“Es wurde nicht über etwas gesprochen, was ja eh alle gleichzeitig erlebt hatten”: Erfahrungsbericht aus Berlin

Kurz nach dem Fernsehbeitrag bei nano auf 3sat erreichten mich wieder einige Rückmeldungen, darunter eine besonders interessante einer 1932 in Berlin geborenen Frau, deren Email ich hier gerne teilen möchte. Der Fernseh-Beitrag wurde später bei Quarks & Co. auf der Webseite gezeigt und bei Facebook diskutiert:
https://www.facebook.com/QuarksundCo/posts/10154313784930564

Ich bekam aber auch eine Email von einer Frau aus Berlin (geb. 1932), die mich besonders berührt hat und die ich hier gerne als persönlichen Erfahrungsbericht veröffentlichen möchte.1

Hallo Sascha Foerster,

nein, ich bin keines der 4000 Nachkriegskinder, von denen Studien gemacht wurden über 10 Jahre lang, schon darum, weil ich als Berlinerin (1932-1950) dafür gar nicht in Frage kam.

Ich habe mich jedoch in der Vergangenheit sehr oft mit dem auseinandergesetzt, was meine Generation erlebt hat und was niemals auch nur ansatzweise in irgendeiner Form hinterfragt wurde. Es ist, als wäre das, was wir erlebt hatten während unserer Kindheit (häufige nächtliche Fliegeralarme; Angst vor Bomben von den Flugzeugen am Himmel und den Splittern der Flakgeschosse; Angst dann vor den herannahenden sowjetischen Truppen; Angst zu hungern; Angst, die betrunkenen russischen Soldaten könnten mich (knapp 13), meine Mutter oder die Nachbarin die ersten Wochen im Mai 1945 nachts in unserem Versteck im Kohlenkeller finden; Angst, die zwei russischen Soldaten, die eines Tages in unser kleines Haus am Rand von Berlin kamen und ‘Uhri, Uhri’ suchten und meinem Vater eine Pistole an die Schläfe setzten, könnten ihn wirklich erschiessen, dann – ich weiss nicht, ob das nicht noch schlimmer war – die ersten Tages-Zeitungen, die einige Wochen nach dem Ende des Krieges wieder erschienen und über die Greuel des Volkes berichteten, zu dem ich gehörte, die an den Insassen der KZs begangen worden waren…… Und der Hunger, zwei Jahre lang. Ich erinnere mich lebhaft an die Lektüre der Morgenzeitung, ich denke, es war die MORGENPOST, die ich täglich las, jedes Wort über all’ die Verbrechen, die die Nazis an den Juden, Zigeunern, Andersgläubigen und denkenden begangen hatten. Ich erinnere mich daran, wie elend und hilflos ich mich damals gefühlt hatte und – wie allein. Niemals und niemand hat jemals mit mir über all’ diese Erlebnisse gesprochen. So war das eben. Es WURDE NICHT ÜBER ETWAS GESPROCHEN, WAS JA EH’ ALLE GLEICHZEITIG ERLEBT HATTEN. Man tat seine Pflicht, hatte seine Aufgaben und übte daneben Treu’ und Redlichkeit! Das scheint mir heute noch das Unmenschlichste an der Situation!

