11. Gabriel und die Theorie- resistenz der Wirklichkeit

back-dir-deine-welt-ausstechformen-berlin_0Schon seit Wochen begeistert sich das Feuilleton für die Frage, warum es die Welt nicht gibt. Autor des gleichnamigen Buchs ist Markus Gabriel, bei dessen Vorstellung immer wieder drauf hingewiesen wird, wie jung, polyglott und international renommiert er ist. Und jetzt auch noch ein Buch, bei dem sich alle freuen, dass es keine Richard-David-Precht-Philosophiepampe ist, sondern ernsthaftes Nachdenken, das trotzdem nachvollziehbar bleibt und es sogar in die Spiegel-Bestseller-Liste schafft.

Wie sieht es da aus, wenn ein bereits mittelalter, nicht ganz so vielsprachiger und weniger ins Ausland eingeladener Mensch, der es wohl nie auf irgendeine Bestseller-Liste schaffen wird, an diesem Buch rumzumäkeln versucht? Nicht gut. Da kann man nur verlieren. Aber wie mir einer meiner Sportlehrer durchaus mal hätte sagen dürfen (es aber bedauerlicherweise niemals getan hat): Besser verlieren als gar nicht mitspielen. (Stattdessen gab es faschistoide Sportlehrersprüche wie: „Was nicht tötet, härtet ab.“ Nun ja …).

Ich baue einfach darauf, dass dieser Beitrag zum Ausklang der Sommerferien erscheint, wenn noch alles am Strand liegt und niemand Blogs liest. Nichts weiter als ein kurzes Knacken im Netzrauschen.

Der Zusammenhang aller Zusammenhänge

Da das hier keine Rezension wird, muss ich Gottseidank auch keinen systematischen Gang durch die Argumentation des Buchs unternehmen. Da gibt es viel Kluges und Erfreuliches, nicht zuletzt die Tatsache, dass es offensichtlich für eine gehörige Portion Menschen einen Anlass darstellt, sich mal wieder (oder überhaupt erstmals) auf erkenntnistheoretische Fragen einzulassen. Aber es gibt auch Ärgerliches, und das betrifft nicht zuletzt die grundlegenden Thesen dieses Buchs.

Ich lasse an dieser Stelle einmal den Umstand beiseite, dass Postmoderne und Konstruktivismus von Gabriel als ziemlich inhaltsleere Pappkameraden aufgebaut werden („Alles Illusion!“ – so soll der Konstruktivismus angeblich behaupten), um sie mit einem lässigen Fingerschnipsen von der Bühne zu befördern; oder dass es in der Argumentation auch einige interne Widersprüche gibt; oder dass es elend schlecht ist, den großen Richard Rorty als „elend schlechten Philosophen“ zu bezeichnen. Nein, gehen wir gleich aufs große Ganze, weil sich hier unter Umständen ja auch erweisen kann, welche Bedeutung diese Überlegungen für die Geschichte haben kann – und umgekehrt.

Die zentrale These steckt bereits im Titel: Die Welt als das alles Umfassende, als den Zusammenhang aller Zusammenhänge gibt es nicht. Was es stattdessen gibt, ist eine Vielzahl kleiner Welten, die nebeneinander existieren, sind so genannte „Sinnfelder“, in denen uns diese Welten erscheinen und mit denen wir umgehen. Insgesamt hört dieser Ansatz auf den Namen „Neuer Realismus“. Genau genommen wartet dieser „Neue Realismus“ weniger mit einer These, sondern vor allem mit einer Behauptung auf – dass es „die Welt“ nämlich nicht gibt (alles andere aber schon). Warum es „die Welt“ nicht geben soll, wird weder begründet noch argumentativ hergeleitet, sondern schlicht konstatiert. Punkt. Nur: Wenn es die Welt nicht gibt, wie kann Gabriel dann darüber reden, dass es sie nicht gibt?

