Im Frühsommer 1623 hatte Christian von Braunschweig, bekannt vor allem als „toller Halberstädter“, mit seinen Truppen in der Nähe Göttingens, also im Territorium seines älteren Bruders Herzog Friedrich Ulrich, Quartier genommen. In Scharmützeln mit Einheiten der Armee der Liga, die damals im Hessischen operierte, hatte er einige Gefangene gemacht. Was sollte nun mit diesen geschehen? Am 1. Juli a.St. wies er die Stadt Göttingen an, die gefangenen Kriegsknechte nicht freizulassen; vielmehr sollte die Stadt sie weiterhin „mit nottürfftigem vnterhalt“ versorgen, bis andere Anweisungen kämen. Genau das geschah wenige Tage später: Am 7. Juli a.St. erteilte Christian seinem Generalgewaltiger (d.h. der frühmodernen Militärpolizei) den Befehl, daß er „noch heutt vor der Sonnen vntergangk, viertzig dero zu Göttingen entthaltenen gefangenen Soldaten vom feinde, den Lieutenantt vnd Officiers außsgenommen, Laße auffhencken“. Um den Ernst der Anweisung zu unterstreichen, fügte er hinzu, daß dies „bei vermeidung vnser hochsten vngnad“ geschehen solle. Der Generalgewaltiger präsentierte daraufhin der Stadt Göttingen diesen Befehl; bei der dort überlieferten Abschrift findet sich auf der Rückseite die Notiz vom Folgetag: „Vff diesen Schein seindt dem Gewalthiger 20 Gefangene vff sein darneben mundtlich andeuten ausgevolgtt worden.“ Der Vollzug fand also offenbar doch nicht mehr am 7. Juli, am Tag der Ausfertigung des Befehls, statt. Aber es besteht kaum ein Zweifel, daß zwanzig Kriegsgefangene mit dem Strang hingerichtet wurden. (StA Göttingen, Altes Aktenarchiv, Nr. 5774 fol. 2 Kopie; der Befehl an die Stadt Göttingen vom 1.7.1623 a.St. ebd. fol. 32 Ausf.)
Auf den ersten Blick mag diese Episode wie ein weiterer Beleg für die als zeittypisch angenommene Grausamkeit, vielleicht auch als Indiz für die damalige Rechtlosigkeit gelten. Allerdings gab es keine verbindlichen Regularien im Umgang mit Kriegsgefangenen; deren Tötung war durchaus möglich. Üblich war eine solche Maßnahme aber keineswegs, vielmehr widersprach sie den gängigen Handlungsmustern. Verwunderlich ist in diesem Fall, daß Christian von Braunschweig offenbar gar nicht erwogen hat, die gefangenen Kriegsknechte einfach „unterzustecken“, d.h. in die eigenen Truppen einzureihen. Diese Praxis war eigentlich in allen Armeen des Krieges verbreitet. Sie funktionierte auch deswegen so gut, weil sie beiden Seiten zugute kam: Die gefangenen Söldner fanden einen neuen Arbeitsplatz, und die eigene Armee erhielt Verstärkung. Die Alternative, nämlich die Gefangenen einfach freizulassen, auch mit der Auflage, daß diese nicht mehr in die Kämpfe eingriffen, widersprach den Gesetzen des Söldnermarktes: Solange die Möglichkeit bestand, daß eine Kriegspartei bereit war, weitere Söldner anzuwerben, war ein solches Verbot kaum durchsetzbar. Der Militärdienst war Broterwerb, und Faktoren wie Loyalität zu einem Herrscherhaus, dem Reich oder die Zugehörigkeit zu einer Konfession sollten nicht überschätzt werden.
Eine Erklärung für das Verhalten Christians läßt sich aus dem historischen Kontext ableiten. Der Söldnerführer befand sich damals in einer geradezu aussichtslosen Lage: Die Armee der Katholischen Liga unter Tilly stand bereit, um gegen ihn vorzurücken, während die Stände des Niedersächsischen Reichskreises massiv unter den Druck des Kaisers gerieten, jede weitere Unterstützung für Christian einzustellen oder gleich direkt gemeinsam mit Tilly gegen ihn zu kämpfen. Aus dieser Situation resultierte für die Armee des „Halberstädters“ eine nur geringe Attraktivität: Welcher Soldat würde bei einem Söldnerführer Kriegsdienste annehmen, dessen Sache nicht mehr viel Erfolg versprach? Die Kriegsknechte hatten ein ausgeprägtes Sensorium, um den Stellenwert eines Arbeitsplatzes einschätzen zu können – diese Form von Marktbeobachtung gehörte für jemanden, der im Krieg sein Glück machen wollte, dazu. Und Christian war sich offenbar darüber im Klaren, wie kritisch seine eigenen Erfolgsaussichten eingeschätzt wurden. Entsprechend harsch, aber auch konsequent war sein Handeln: Da die Gefangenen kaum in seiner eigenen Armee willig Dienst tun würden, sondern vielmehr bei nächster Gelegenheit „ausreißen“, also desertieren würden, kam ein Unterstecken nicht in Frage. Eine Freilassung auch nicht, da sie dann zum Heer des Gegners zurückgehen würden, der sich eindeutig im Aufwind befand.
Der Befehl, einige Gefangene hinrichten zu lassen, zeugt von Christians Verbitterung. Es mochte auch ein Signal an die eigenen Soldaten sein, mit dem er ihnen klar machen wollte, daß es nun keine armeenübergreifende Solidarität unter Kriegsknechten mehr gab. Christian zerstörte mit dem Tötungsbefehl die prinzipielle Annahme, daß auf beiden Seiten „ehrliche Kriegsleute“ standen, die in den Soldaten auf der anderen Seite nicht unbedingt einen Feind erkannten, sondern einen Standesgenossen auf derselben soziale Ebene. Genaueres können wir nicht sagen, da die Zeugnisse keine Auskunft über die Motivation und das Kalkül Christians geben. Aber vielleicht wollte der Söldnerführer auf diese Weise auch die Kohärenz der eigenen Armee stärken.
Nötig wäre es gewesen, denn am 11./21. Juli 1623 brach Christian mit seinen Truppen auf und strebte nach Westen, um das Reichsgebiet zu verlassen und sich auf das Territorium der Generalstaaten zu retten. Eine Entscheidung im Feld hat er wohlweislich vermeiden wollen. Allerdings stellte ihn das nachrückende Heer der Katholischen Liga unter Tilly knapp vor der Grenze bei Stadtlohn zur Schlacht, die am 6. August 1623 zu einem Debakel für den „Halberstädter“ geriet. Was aus den Gefangenen wurde, die in Göttingen verblieben waren, geht aus diesem Quellenbestand nicht hervor. Wir können plausibel annehmen, daß die Stadt sie spätestens nach der Schlachtentscheidung freigelassen hat. Gut möglich, daß viele von ihnen dann versucht haben, sich der siegreichen Armee der Liga wieder anzuschließen. Denn der Krieg und das Leben gingen weiter.
Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/108