Ich hatte mich – (mit 9 Jahren wohlgemerkt!) – auf Fragen meines Vaters für den Besuch des Lyzeums entschieden und ging also dann nach angemessener Zeit wieder regelmässig zum Unterricht, meine Leistungen wurden aber immer schlechter und ich hielt mich schlicht für zu dumm und glaubte nicht einmal, das Abitur je zu bestehen. Bestand es dann aber doch knapp, dachte jedoch niemals an ein Studium und es war niemand da, der mit mir je darüber sprach oder mir zusprach. Man war wohl einfach froh, alles einigermassen heil überstanden zu haben, im Gegensatz zu meiner Grossmutter, die noch 3 Monate vor Ende des Krieges im Zentrum Berlins (Mitte), durch eine Sprengbombe bei einem Luftangriff im Luftschutzkeller ums Leben kam. Der Grossvater war zu diesem Zeitpunkt noch an seinem Arbeitsplatz, wenige Kilometer entfernt. Er hat den Tod seiner Frau nie mehr verwunden. Und diese Grossmutter hatte bei Familienfesten nie verabsäumt, über ‘diesen Verbrecher, diesen Halunken….’ zu schimpfen.
Nach dem Sommer 45, als die Dinge sich einigermassen wieder ‘normalisiert’ hatten, bekamen wir einen neuen Mathe-, Physik- und Chemielehrer’, direkt aus Auschwitz. Er sah sehr jüdisch aus und war mild und sehr freundlich. Er war, denke ich, nicht älter als Ende 2O. Er stellte uns auch seine junge Frau vor, ebenfalls sehr jüdisch aussehend. Sie hatten beide Auschwitz überlebt, aber nicht ihre dort geborenen Zwillinge. Etwa 25 Jahre später hatte ich beide in San Francisco/Cal. besucht und später mit einer Schulfreundin auch die
Witwe allein noch einmal. Sie hatten sich sehr über unsere Besuche gefreut, – auch wenn wir die einzigen Schülerinnen waren, von denen sie jemals noch nach ihrem Auszug aus Berlin etwas gehört oder gesehen hatten.

Verzeihen Sie, dass diese e-mail so lang geworden ist. Es ‘läppert sich’ zusammen, auch wenn man nur einige Punkte aus einem langen Leben erwähnen wollte.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Studien. Und viel verwendbares Material!

Mit freundlichen Grüssen
HL

Auf diese Email hin fragte ich nach, ob ich sie als Erfahrungsbericht veröffentlichen darf und ob sich die Erfahrungen ihrer Meinung nach auf ihren Lebenslauf ausgewirkt haben. Als Antwort erhielt ich eine weitere spannende Email:

Lieber Sascha Foerster,

ich bedanke mich sehr für Ihre e-mail, die nun schon seit dem 4. Juli auf meine Antwort hier auf meinem laptop wartet. Entschuldigung! Es ist so heiss hier, in Südwest-Spanien an der Küste und ich habe mich z.T. nicht gut genug gefühlt, um zu antworten. Aber – obwohl es heute genauso heiss ist – fühle ich mich doch beinahe genötigt, Ihnen zu antworten: es ist der 70. Jahrestag des Hitler Attentats und gleichzeitig der 70. Todestag des  damaligen Hitler-Attentäters Stauffenberg und ich kann mich noch sehr genau an meine Reaktion – die eines ignoranten 12-jährigen BDM-Mädchens – erinnern auf die Radiomeldung vor 70 Jahren! Heute bewundere ich Stauffenberg sowie den gesamten Hitler-Widerstand natürlich sehr, und bedaure ausserordentlich, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg sein Leben daraufhin lassen musste und der wahre Kriegsverbrecher und Mörder nochmals fast ein weiteres Jahr weiterherrschen konnte!

Sie dürfen meine Reminiszenzen gerne weiterverwenden, wenn sie Ihnen für Ihr Projekt dienen können. Auf Ihre Frage nach direkten Einwirkungen des 2. Weltkrieges und besonders des Hitler-Regimes auf meinen Lebenslauf, kenne ich nur einen Punkt: Ich habe mich von meinem 13. Lebensjahr bis vor wenigen Jahren – bis es mir ganz bewusst war – als Deutsche SEHR SCHULDIG gefühlt! Vergessen Sie nicht: uns wurde schon bei den Jungmädchen (die jüngere Garde der BDM-
Mädchen, von 10 – 14 Jahren) eingeredet, dass WIR, besonders die blonden, blauäugigen Menschen die wertvolleren der Spezi Mensch waren. (Da kommt mir eine Erinnerung: Ich fuhr einmal während des Kriegs mit einem Zug – ich vermute von Küstrin oder Landsberg a. W. nach Berlin und, als der Zug kurz halten musste an einem kleinen Bahnhof, sah ich eine Gruppe, – wohl Kriegsgefangener,  -  dort stehen. Einer der Zuggäste meinte, es seien kanadische Kriegsgefangene. Daraufhin beobachtete ich die Männer ganz genau und fand, als 11-12-jähriges Kind, dass
diese eigentlich genauso aussähen wie Deutsche!) Irgendwie tröstet mich diese Erinnerung, die sehr lebhaft ist, denn sie zeigt, wie immer man uns von der Politik oder der Hitler-Jugend indoktriniert hatte:
Ich kleines Mädchen hatte mir eine eigene Meinung gebildet, wenn mir die Möglichkeit gegeben war, selber zu beurteilen. Natürlich lebten wir damals ohne die vielen Medien, die Kindern, resp. allen Menschen, heute zur Verfügung stehen. Meine Eltern konnten sich – finanziell - nur EINE Tageszeitung halten, es gab kaum, – oder meine Eltern konnten es sich nicht leisten- , Wochenzeitschriften, keine anderen politischen Radiosendungen als die NAZI-gesteuerten, die ebenfalls von
der Regierung erstellten Wochenschauen im Kino, natürlich kein Fernsehen etc. Ich frage mich natürlich, wenn ich meinen letzten Absatz nachlese, können Sie, ich meine, Ihre Generation, noch vollumfänglich die Grenzen nachvollziehen, die die den Menschen damals gezogen wurden? Das ist nicht als Kritik gedacht, natürlich nicht. Ich kann nur alle jungen Menschen ermuntern, sich für demokratische, freiheitliche Regierungen einzusetzen, dafür zu kämpfen, für sich und die folgenden Generationen.