Unverständliches Weltverbot

Bereits hier – und wir sind eigentlich erst am Anfang des Buchs – wird es meines Erachtens seltsam. Erstens verstehe ich nicht, warum es die Welt nicht geben darf. Es mag ja durchaus sein, dass ein solcher Zugang hilfreich sein könnte, aber dann hätte ich dafür bitte auch eine anständige Begründung. Sich den allumfassenden Zusammenhang aller Zusammenhänge vorzustellen, erfordert fraglos einiges Abstraktionsvermögen – das gilt aber ebenso für die von Gabriel angeführten Sinnfelder, sagen wir einmal: Wirtschaft oder Gesellschaft oder Politik. Die sind zwar nicht „die Welt“, sind deswegen aber keineswegs besser zu handhaben. Zweitens ist es seltsam, warum es in Gabriels Argumentationszusammenhang etwas nicht geben soll, wovon er selbst so viel Worte macht. Er redet die ganze Zeit von der Welt, die es nicht gibt – wie aber soll das möglich sein, wenn es sie nicht gibt? Alles soll es geben, selbst Einhörner auf der Rückseite des Mondes, nur die arme Welt darf es nicht mehr geben. Was aber, wenn das der Welt ziemlich egal wäre? Er bemüht sich so intensiv darum, etwas zu zertrümmern, worüber wir uns offensichtlich verständigen können (ansonsten könnten wir nicht darüber reden), dass man sich irgendwann zwangsläufig fragen muss, wozu der ganze Aufwand eigentlich gut sein soll. Da kommt eine schnittige Behauptung daher, die zunächst vielleicht viel Staub aufwirbeln mag, die schlussendlich aber wenig mehr als warme Luft ist – und mehr braucht man ja auch nicht zum Staubaufwirbeln.

Zeitmangel, Menschmangel

Auffallender Weise fehlen dieser Welt, die es nicht geben darf, zwei Dinge, die ich für nicht ganz unwichtig halte: Menschen und Zeit. Denn, wie Gabriel auch selbst öfter unterstreicht, die Tatsachen der Welt sind gegeben, sind Tatsachen an sich (S. 59),  da muss man nicht groß rumdiskutieren, ansonsten wären wir ja auch schon in der Nähe des Konstruktivismus, den er zu scheuen scheint wie der Teufel das Weihwasser. Auch ist die Welt (von der Gabriel selbst immer wieder spricht, obwohl es sie nicht geben darf, z.B. S. 62) in verschiedene Bereiche eingeteilt, in Gegenstandsbereiche oder Sinnfelder. Aber offensichtlich scheint niemand diese Kategorisierung vorgenommen zu haben, sie ist schlicht gegeben – auch wenn man sich damit in gefährliche Nähe eines biblischen Schöpfungsaktes begibt. Nur wird dadurch die Welt, die es nicht geben darf (und von der man dann auch gar nicht mehr weiß, wie man sie bezeichnen soll), seltsam steril. Da ist niemand, der irgendetwas tut, und da ist auch gar nichts, was sich verändern könnte. Das merkt man an den wenigen historischen Ausflügen, die Gabriel unternimmt. So behauptet er beispielsweise, dass es sich bei frühneuzeitlichen Hexendiskursen um „Geschwätz“ handele, weil es keine „Gegenstandsbereiche“, sondern nur „Redebereiche“ seien. Dementsprechend enthielten historische Texte über Hexen auch kein Wissen, weil es Hexen ja nicht gebe (S. 53). In der Logik einer Welt, die auf radikale Eindeutigkeit aus ist, mag das funktionieren. Man frage aber einmal die Menschen, die als Hexen verbrannt worden sind, von Hexen verzaubert wurden oder Hexen verurteilt haben, ob sie ebenso davon überzeugt waren, dass es sich nur um „Geschwätz“ handelte.

