauptsachen so entschieden das Wort« — Ludwig Philippson, Rabbiner und Publizist 1811–1889, in: Kalonymos 14.2011, Heft 4, S. 1–6, auch online als PDF
  2. Der Untergang des Reiches Juda: ein historisch-kritischer Versuch von Jo. C. Herrmann Schmeidler, Breslau: Georg Philipp Aderholz 1831.
  3. Ebenso bei Hathi Trust, wenn man dem Link View full catalog record folgt.
  4. Das wäre eine für die Nutzer sicher hilfreiche Ergänzung, denn immerhin findet man über den Katalog auch noch den Jahrgang 21.1864 als Digitalisat.

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/565

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Lazarus Bendavid ›annotiert‹


Früher mit »spitzer Feder«, heute mit »Annotator« ?

Abb. 1: Digitalisierte Briefe von Lazarus Bendavid im Leopold-Zunz-Archiv

1. Digitalisierte Briefe von Lazarus Bendavid im Leopold-Zunz-Archiv

[→ abstract] Als ich 2013 einen Vortrag Jüdische Bibliophilie vorbereitete,1 stieß ich in der herausragenden Sammlung DigiBaeck auf die Selbstbiografie von Lazarus Bendavid. 2 Das eher bescheiden daherkommende (weil schon ältere) Digitalisat hatte zwar vom äußeren Anschein her weniger mit meinem damaligen Thema zu tun, es weckte aber mein Interesse — trotz oder gerade wegen des Fragezeichens in den Metadaten: »With manuscript additions and corrections by the author (?)«. Schaut man sich das genauer an, kommt man zu dem Schluss: Es kann sich nur um die »Fahnen«3 der 1806 publizierten Autobiografie Bendavids4 handeln, denn im schließlich gedruckten und veröffentlichten Exemplar, das ich per Fernleihe aus der SUB Göttingen beschaffen und einsehen konnte,5 finden sich diese von Hand angebrachten Korrekturanweisungen durchgängig umgesetzt.

2. Digitalisierte Fahnen der Selbstbiografie Bendavids

2. Digitalisierte Fahnen der Selbstbiografie Bendavids, annotiert

3. Metadaten der Autobiografie Bendavids, annotiert (SUB Göttingen)

3. Metadaten der Autobiografie Bendavids, annotiert (SUB Göttingen)

4. Eingabe einer Annotation mit Annotator (Titelkupfer, Jewish Theological Seminary)

4.  Annotieren mit Annotator (Titelkupfer, Jewish Theological Seminary)

Es ist naheliegend, dass Bendavid als Autor selbst die Fahnen korrigiert hatte, weitere Evidenz verschaffte der Vergleich der Handschrift mit seinen wenigen erhaltenen, ebenfalls digitalisierten Briefen.6 Bendavid erweist sich hier jedenfalls als durchaus geübter Redakteur, dem Fachsprache und -zeichen hinsichtlich Typografie, Drucksatz und -korrektur offensichtlich geläufig waren. Daraus ist ein Beitrag für die Zeitschrift »Kalonymos« entstanden.7

Bendavids eigenhändige Korrekturen in den Fahnen seiner Selbstbiografie

5. Bendavids eigenhändige Korrekturen in den (digitalisierten) Fahnen (PDF) seiner Selbstbiografie — Warum nicht direkt dort annotieren ?

Annotationen können, darum geht es mir hier, nach langer Zeit noch oder wieder von Interesse oder Bedeutung sein, und die Fahnen der Autobiografie sind ein augenfälliges Beispiel dafür. Und es gibt Bedarf, diesen Annotationen weitere hinzuzufügen. Auf Anhieb wird vielleicht nicht jeder lesen können, was Bendavid auf S. 66 notierte (Abb. 5): »Sollte es nicht möglich seyn, diesen Hurensohn8 hinüber zu bringen. Ich glaube es geht, wenn Sie so setzen, wie ich gezeichnet habe.« Der Korrekturbogen enthält zudem großflächige Streichungen, die sich ebenfalls nicht von selbst erschließen.