Ja, jetzt möchte ich doch noch einmal auf meine Schuldgefühle, die mich als junges deutsches Mädchen bei Kriegsende befallen und mich dann mindestens 5 Jahrzehnte belagert hatten, ein-
gehen. Ich war als 13-Jährige so entsetzt, was ich nach Kriegsende in den Zeitungen las über die Naziverbrechen – besonders die KZs – und was den Juden dort angetan worden war, dass es meine Seele wohl für Jahrzehnte zugeschüttet hatte.

Nach Schulabschluss, 1950, in Berlin, war einerseits meine Angst davor, dass die Russen eines Tages/Nachts diese Insel einfach einnehmen konnten,so gross und andrerseits die Alternative: ‘Was tun?, sprach Zeus’  so erdrückend, dass ich mich als unerfahrene Achtzehnjährige (mein Vater hatte mir eröffnet, dass er mir kein Studium zahlen würde/könnte und mein Minderwertigkeitsgefühl so gross (Studium? Welches? Und : Das würde ich sowieso nicht schaffen/können) umsah und – mir einen Platz als mothers’ help (heute: au pair) in einem englischen Haushalt besorgte!  Wohlbemerkt: ohne PC, i-Pad, i-Phone, Fax, handy oder Telefon (wir hatten keines!).
Es ging auch mit Briefmarken, Adresse noch mit Füller aufs Couvert schreiben. Kugelschreiber gab es, glaube ich, auch noch nicht! Und, natürlich, ohne Flugticket, sondern als Beifahrerin in einem Laster bis Köln, glaube ich, und von da mit der Bahn (3. Klasse, Holz!) bis an den Kanal in Belgien. Dann kam der wunderbare englische Zug mit gepolsterten(!) Bänken, einem aufgeklappten Tisch zwischen den beiden Bänken, auf dem ein Zugkellner ‘high tea’ servierte. Gottlob war mein Englisch (8 Jahre am Lyzeum bis zum Abitur) recht gut und ich konnte meinen englischen Mitreisenden, die mich dann zum high tea eingeladen hatten, als sie das dünne, blonde, deutsche Mädchen hörten, eindrücklich auf Englisch alles erzählen. Von Berlin und von East Yorkshire, wohin ich noch mit dem Zug von London aus reisen musste. Nun, ich hatte sehr viel Glück
mit der englischen Familie mit drei kleinen Mädchen, dem etwa 30-jährigen Ehepaar, mit dem grossen englischen
Land-/Farmhaus und mit allen Verwandten und Nachbarn der Familie. Ich wäre dann gerne nach knapp 2 Jahren für immer
in England geblieben. Das liess sich jedoch nicht verwirklichen, 5 – 7 Jahre nach dem Krieg!
So bin ich danach wieder zurückgefahren nach Berlin, habe mich sofort umgesehen, fand aber keine Arbeit. Aber ich war hartnäckig. Und hatte nach 3 Monaten dann doch eine Stelle als ‘Empfangsvolontärin’ für DM 50.- im Monat!!!!  So bin ich also in die Hotelerie ‘gerutscht’, habe ich mich hochgearbeitet, mich selber weitergebildet und habe dann nochmal für 3 Monate eine Stelle in einem französischen Haushalt mit (5 Kindern) in Paris angenommen, um mein Schul-Französich aufzubessern. Anschliessend fand ich heraus, dass die Schweizer Hotelerie händeringend in den 50er-Jahren Sprachkundige als Hotelsekretärinnen suchte. So kam ich 1954 (wenige Wochen vor dem ‘Wunder von Bern’) in die Schweiz und konnte meine Sprachkenntnisse gut einsetzen und sogar noch eine weitere autodidaktisch dazulernen.

