Hand auf’s Herz: Wer hat sich zum Jahreswechsel keine Gedanken über die eigene wissenschaftliche Zukunft gemacht? Nachdem alle Medien vor Rückblicken überquollen, ist es nun an der Zeit für einen Blick nach vorn. Und wie ich dies voller Optismus schreibe, drängt sich unwillkürlich Walter Benjamins Miniatur zu Paul Klees Engel der Geschichte in das Gedächtnis. Der eigene Blick mag nach vorn gehen, aber der Wind treibt bei Klee den zurück schauenden Engel aus dem Paradies. Und auch die laufenden Veränderungen, die die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften antreiben, wirken für viele oft als Vertreibung aus einstmals paradiesisch erscheinenden Verhältnisse.
Paul Klee: Angelus Novus, 1920.
Aquarellierte Zeichnung, 31,8 cm × 24,2 cm
Israel-Museum, Jerusalem
In Freiheit und Einsamkeit forschen, dieses alte Ideal, ist längst durch temporäre Beschäftigungsverhältnisse, gestiegene Mobilitätserwartungen, das Gutachterwesen und den Druck zur Drittmitteleinwerbung konterkariert worden. Guido Lammers hat dies im Vorfeld des Historikertags 2012 hier im gab_log sehr genau benannt: Vielfältiger sind die wissenschaftlichen Karrierewege geworden, aber auch prekärer. Im Grunde genommen arbeiten junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler längst ähnlich projektförmig wie Künstler oder auch Architekturbüros. Permanent an der Marktsituation in Sachen Stipendien und Stellen orientiert, mit begrenztem zeitlichen Horizont bei der Generierung der finanziellen Mittel für das eigene Projekt. Neben dieser Vereinzelung, mit klarer Konkurrenzsituation, müssen sich akademische Freundschaften bewähren. Mit der Fragmentierung der unplanbaren wissenschaftlichen Biografien wird auch Teamarbeit allzu oft Zusammenarbeit auf Zeit – bis zum nächsten, nicht immer gemeinsam realisierbaren Projekt.
Dabei gibt es kaum ein Sicherheitsversprechen; auf neue Art und Weise spielt Max Webers “wilder Hasard” der Wissenschaftslaufbahn hier sein eigenes Spiel. Niemals aufgeben! muss da die Devise sein. In diesem Sinne wünscht das gab_log für 2013:
- das Stipendium, das Ihr Euch schon immer gewünscht habt,
- die sozialversicherungspflichtige Stelle, auf der sich Forschung und Lehre mit Freizeit verbinden lassen,
- inspirierende Forschungsreisen,
- spannende Diskussionen mit Studierenden, auf Workshops und Tagungen,
- Mut zum Kinderkriegen, Zeit für die Kleinen und Raum für die Verbindung von Familie und Wissenschaft,
- verständnisvolle und engagierte Professor_innen und Vorgesetzte, die ihre Rolle als Führungskraft nicht wie im 19. Jahrhundert, aber auch nicht wie neoliberalisierte Manager ausführen,
- beständige Freundschaften, die auch über die Wissenschaft hinaus von Dauer sind und
- die Berufungen, die zum Wissenschaftsberuf nötig sind.
Nicht nur der Vollständigkeit halber sei hier noch einmal Benjamins Bildbeschreibung aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte erinnert:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[1]
- Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, In: Ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, hrsg. von Alexander Honold. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 [1940], S. 129-140, hier S. 133.
Quelle: http://gab.hypotheses.org/508