Globalisierung der Erinnerung – Ein Interview mit Joseph Zimet

Joseph Zimet ist Direktor der Mission du Centenaire (Mission 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges), die 2012 von der französischen Regierung zwecks Vorbereitung und Durchführung der Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges gegründet wurde.

DHI Paris_Aus den Instituten_Logo1_Mission_Centenaire_14_18_blau_gutWie erklären Sie Ihren deutschen Gesprächspartnern die Bedeutung des centenaire, angesichts der Tatsache, dass der Erste Weltkrieg in Frankreich so einen anderen Stellenwert hat als in Deutschland?
Ich denke, das ist gar nicht wirklich nötig. Hunderte kultureller Projekte, die derzeit in den einzelnen Bundesländern vorbereitet werden, zeugen eindeutig vom Bewusstsein um die Wichtigkeit des Gedenkjahres aufseiten der Zivilgesellschaft. Das Interesse am Ersten Weltkrieg ist westlich und östlich des Rheins sicher unterschiedlich begründet. Es scheint mir jedoch, dass Deutschland den centenaire mitgestalten sollte, um nicht am Rande eines Großereignisses zu stehen, welches europäisch und global zugleich ist. Europa kann des Ersten Weltkriegs nicht ohne Deutschland gedenken. Und auch Frankreich kann den centenaire nicht ohne Deutschland, Partner einer historischen Aussöhnung und der europäischen Integration, begehen. Der Erste Weltkrieg und der centenaire betreffen ganz Europa, daher kann Deutschland sich unmöglich nicht dafür interessieren.

Entlang welcher Linien können Deutschland und Frankreich des Ersten Weltkriegs gemeinsam gedenken?
Es gibt zweifellos die gemeinsame Erfahrung einer Katastrophe, die im Mittelpunkt des gemeinsamen Gedenkens stehen kann. Der Erste Weltkrieg bedeutet für die Bevölkerung beider Nationen gleichermaßen einen tiefen Einschnitt, ja einen regelrechten Schock, mit den gleichen dramatischen Auswirkungen. Gemeinsam ist beiden Ländern auch die Überzeugung, dass die europäische Integration die einzig mögliche, legitime Reaktion auf die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts ist. Daher ist das Gedenken an den Ersten Weltkrieg für beide Nationen sehr eng mit dem Europa-Gedanken verbunden.

Die Bedeutung des centenaire geht jedoch über die deutsch-französische Dimension hinaus. Welche Länder sind am europäischen, ja, am globalen Maßstab gemessen, die aktivsten? Hat Sie das Ausmaß des globalen Interesses überrascht?
Das Interesse am Ersten Weltkrieg ist ein weltweites Phänomen, das ist ohne Zweifel der interessanteste Aspekt des Jahrestags. Die Globalisierung der Erinnerung des Ersten Weltkriegs folgt konzentrischen Kreisen und ist ausgesprochen dynamisch. Dabei spielen die Länder des Commonwealth, insbesondere Australien, Neuseeland und Kanada eine tragende Rolle. Großbritannien und Belgien sind ebenfalls stark engagiert. Ferner ist ein zunehmendes Interesse in Mittel- und Osteuropa zu erkennen, insbesondere in jenen Ländern, die im Zuge des Ersten Weltkriegs ihre Unabhängigkeit bzw. Souveränität erlangt haben. Mit dem erklärten Ziel, den in den Jahren der Sowjetunion weitgehend „vergessenen“ Ersten Weltkrieg wiederzuentdecken, arbeitet auch Russland an einem bemerkenswerten Projekt zum centenaire. Nicht zuletzt fallen die Bemühungen anderer Länder wie Österreich, Italien oder Südafrika ins Auge, denen es darum geht, ihren Platz innerhalb des globalen Weltkriegsgedenkens zu finden.

Welchen Platz nimmt die Geschichtswissenschaft im Rahmen der Gedenkveranstaltungen ein? Ist schon abzusehen, inwieweit der centenaire neue Impulse zur Erforschung der Jahre 1914–1918 gibt?
Die Historiker spielen eine große Rolle. Sie haben vor allen Dingen eine absolut notwendige Aufgabe, nämlich kritisch darauf zu achten, dass das Zusammenspiel von histoire und mémoire funktioniert und erstere nicht durch letztere deformiert wird. Eine solche „Wächter“-Rolle sagt allerdings noch nichts über die Qualität der anlässlich des 100. Jahrestagsdes Ersten Weltkriegs veröffentlichten historischen Arbeiten aus. Paradoxerweise stellen wir fest, dass die Experten, die Historiker zwar allgegenwärtig sind, sich eine fundamentale Erneuerung des Forschungsfeldes dadurch aber nicht abzeichnet. Trotz des beeindruckenden Angebotes an neuer Literatur zum Ersten Weltkrieg ist es derzeit schwierig zu sagen, ob unser Wissen über den Ersten Weltkrieg dadurch grundlegend verändert wird.

Sie sind selbst Historiker. Was werden Ihrer Ansicht nach die Historikerinnen und Historiker des Jahres 2050 aus dem centenaire lernen können?
Ganz zweifelsohne wird der centenaire für zukünftig Forschende sowohl unter politischen wie auch soziokulturellen Gesichtspunkten ein spannender Untersuchungsgegenstand sein. Die Untersuchung des centenaire ermöglicht Aufschlüsse über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf nationaler wie regionaler Ebene, über das Verhältnis von Nation und Armee, über die Einstellungen der Franzosen zu zentralen Themen wie nationale Verteidigung oder Pazifismus. Was die Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs anbelangt, wird man je nach politischer Orientierung verschiedene Diskurse erkennen können. Jenseits der union sacrée bezüglich der Notwendigkeit des Gedenkens erkennt man in den verschiedenen politischen Lagern deutlich divergierende Einstellungen und Interpretationen des Ersten Weltkriegs. All dies muss, wenn der Tag gekommen ist, gut erforscht, analysiert und kartographiert werden.

Das Interview führte Arndt Weinrich vom DHI Paris. Übersetzung aus dem Französischen durch Katharina Thielen.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1442

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