Ich war in die Schweiz gekommen, um  eine halbwegs gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, war aber im heiratsfähigen Alter und – blieb dann insgesamt knapp 50 Jahre dort, bis ich mich entschloss, mich in Südspanien niederzulassen, weil meine Schweizer Rente hier weiter reicht.

Erst in den letzten – vielleicht 15 – 20 Jahren – fühle ich mich nicht mehr ständig schuldig dafür, in den dreissiger Jahren in Berlin/Deutschland geboren worden zu sein. Mein ‘Herumzigeunern’ in verschiedenen europäischen Ländern jedoch ist wohl mein ganz persönliches Schicksal, das – so wie ich es sehe, – wenig mit der politischen Vergangenheit meines Heimatlandes zu tun hat. Aber als ‘Deutsche’ habe ich den Kopf oft einziehen müssen (oder freiwillig eingezogen) – auch in der Schweiz – , wohl vor allem aus eigenen Schuldgefühlen.

Falls Sie noch ein bisschen Hitze brauchen können: Ich würde Ihnen gerne ein paar Grad C schicken. Aber der Osten Deutschlands hat momentan wohl auch noch rund 30°. Wir hier haben seit langem keinen Regen mehr gehabt!

Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie
freundlich,
Ihre
HL

  1. Natürlich veröffentliche ich solche Emails nur nach Zustimmung und anonymisiert.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1269

Weiterlesen

Hausarbeit angefertigt, abgegeben und korrigiert. Nächster Schritt: Wikipedia-Artikel ? Bericht einer experimentalen Wikipedianerin.

 

Setzt man sich an den Computer, um einen Wikipedia-Artikel anzulegen oder zu ergänzen, so muss eine überzeugte Motivation die treibende Kraft eines solchen Unternehmens sein. In meinem Fall liegt Letztere bereits in den ausklingenden Jahren der Sekundarstufe vor.

Mit dem starken Appell der Lehrer an die fortgeschrittenen Schüler, sich vor allem bei der Referatsvorbereitung eines wissenschaftlich basierten Recherchierens anzueignen, ging der Hauptkritik-Punkt gegen Wikipedia einher; nämlich der auf die Frage der Autorität bezogene: Der Inhalt der jeweiligen Artikel sei höchst unzuverlässig, denn jedermann könne ohne Sanktion alles Mögliche veröffentlichen. Diese allgegenwärtige Sentenz gegen die Online-Enzyklopädie nahm ich schon damals nicht so einfach hin.

Die Tatsache, dass jedermann bei Wikipedia mitwirken könnte, weckte mein Interesse, wirkte sogar verlockend auf mich ein. Somit würde die Vorstellung, irgendwann in der Zukunft, einen eigenen Wikipedia-Artikel zu schreiben, bei mir als Hintergedanke bleiben. Ich spielte von nun an mit der Idee, mich zu einer Art Expertin in einem Thema zu entwickeln und dazu meinen Beitrag für Wikipedia zu leisten. Zur Herangehensweise eines solchen ambitionierten Planes wusste ich als Neuntklässlerin nichts Weiteres.

Erst, als ich mich in den einleitenden Universitätssemestern mit einer tiefgreifenden, kritisch-reflektierten Form der Recherche konfrontiert sah, erschloss sich mir die Methode zur Erlangung wissenschaftlicher Expertise: in der Form der Planung und Verfertigung von Hausarbeiten. So geschah es, dass meinem ersten Beitrag für die Online-Enzyklopädie das Thema einer wissenschaftlichen Hausarbeit zugrundelag.

