Rezension: Thomas Sandkühler – Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

 

Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden - zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog - immerhin etwa die Hälfte der Morde - in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die "Schreibtischtäter" und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen - einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses "Fußvolk der Endlösung" legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.



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Rezension: Matthew Gabrielle/David M. Perry – The Bright Ages: A New History of Medieval Europe

 

Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die "Ewige Stadt", der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den "Dunklen Zeiten" Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den "Dunklen Zeiten", den "dark ages", wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen "Helle Zeiten", "bright ages", gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.



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Rezension: Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser – Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

 

Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhardt den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.



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Rezension: Ezra M. Vogel – Deng Xiaoping and the transformation of China (Gesamtartikel)

 

Rezension: Ezra M. Vogel - Deng Xiaoping and the transformation of China (Hörbuch)

Der Tod Mao Zedongs 1976 war eine Wasserscheide in der Entwicklung Chinas. Einer der größten Massenmörder der Geschichte, der mit dem "Großen Sprung nach vorn" und der "Kulturrevolution" sein Land zweimal mutwillig an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, war nicht mehr. 1978 folgte ihm Deng Xiaoping nach, der China auf einen "neuen Pfad" setzt - ein Pfad, der rapide zu wirtschaftlichem Aufstieg führen sollte. Deng Xiaoping kann man wohl mit Fug und Recht als Vater des modernen China bezeichnen, was Grund genug ist, sich mit ihm und seiner Politik näher zu beschäftigen. Ezra Vogels umfassende Biografie unternimmt es, sein Leben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nachzuzeichnen. Er legt dabei eine Biografie kommunistischer Hinterzimmerpolitik mit all den Stärken und Schwächen vor, die an dem Ansatz hängen - aber dazu gleich mehr.



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Rezension: Art Spiegelman – Maus

 

Rezension: Art Spiegelman - Maus

Es ist nicht das erste Mal, das ich "Maus" lese, und auch nicht das zweite. Aber ich habe mich zu dem Graphic Novel hingezogen gefühlt, nachdem ich in Krakau im "Galicia Jewish Museum" die dortige Ausstellung "Sweet Home Sweet" gesehen habe. Diese befasste sich mit der Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, aber mit dem ungewöhnlichen Zugang, seine Nachkommen in Oral History zu Wort kommen zu lassen. Was mir dabei besonders auffiel war das intergenerationelle Trauma, das in all den Zeugnissen zum Ausdruck kam. Der Holocaust hatte seine Spuren auch noch in der zweiten und dritten Generation hinterlassen, etwa wenn die Kinder nicht verstehen konnten, wie egal ihrem Vater ihre Probleme oftmals waren, weil sie neben der Vernichtung des Rests der Familie in den Gaskammern nie Signifikanz erzielen konnten. Neben der Haupthandlung des Überlebens in Auschwitz, die bisher bei "Maus" mein Hauptaugenmerk eingenommen hatte, thematisiert die Geschichte ja aber auch genau dieses intergenerationelle Trauma, das der nach dem Krieg geborene Art Spiegelman von seinem Vater Vladek indirekt mitbekam. Unter dem Eindruck des Jüdischen Museums, des Schindler-Museums und natürlich der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau selbst, die ich vergangene Woche mit Schüler*innen besucht habe, fühlte ich mich stark zu einer neuen Lektüre des Graphic Novel hingezogen.



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Rezension: Alexander Thiele – Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

 

Alexander Thiele - Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Eines der positiven Produkte der Corona-Pandemie war eine Flut von Podcasts, die von Leuten gemacht wurden, die viel zu sagen hatten, aber bis dato das Medium nicht für sich entdeckt hatten. Eine dieser Personen war Alexander Thiele, Verfassungshistoriker an der Universität Göttingen, der angesichts des Lockdowns für seine Studierenden und das interessierte Publikum einen Podcast zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit produzierte. Dieser war - völlig zu Recht - sehr erfolgreich, und Thiele tat das, was Wissenschaftler*innen in solchen Fällen immer zu tun pflegen: er machte ein Buch daraus, indem er seine (ohnehin schon druckreifen) Skripte überarbeitete und um einen Fußnotenapparat ergänzte. Das Ergebnis ist ein sehr lesbares Buch zu einem (zumindest aus meiner nerdigen Perspektive) sehr spannenden Thema, das unbedingt empfehlenswert ist.