Warum jedoch das Erkannte und Entzifferte nicht gleich dort, direkt in der Quelle anmerken? Und an den Fahnen die Notiz anbringen, dass und wo die regulär erschienene Fassung zu finden ist. Und dort notieren, dass es weitere digitalisierte Dokumente in anderen Sammlungen, die ein Licht hierauf werfen, und eben auch Sekundärliteratur dazu gibt. Und all das möglichst sofort mit anderen Forschern teilen!

Versammelte Annotationen

6. Versammelte Annotationen

Mir scheint, dass Martin Raspe exakt dieses Szenario (auch) adressiert hat. »Eine Online-Ressource sollte den Benutzer durch „backlinks“ zu den referenzierenden Stellen in Werken / Datenbanken verweisen können.«9 Und mir scheint, dass das Softwareprojekt Annotator ein vielversprechender Ansatz ist. Die Abbildungen in diesem Blogbeitrag illustrieren, wie das funktionieren kann. Ein sogenanntes »Bookmarklet« (Abb. 6) erlaubt es, Annotationen scheinbar direkt auf den (ja tatsächlich nicht editierbaren, ›fremden‹) Webseiten anzulegen10 (hier Digibaeck, Göttinger Digitalisierungszentrum, Jewish Theological Seminary sowie Leopold-Zunz-Archiv, Abb. 1–4) und führt sie unter dem eigenen Account zusammen (Abb. 6). Annotationen können — müssen aber nicht — geteilt werden (Abb. 4). Statt also die Publikation, die diese Zusammenhänge herstellt, kennen zu müssen, findet der Leser deren Anmerkungen und Fußnoten jeweils an die referenzierten Quellen ›angeheftet‹ und zugleich zentral ›verwaltet‹ — ein Netz über dem »Netz«. Das Plug-in-Konzept lässt hoffen, dass auch Bildformate — die ja in digitalen Sammlungen vorherrschen, wenn man von den Metadaten absieht — sowie PDFs unterstützt werden.

Dies ist nur ein Szenario dieses faszinierenden Konzepts. Die maßgeblich von der Open Knowledge Foundation entwickelte Software wird von etlichen Projekten weiter vorangetrieben. Gerade auch wegen der vielfältigen Anwendungsperspektiven und des generischen Charakters hat eine Arbeitsgruppe von DARIAH-DE (der ich angehöre) nun eben diesen Annotator zur Integration in die »Digitale Infrastruktur für die Geisteswissenschaften« ausgewählt und Anregungen zur Anpassung im Rahmen einer geisteswissenschaftlichen Forschungsumgebung formuliert und veröffentlicht.11 Man darf gespannt bleiben auf die Weiterentwicklung dieser für die Geisteswissenschaften äußerst attraktiven Technik.

Lazarus Bendavid (1762--1832) (Wikimedia Commons, public domain)

Lazarus Bendavid (1762–1832) (Wikimedia Commons, public domain)

Abstract: There are some old and rare sources concerning the Jewish philosopher Lazarus Bendavid. These are now digitized and available on the web. By means of the software Annotator a connection between these digital documents can be made ​​and shared with other readers. The paper illustrates this approach. With respect to the various possible use cases a working group of DARIAH-DE has published a proposal to integrate »Annotator« into the Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities.