Gabriel steht, wie an vielen Stellen deutlich wird, in der Tradition der analytischen Philosophie, und vertritt in deren Gefolge offensichtlich die Vorstellung, dass es eine (und zwar nur eine) mögliche Weltdeutung geben müsse, die man mit den entsprechenden (wissenschaftlichen) Methoden ausfindig machen kann. Das bedeutet aber, dass in dieser Welt nicht nur keine Menschen mit all ihren Eigensinnigkeiten vorkommen, sondern dass diese Welt auch keine Geschichte haben darf (oder dass diese Geschichte zumindest bald an ein Ende kommen muss), um den Veränderungen der Weltdeutung (oh, Entschuldigung, schon wieder von „Welt“ gesprochen) eine Ende zu setzen. Hier scheint eine seltsame Verkehrung vonstatten zu gehen: Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, um Wirklichkeit besser verstehen zu können, sondern die Wirklichkeit hat sich gefälligst nach den Vorgaben der Wissenschaft zu richten.

Theorieunfähigkeit

Ich habe demgegenüber den schweren Verdacht, dass die Welt (oder die Wirklichkeit oder die Realität oder wie man dieses Ding auch immer bezeichnen will, selbst wenn man es nicht mehr bezeichnen darf) nicht theoriefähig ist. Zumindest nicht mit unseren bescheidenen Mitteln. Die Welt (jawohl, genau die) ist zu komplex, um in ein paar abstrakte Sätze gepackt zu werden, die sich auf einer übersichtlichen Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckel klemmen lassen. Gut, dieses Argument ließe sich leicht gegen mich selbst wenden, weil es nur belegt, dass meine eigenen bescheidenen Kompetenzen einfach nicht ausreichen, um eine solche Theorie zu erkennen, geschweige denn selbst zu formulieren (was ich sofort eingestehe).

Aber ich hätte noch zwei kleine empirische Befunde, die nach meinem Dafürhalten die Theorieresistenz der Wirklichkeit unterstreichen können. Erstens ist es bisher noch keinem theoretischen Entwurf gelungen, eine hinreichend zufriedenstellende Fassung der Welt zu präsentieren, denn ansonsten müssten wir ja nicht immer wieder neue Anläufe dazu nehmen. Und dass diese Letztbeschreibung noch nicht gelungen ist, ist auch gut so, denn ansonsten wären Herr Gabriel und ich und eine Unmenge anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitslos. Stattdessen lässt man uns weiter fahnden nach der Welt, die es gibt oder auch nicht.

Die einzige Art, die ich mir vorstellen kann, um Welt und Wirklichkeit in einem immer unzureichenden Sinn fassbar zu machen, ist die erzählende. Ein Grund, warum ich mit meiner Berufswahl als Historiker immer noch ganz zufrieden bin.

[Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013]


Einsortiert unter:Geschichte und Wirklichkeit, Geschichtstheorie Tagged: Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Welt, Wirklichkeit

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/08/25/11-markus-gabriel-und-theorieresistenz-der-wirklichkeit/

Weiterlesen

07. Žižek und die Geschichte mit bestimmtem Artikel

In Großbuchstaben

„Die Geschichte“ ist einfach nicht totzukriegen. Und das muss der Historiker in mir doch sehr bedauern. Dabei meine ich tatsächlich „Die Geschichte“ mit bestimmtem Artikel und möglichst vielen Großbuchstaben, diesen monolithischen Block, der sich durch die Zeit schiebt, dieses unheimliche Ding aus einer suprahumanen Sphäre, dieses alles überragende Superraumschiff, das sich wie in einem Star-Wars-Film aus dem Hintergrund über die Köpfe der machtlosen Zuschauer in die Leinwand hineinschiebt – „Die Geschichte“ also, die mit uns all die schrecklichen Dinge tut, die uns im Lauf der Zeit eben so zustoßen.