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Rezension: Brendan Simms/Charlie Laderman – Hitler’s American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War

 

Brendan Simms/Charlie Laderman - Hitler's American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War (Hörbuch)

Wenn man sich mit der Geschichte des Dritten Reichs beschäftigt, bleibt eine Entscheidung Hitlers die unerklärbarste. Es ist nicht der Holocaust; der erklärt sich problemlos aus seiner Ideologie einerseits und der institutionellen Logik der Behörden und der Dynamik der Krieges. Nicht einmal der Überfall auf die Sowjetunion 1941, der eine solche Eskalation und seismische Veränderung der Geopolitik hervorbringen würde, qualifiziert sich. Nein, erklärungsbedürftig ist die deutsche Kriegserklärung an die USA fünf Tage nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor im Dezember 1941, als der deutsche Angriff vor Moskau im Schnee stecken blieb. Was hat Hitler geritten, dem mächtigsten Staat der Welt den Krieg zu erklären? War er einfach nur verrückt? Befriedigende Erklärungen sind schwer zu finden, aber es ist besser anzunehmen, dass eine Rationalität dahintersteckte. Brendan Simms und Charlie Laderman versuchen im vorliegenden Buch, mittels einer minutiösen Rekonstruktion der fünf Tage zwischen Pearl Harbor und der Kriegserklärung eben diese offenzulegen.



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Rezension: Thomas Brechenmacher – Im Sog der Säkularisierung

 

Thomas Brechenmacher - Im Sog der Säkularisierung

Als 1949 zwei deutsche Staaten auf den Trümmern der Kriegsniederlage gegründet wurden, standen auch die beiden christlichen Kirchen vor einem Scherbenhaufen. Die neue Staatsgrenze lief mitten durch Bistumsgrenzen und 12 Jahre nationalsozialistischer Diktatur hatten die Bevölkerung entfremdet und die Kirche moralisch kompromittiert. Im östlichen Teil des Landes trat zudem eine dezidiert atheistische, totalitäre Regierung mit dem expliziten Wunsch an, die Kirchen wenn nicht zu zerstören, so doch zu marginalisieren. Auf der anderen Seite schien gerade für die katholische Kirche mit dem Amtsantritt des Christdemokraten Adenauer eine goldene Zeit kirchlichen Einflusses in die Politik zumindest im westlichen Landesteil anzubrechen. Bald aber zeigte sich, dass der Trend zur Säkularisierung, in dessen Sog die Kirchen gerieten, in beiden Landesteilen nicht aufzuhalten war. Diesen Trend zeichnet Thomas Brechenmacher im vorliegenden Buch nach.

Seine Betrachtung beginnt mit der Niederlage 1945.

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Rezension: Stephen Wertheim – Tomorrow, the world. The birth of US supremacy

 

Stephen Wertheim - Tomorrow, the world. The birth of US supremacy

Seit der sakralisierten Warnung George Washingtons am Ende seiner Amtszeit, Amerika solle sich aus "entangling alliances" und Europa heraushalten, betrieb das Land eine isolationistische Außenpolitik. Am Ersten Weltkrieg nahm es gezwungenermaßen teil, und als die Vision des Völkerbunds scheiterte, zog sich die Nation auf sich selbst zurück. Erst der Angriff von Pearl Harbor zwang die USA in den Zweiten Weltkrieg und legte den Grundstein für die folgende Dominanz als Supermacht. Dieses Narrativ ist hinreichend bekannt - und falsch, wenn man Stephen Wertheim Glauben schenken darf. Er argumentiert in "Tomorrow, the world" viel mehr, dass die USA Anfang der 1940er Jahre auf einem bewussten Kurs waren, die Weltherrschaft anzustreben. Das klingt nach einem Buch, das im Compact-Magazin empfohlen wird, aber dieser Eindruck täuscht. Wertheim zeichnet keine Verschwörungstheorie auf; vielmehr zeichnet er nach, wie sich die strategischen Debatten in den USA in diesen entscheidenden Monaten änderten und auf welchen Prämissen sie basierten. Das Resultat ist sehr erhellend.



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Rezension: Antonio Scurati – M – Son of the Century

 

Antonio Scurati - M - Son of the Century

Wir betrachten Mussolini und den italienischen Faschismus gerne aus der Perspektive seines Endes, als zur Farce gewordener Wurmfortsatz des ungleich zerstörerischen Nationalsozialismus. Eventuell bleibt der desaströse Griechenlandfeldzug von 1940 in Erinnerung, oder das völlige Versagen der italienischen Armee gegen die Briten in Nordafrika, das den Einsatz des Afrikakorps nötig machte. Das Bild aus deutscher Perspektive ist das eines inkompetenten, operettenhaften Staates. Vergessen wird darüber gerne, welche Anziehungskraft das faschistische Italien einmal hatte, und welch stilbildende Wirkung es besaß - gerade auch auf Hitler, aber auch auf viele andere rechte Regime jener Epoche. Es gab eine Zeit, in der Mussolini und sein Faschismus den Weg nach vorne zu weisen schienen, eine Zeit, in der sich Mussolini ohne allzuviel Lächerlichkeit als "Sohn des Jahrhunderts" inszenieren konnte. Von dieser Phase zwischen 1919 und 1925, als der Faschismus erstmals die Macht errang und absicherte, handelt dieses Buch von Antonio Scurati, das gerade nicht umsonst Wellen schlägt - nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/05/rezension-antonio-scurati-m-son-of.html

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