  1. Jüdische Bibliophilie und ihre Schätze im Web, Vortrag im Seminar »Buch im Judentum | Judentum im Buch. Bibel – Bibliotheken – Bibliophilie«, Steinheim-Institut, 14. Mai 2013.
  2. Fahnen der Selbstbiografie von Lazarus Bendavid auf DigiBaeck http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=135737
  3. »Korrekturbogen« insbesondere in Zusammenhang mit den klassischen Druckverfahren.
  4. Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographieen. Herausgegebenen von Moses Samuel Lowe. Zweite Sammlung. Berlin: J.F. Starcke und Leipzig: J.G. Mittler 1806.
  5. Dem ›Medienbruch Fernleihe‹ konnte ich übrigens für die Zukunft abhelfen, indem ich das Göttinger Exemplar als »Digiwunschbuch« (gegen eine angemessene Gebühr) digitalisieren ließ. URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN756272378
  6. Teilnachlass von Lazarus Bendavid, Leopold-Zunz-Archiv http://www.jewish-archives.org/
  7. Harald Lordick: Porträt eines Typografen — Eine aufschlussreiche Quelle zu Lazarus Bendavid und Moses Samuel Lowe, in: Kalonymos 2013, Nr. 2, S. 7-11 http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2013_2.pdf#page=7 Vgl. auch „Großartig urbane Bildung“. Der Aufklärer Lazarus Bendavid, in: Kalonymos, 15 (2012), H. 3, S. 6–10 (mit Beata Mache) http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2012_3.pdf#page=6 (Vor wenigen Jahren noch hätte man für die erforderlichen Archiv- und Bibliotheksrecherchen weit reisen müssen, wenn man die genannten Raritäten und Unikate überhaupt in die Hand bekommen hätte — wenn das kein der Digitalisierung zu dankender Fortschritt ist!)
  8. Es muss eigentlich ›Hurenkind‹ heißen (Bezeichnung aus der Setzersprache für eine als Satzfehler geltende alleinstehende Zeile am Seitenbegin). Nebenbei ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig bei Digitalisierungen das Bereitstellen von Seitenabbildern ist. Denn ob ein beanstandeter Umbruch tatsächlich korrigiert worden war, das war keiner der sekundären Textfassungen der »Selbstbiografie«, online oder gedruckt, anzusehen — nur dem Originalband selbst.
  9. Martin Raspe: Perspektiven der Forschung – PDF? Digitale Bildwissenschaft zwischen gestern und morgen http://www.digitale-kunstgeschichte.de/w/images/0/01/Raspe-PerspektivenDerForschung-PDF.pdf. Vortrag in der Sektion »Bedrohte Besitzstände, verlorene Werte? Die Geisteswissenschaft von der Kunst und die neuen digitalen Verfahren«, DHd 2014. http://www.digitale-kunstgeschichte.de/w/images/0/01/Raspe-PerspektivenDerForschung-PDF.pdf#page=23
  10. Webseitenbetreiber können Annotator selbstverständlich auch direkt einbinden und die Annotationsfunktion damit ihren Lesern anbieten.
  11. Vgl. »DARIAH-DE annotation service« https://dev2.dariah.eu/wiki/x/Sg8CAg (DARIAH-DE (BMBF), Cluster 6 »Annotationen«).

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/360

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Digitale Spuren der Soncino-Gesellschaft

soncino-signetDas Jahr 1932 brachte die letzte Versammlung der Soncino-Gesellschaft, die NS-Zeit erzwang ihr sang- und klangloses Ende. Bis dahin aber, in kaum zehn Jahren, hatten die »Soncinos« weit über hundert nachgewiesene, meist kleinere, aber auch etliche stattliche Drucke befördert, heute rare und gesuchte Stücke — und damit eine den eigenen Zielen mehr als entsprechende Wirksamkeit entfaltet. Am 15. Mai 1924 hatte sich in Berlin diese Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches gegründet. Angeregt von dem Studenten Herrmann Meyer machte es sich der bibliophile Verein zum Ziel, das Buchwesen als Kulturleistung zu fördern und dem anspruchsvollen jüdischen Buch zur adäquaten Form zu verhelfen. Das Wirken dieser Gesellschaft hat naturgemäß zu (Buch-) Drucken geführt, mittlerweile können wir aber auch online und frei zugänglich ihren Spuren nachgehen.

Im redaktionellen Teil des Jüdischen Adressbuchs für Groß-Berlin 1931 (S. 89) lesen wir einen Eintrag über die Soncino-Gesellschaft (siehe nachstehende Abbildung) und, in aller Kürze, das Programm: »Der Verein erstrebt die Förderung des guten und schönen jüdischen Buches. Er fordert die Beobachtung der Postulate moderner Buchkultur bei der Herstellung jüdischer Bücher.«