Bevor ich mich mit der englischen Schriftstellerin Anna Barbauld im Rahmen ihrer theoretischen Schriften zur literarischen Ästhetik im 18. Jh. beschäftigte, war mir der Name vollkommen unbekannt. Der ganze Prozess zur Gestaltung der Arbeit, die Sichtung von Bibliographien, Quellenauswahl und die darin investierte Einlesezeit, ergänzt durch meine eigenen Auslegungen zum Thema, bildeten nicht nur die Grundlage meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern rüsteten mich mit einer beträchtlichen Menge an biographischen Informationen zu der Autorin aus, welche ich nun für den besagten ersten Wiki-Artikel gut gebrauchen konnte.

Abgesehen von der Tatsache, dass ich diesen Erkenntniszuwachs zum Leben Barbaulds erlangt hatte, waren mir die unterschiedlichen Meinungen und Interpretationen der in der Sekundärliteratur vertretenen Autoren geläufig geworden. Ich konnte sie alle als Referenzen heranziehen und dies verlieh mir das Sicherheitsgefühl, das beim eigenen Wikipedia-Debüt – besonders in Bezug auf das Einhalten vom Grundprinzip der Überprüfbarkeit – so entscheidend ist.

Nichtsdestotrotz bestanden noch gewisse Vorbehalte und Sorgen im Zusammenhang mit dem Schreiben.

Das Erste war die Frage nach der Relevanz des Themas für die deutsche Version der Wikipedia. Zwar lag bereits ein kleiner Eintrag zu Barbauld auf Deutsch vor, ich konnte mir allerdings nicht sicher sein, ob sie als für die deutsche Literatur ausreichend relevant betrachtet werden würde. Die kargen Bemerkungen, die einen knappen Lebenslauf Barbaulds wiedergaben, schienen bereits dafür eine Antwort parat zu haben. Eindeutig fehlten Verweise im Text und die Quelle des einzigen Bildes im Artikel wurde nicht angegeben. Ich fragte mich sogar, warum dieser Artikel wegen der fehlenden Relevanz nicht bereits gelöscht worden war.

Verbunden mit diesen Defiziten war mein Zögern, den bereits vorhandenen Text zu ändern bzw. zu korrigieren. Ich hatte nämlich den Eindruck, ich würde aggressiv wirken oder den Autor des Artikels beleidigen, wenn ich in seinen Text eingreifen würde. Dabei schwirrte immer noch die Frage um mich herum: Hatte ich überhaupt einen wissenschaftlich fundierten Anspruch, der mich dazu berechtigte, inhaltliche Änderungen vorzunehmen?

Dazu kam noch der sprachliche Aspekt zum Tragen. Da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, und ich mich meines allzu komplizierten Ausdrucks bewusst bin, war ich mir nicht sicher, inwiefern mein Text den enzyklopädischen Kriterien der Verständlichkeit und Sachlichkeit  entsprechen würde.

In Anbetracht der aufgelisteten Aspekte entschied ich mich dazu, meinen ersten Wikipedia-Artikel als ein Experiment zu betrachten. Unabhängig davon, wie er in die Wiki-Community ankam, ob er gelöscht werden würde oder nicht, alles mögliche Feedback würde für mich produktiv sein, denn ich würde so oder so die Funktionsweise der Online-Enzyklopädie aus der Perspektive eines Mitwirkenden kennenlernen. Daran lag es mir am meisten.

Die Motivation, mich endlich an das Schreiben zu machen, nahm beim Gedanken, ich könnte nicht bloß meine Kenntnisse im Bereich auf die Probe stellen, sondern auch mit Experten und anderen Interessenten am Thema in Kontakt treten, deutlich zu. Außerdem bedeutete diese Aufgabe eine praktische Umsetzung des sonst theoriebehafteten akademischen Arbeitens. Es handelte sich hier nicht mehr um eine persönliche Leistungserbringung, welche nach der Benotung ihre Bedeutung einbüßte, sondern um eine Möglichkeit, langhaltende, qualitative Informationen für eine breite Leserschaft zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne stellte ich mir einige Ansprüche, nach denen ich mich für einen pflichtbewussten Umgang beim Schreiben richten wollte.