jüdisches-adressbuch-soncino-gesellschaftDer Verein brachte es in nur wenigen Jahren auf ca. 800, nicht selten namhafte Mitglieder, auch international, so gehörten ihm etwa aus Palästina der Schriftsteller Chaim Bialik oder Salman Schasar (der spätere Präsident Israels) an. Besonderes zahlreich waren die Mitglieder natürlich aus Berlin, und so finden wir viele von ihnen im Jüdischen Adressbuch. Es ist auch für die Provenienzforschung, insbesondere im Zusammenhang anderer Quellen von Interesse, etwa der mehrfach gedruckten (1924, 1927), aber heute kaum zu beschaffenden Mitgliederlisten der Soncino-Gesellschaft — die aber leider (noch) nicht digital zu finden sind. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: In den Digital Collections des Center for Jewish History New York (CJH) können wir einen Archivbestand betrachten, der einen maschinenschriftlichen Entwurf (mit handschriftlichen Bearbeitungen) des ersten Mitgliederverzeichnisses und etliche weitere Raritäten enthält.

Ulrich Heider hat 2006 ein ansprechendes und sympathisches Büchlein herausgegeben1 — in seiner Anmutung den Soncino-Notizen nachempfunden, selbst ein bibliophiles Kleinod (auch wenn es gelegentliche Druckfehler enthält und ein hebräisches Titelblatt auf den Kopf stellt).2 Es enthält die bisher umfangreichste Bibliografie der Drucke der Soncino-Gesellschaft.3 Rainer Fürst und Klaus Schreiber haben dies Bändchen zu recht ernst genommen — aus ihrer (bibliothekarisch geprägten) kritischen Perspektive hat es dabei allerdings manche Feder lassen müssen. Empfehlens- und nachlesenswert ist ihre Rezension, online als PDF erhältlich, weil sie für den interessierten »Soncino-Forscher« sehr kundige und weiterführende Hinweise bietet. Interessant ist auch die Einschätzung, dass noch »keineswegs die definitive Bibliographie der Publikationen der Soncino-Gesellschaft vorliegt«.

Zu den Überraschungen (und zum digitalen Fortschritt) gehört, dass man heute vom Desktop aus zu dieser wünschenswerten Bibliografie noch etwas beitragen könnte. Denn wiederum in der Sammlung des CJH stoßen wir auf das folgende Buch als Soncino-Publikation, das man dort betrachten und sogar als PDF herunterladen kann:

Der Prophet Jona. Zweiter in der Judith-Type hergestellter Druck der Ernst Ludwig Presse. Übertragung von Martin Luther. Holzschnitte von [Adam] Antes. Darmstadt: Kleukens 1924. Von diesem Werk wurden einhundert Exemplare und zwar die Nummern 41 bis 90 und 191 bis 240 als erste Sonderpublikation der Soncino-Gesellschaft … ausgegeben.

»Jona« ist nicht nur optisch, sondern auch herstellungstechnisch (die Lettern sind in die Holzdruckplatte geschnitten), sehr interessant, anschauen lohnt sich. Heider führt allerdings nur den Judith-Band (1923/1925) unter Sonderpublikationen auf, für den eine in jeder Hinsicht eigene Type entworfen und entsprechend benannt worden war. Beide Drucke scheinen in der Gesamtschau eher untypisch für die Soncino-Gesellschaft, aber sie waren ja in dieser frühen Phase aus der Produktion der Ernst Ludwig Presse »nur« übernommen.

1929 aber hatte die Soncino-Gesellschaft mit der Ausgabe des Buches Sirah eine eigene Linie gefunden. Abraham Horodisch notierte zur neuesten Publikation, dass nun »zum ersten Male das Hauptgewicht auf graphische Schöpfungen eines zeitgenössischen jüdischen Künstlers gelegt« war. Jeweils auf Doppelseiten finden wir darin die Illustrationen, die »prägnanten« Holzschnitte von Jakob Steinhardt, gruppiert mit den hebräischen Lehrsprüchen und ihren deutschen Übersetzungen. »Nur wer die Technik des Setzens kennt, vermag zu Ermessen, welche Schwierigkeiten zu überwinden waren, wieviele Versuche verworfen werden mussten, bis das erwünschte Seitenbild erreicht war.«4

Selbst heute, mit digitalen Methoden, ist ein solches Unterfangen eine keineswegs leichte Aufgabe, und Software, die hochwertigen und ohne Einschränkung auch hebräischen Satz unterstützt, keine Selbstverständlichkeit. Auch dieses Werk können wir bei CJH in Farbe betrachten und als PDF (schwarzweiß) herunterladen (und noch ein weiteres, Noemi, ebenfalls von Jakob Steinhardt illustriert, der 1929 zudem Mitglied des Vereins wurde).

Die buchkünstlerischen Eigenschaften wird man am Digitalisat allerdings kaum erahnen, geschweige denn erfahren können: So liest man gern auf der Seite des Jüdischen Museums Berlin die Beschreibung der dort »nahezu vollständig« vorhandenen Soncino-Sammlung, und dass sie im Lesesaal zugänglich ist. Das ist auch deshalb ein besonderer Bestand, weil er aus dem Nachlass des Gründers selbst, Herrmann Meyer (Mitgliedsnummer 1), stammt.

lesebuch-vignetteNicht weniger wichtig ist die Judaica-Sammlung Frankfurt. Auch sie hält einige bemerkenswerte Ausgaben der Soncino-Gesellschaft bereit, die insbesondere mit dem aktiven und wegweisenden Wirken von Aron Freimann im Verein zusammenhängen: Dazu zählen die Fabeln des Kuhbuches, die Satzungen der Soncino-Gesellschaft (1924), die Festschrift für Aron Freimann. Ebenfalls vorrätig ist das Lesebuch für jüdische Kinder. Zum Besten der jüdischen Freyschule (ursprünglich Berlin 1779) von David Friedländer (Titelvignette nebenstehend). Es galt in den 1920er Jahren weithin als verschollen, bis es Moritz Stern 1927 als Faksimile für die Soncinos neu herausbrachte. Wer in der Frankfurter Sammlung einfach mal stöbert, der stellt fest, dass sich die Recherche als Volltextsuche auf die mittlerweile integrierten Bestände jüdischer Periodika von compactmemory ausdehnt — prima!

Ernst Fischer hat 2002 festgestellt, online nachzulesen: »Viele Fragen stehen unbeantwortet im Raum: Was ist aus den Bücherschätzen der 700 bis 800 Mitglieder der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches geworden«?5. In diesem Zusammenhang fällt besonders das vorbildliche Unterfangen Provenienz-Wiki6 auf: es bietet eine von Michaela Scheibe verfasste Seite zu dem Sammler Moritz Simon, Schatzmeister der Soncino-Gesellschaft, der auch zwei Drucke zum Soncino-Bestand beisteuerte.

Schließlich findet sich eine Festrede von Abrahm Horodisch (PDF) auf der Jahresversammlung des Vereins in Berlin 1926 wieder in der Zeitschrift Kalonymos (Steinheim-Institut), ebenso (m)ein Beitrag Freude am schönen Buch …. Nicht zuletzt wurde es wohl Zeit, einen Artikel über die Soncino-Gesellschaft für die Wikipedia zu schreiben — der Anfang ist gemacht.

(Verfasst anlässlich des Gründungstages der Soncino-Gesellschaft vor neunzig Jahren am 15. Mai 1924).

  1. Ulrich Heider: Die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches e. V. (1924–1937) (Schriftenreihe der Kölner Antiquariatstage, Heft 1), Köln: Privatdruck 2006.
  2. Was daran erinnert, dass eine digitale Fassung ja auch die Verbesserung erlaubte.
  3. Basierend auf Abraham Horodisch: Ein Abenteuer im Geiste. Die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches, in: Bibliotheca docet – Festgabe für Carl Wehmer, Amsterdam: Verlag der Erasmus-Buchhandlung 1963, S. 181–208.
  4. Abraham Horodisch: Jakob Steinhardt. Neun Holzschnitte zum Buche Sirah, in: Mitteilungen der Soncino-Gesellschaft, Nr. 4, Februar 1929, S. 9.
  5. Ernst Fischer: Zerstörung einer Buchkultur. Die Emigration jüdischer Büchersammler aus Deutschland nach 1933 und ihre Folgen, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge XVII. Juni 2002.
  6. ProvenienzWiki – Plattform für Provenienzforschung und Provenienzerschließung

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/223

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