Ich hatte bereits festgestellt, dass die spanische Version des Artikels, welcher, wie der  englische auch, ausgezeichnet wurde, eine direkte Übersetzung des englischen ist. In dem Moment überlegte ich, dasselbe für den deutschen Artikel zu versuchen, entschied mich aber dagegen. Es würde mir wenig bringen, eine reine Übersetzung zu schreiben, wenn ich mich eigentlich als unabhängige Verfasserin versuchen wollte.

Mit dieser Entscheidung musste ich eine Komplikation in Kauf nehmen: den dadurch erhöhten Zeitaufwand. Obwohl ich die thematischen Unterkategorien des englischen Artikels übernahm, legte ich den eigentlichen Inhalt fest. Dies bedeutete, dass ich mir zuerst der Informationssammlung widmen und eine Auswahl treffen sollte, bevor ich zum eigentlichen Schreiben kommen konnte. Zwar hatte ich mit der Hausarbeit gewisse Vorarbeiten geleistet, es bestand aber, wie eigentlich zu erwarten war, keine direkte Entsprechung zwischen beiden Texten, denn die jeweiligen Ansprüche waren völlig andere.

Wenn ich dem Grundprinzip der NOR (Keine Theoriefindung) folgen sollte, so musste ich den ganzen argumentativen Teil meiner Hausarbeit ausschließen. Nur die Absätze, welche mit der historischen Einbettung und mit dem allgemeinen Kontext zu tun hatten, konnte ich teilweise übernehmen. Im Grunde erwies sich mein Artikel als ein völlig neu konzipierter Text, der nur das Thema mit der Hausarbeit gemeinsam hatte. In diesem Sinne fungierte Letztere als eine Zwischenhaltestelle auf dem Weg zur Expertise in meinem Themenbereich.

Die Tatsache, dass ich das Recherchieren fortsetzen musste, entpuppte sich bald als ein Vorteil, denn bald konnte ich auf wichtige Bezüge auf die deutsche Literatur verweisen, die in der englischen Version nicht vorhanden waren und die zur Relevanz des deutschen Artikels beitrugen. So zum Beispiel konnte ich die These von einem Kritiker aufführen, der in Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra Parallelen zu Barbaulds erfolgreichem Kinderbuch Hymns in Prose for Children vermutet.

Was die technischen Aspekte der Textgestaltung angeht, so fand ich die Formatierung etwas gewöhnungsbedürftig. Oft war es mir nicht klar, wie einige Absätze – zum Beispiel, wo ein langes Zitat aufgeführt werden sollte – genau zu gestalten waren, oder ob die Übersetzung vom Zitierten einer besonderen Markierung bedurfte. In solchen Fällen habe ich aus anderen Beispielartikeln die Formatierung übernommen oder wenn ich keine Beispiele fand, richtete ich mich nach eigenem Urteil.

Wenn es um das Übersetzen der Gedichte ging, so musste ich es selber übernehmen, denn ich fand keine deutsche Übersetzungen vor. Hier musste ich mich fragen, ob es in solchen Fällen Regelungen gibt, oder ob man einfach die volle Übersetzungsfreiheit hat.

Auch wusste ich manchmal nicht, welche Begriffe zu verlinken waren und welche als eindeutig genug galten. Dies war beim Begriff  „Vernunft“ der Fall. „Vernunft“ hat bei Wikipedia einen eigenen Artikel, aber der Terminus schien mir so selbstverständlich zu sein, dass ich auf die Verlinkung verzichten wollte. Wiederum ergaben sich mehrmals Fälle, in denen ein Verweis nötig und verständnisfördernd gewesen wäre, wo aber der deutsche Artikel dazu nicht vorhanden war.

Ich fürchte, hier bin ich etwas willkürlich vorgegangen und habe oft „leere“ Begriffe verlinkt, die dann in der veröffentlichten Version mit der roten Markierung gekennzeichnet wurden. An dieser Stelle nahm ich mir vor, die betreffenden Artikel zu ergänzen, sobald der Hauptartikel veröffentlicht und frei zugänglich war.

Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass bis mein Beitrag freigeschaltet wird, es noch etwas länger dauern kann. Bei der Einsicht in die Versionsgeschichte merkte ich, dass mehr als ein Jahr vergangen war, bevor der angelegte Artikel gesichtet und freigeschaltet wurde. Im Nachhinein würde ich erfahren, dass dies dadurch zu erklären war, dass zur Zeit der Erstellung des Artikels in der deutschen Wikipedia keine Sichtung bzw. Freischaltung nötig war und dass viele der ersten Beiträge erst nachträglich freigeschaltet wurden.

Hier fragte ich mich, woran es liegen kann, dass manche Artikel deutlich schneller als andere freigeschaltet werden, ob es nur auf den Umfang zurückzuführen ist oder ob gewisse Themen von den dafür Zuständigen bevorzugt werden. Dies würde in dem Sinne weitere Fragen zur Relevanz und Autorität aufwerfen.

Sehr schnell war allerdings das Feedback von Amygdala77, einer Expertin im Themenbereich Geburtshilfe, die auch viele Übersetzungen aus dem Englischen unternommen hat. Sie änderte knapp 21 Stunden nach Veröffentlichung den Begriff „Großbritannien“ in „Vereinigtes Königreich und Irland“ um, ergänzte die Verlinkung zu dem Namen William Congreve mit der Bezeichnung „Autor“, damit eine volle Entsprechung zu dem deutschen Artikel zu Congreve besteht und korrigierte einen Rechtschreibsfehler.

Obwohl ich für diese Korrekturen sehr dankbar war und davon lernen konnte, dachte ich in meinem experimentellen Vorhaben mit Wikipedia nicht so weit gekommen zu sein wie ich mir es gewünscht hatte. Da Vieles davon abhängig war, ob mein Beitrag zugelassen wurde oder nicht, ließ die anstehende Sichtung die meisten Fragen, die ich am Anfang hatte, offen.

Dies würde sich mit der Hilfe von Wikipedia-Administrator Marcus Cyron ändern. Nachdem er meinen Erfahrungsbericht zum Artikelschreiben gehört hatte, beschäftigte er sich mit meinem Beitrag und erklärte mir, welche Aspekte ich noch beachten sollte – darunter der Nachimport der englischen Versionsgeschichte, da ich den ersten Absatz im Artikel direkt aus dem Englischen übersetzt hatte, und weitere Details wie die Jahreslinks für deutschsprachige Literaturseiten.

Eine besonders schöne Überraschung war es, als ich in der Woche nach meinem Vortrag meinen Artikel freigeschaltet fand. Ohne Zweifel hatte ich das Herrn Cyron zu verdanken, der mich in der Korrekturphase meines Artikels so stark unterstützt hatte. Sobald ich auf ein Hindernis kam, oder meine Arbeit am Verlinken unterbrechen musste, stellte ich fest, dass Herr Cyron bereits bescheid wusste und selbst weitermachte, wo ich aufgehört hatte. Eine bessere Betreuung als Wikipedia-Debütant kann man sich gar nicht wünschen. Er machte uns allen im Seminar Mut, weitere Artikel bei Wikipedia zu schreiben und erinnerte uns daran, wie nützlich solche Beiträge selbst für andere Artikelverfasser im selben Themenbereich sein können. Damit wurde meine anfängliche Angst, in bereits verfasste Texte einzugreifen, erheblich gemindert.

Nach dem aufwendigen Verfassen des Artikels ist mir auch klar geworden, dass diese Leistung keineswegs zu Ende geführt wurde, denn der Artikel selbst ist Teil eines langen Projektes, eines sogenannten „work in progress“, bei dem ich mir die Beteiligung von anderen Interessenten erhoffe, um zu einem virtuellen Gespräch zum Thema kommen zu können. Da ich mich in der Zukunft mit Barbaulds Wirken in der Literatur zu beschäftigen beabsichtige, fände ich einen regen Austausch anhand der Änderungsvorschläge an dem Artikel äußerst hilfreich.

Ich arbeite jetzt an meinem Artikel weiter und versuche die „leeren“ Links mit neuen Einträgen zu füllen. Ganz eindeutig fehlt mir noch Übung, aber dafür habe ich die Unterstützung vom Team der Wikipedianer, deren schnelles Reaktionstempo, umfassende Expertise und Hilfsbereitschaft den Aufwand erleichtern und Mut zum Weiterschreiben machen.

 


 

Quelle: http://wppluslw.hypotheses.org/448

Weiterlesen