Diese „Geschichte“ erhebt eigentlich tagtäglich und tausendfach ihr Haupt. Zumeist fällt es gar nicht auf, weil es so häufig geschieht. Zum Beispiel in einem Interview, das Slavoj Žižek der Süddeutschen Zeitung vor einiger Zeit gegeben hat. Dort plumpst sie immer wieder mit deutlich zu vernehmendem Gepolter zwischen die Sätze. Žižek meint zum Beispiel: „Wenn ich mir anschaue, wohin die Geschichte gerade steuert, bin ich einfach ein bisschen besorgt.“ Abgesehen davon, dass man fast immer Grund hat, auch ein bisschen mehr als nur ein bisschen besorgt zu sein, muss man sich schon fragen, wer oder was denn da am Steuerruder sitzt, um „Die Geschichte“ zu lenken. Oder wenn er behauptet, „die Geschichte ist nicht unbegreiflich. Unbegreiflich ist nur, welche Rolle wir selber darin spielen.“ Dann ist es diese so alltäglich verwendete, aber doch mehr als seltsame Raummetapher, dass „wir“ eine Rolle „in“ der Geschichte spielen, die eigentlich verwundern muss. Es ist immer noch das große geschichtsphilosophische Welttheater, das hier aufgeführt wird, in dem wir zwar die Schauspieler sind, in dem aber ein anderer den Text und die Regieanweisungen verfasst hat. Nur wer? Žižeks Antwort: „Auch wenn kein großer Anderer unser Leben kontrolliert – kein Gott, kein Schicksal und keine Kapitalisten –, dann heißt das noch lange nicht, dass wir es deshalb selbst kontrollieren.“ Schließlich haben wir noch „Die Geschichte“, die als Gottersatz herhalten kann und in die sich all das Unerklärliche, Undurchschaubare und Verstörende der eigenen Gegenwart abschieben lässt. Probleme können auf diese Weise temporalisiert werden. Man ist ihnen immer noch ausgeliefert, weiß aber, dass sie im „historischen Prozess“ einen Ort haben, der zwar nichts erklärt, einem aber der Verantwortung abnimmt. Man muss dann nur noch die Zeit abwarten, um verstehen zu können, was man zuvor (noch) nicht begriffen hat. (Es sei denn, man verfügt über einen großen Geschichtsdurchschauer – das wäre Žižeks stalinistische Variante –, dann hätte man dank einer solchen Ausnahmegestalt auch den historischen Prozess mit seinen Konsequenzen zumindest kurzzeitig im Griff.)

Natürlich lugt hier Hegel überall durch die argumentativen Kulissen. Er ist für Žižek der mehrfach zitierte Souffleur, der die geschichtsphilosophischen Stichworte vorgibt. All das kennt man schon, wenn man den einen oder anderen Text von Žižek gelesen hat, nicht nur das Hegelianische, sondern vor allem das Großspurige, Provozierende, mit groben Pinseln Kleisternde, auf Differenzierungen möglichst wenig Rücksicht Nehmende (auch wenn er es schafft, diese Nuancierungen doch immer wieder auf unnachahmliche Art durchscheinen zu lassen). Und gerade deswegen lese ich Žižeks Texte mit Vergnügen und Gewinn, weil sie irritierend und erfrischend sind. Ich bin mir aber nie ganz sicher, ob Žižek deswegen so viel gelesen und zitiert wird, weil er wirklich gute Ideen hat oder weil er als irritierender Provokateur gute philosophische Unterhaltung darstellt. Wird er irgendwann als clownesker Philosoph oder als philosophierender Clown in Erinnerung bleiben?

Eine geschichtsphilosophische Hängematte

Bei einer Sache bin ich mir allerdings sicher: Als innovativer Erneuer der Geschichtsphilosophie taugt er kaum. An diesem Žižek-Interview interessiert mich auch offen gestanden nicht die geschichtsphilosophische Komponente. Es ist vielmehr ein sprechendes Indiz für eine weit verbreitete Auffassung von „Der Geschichte“, die aus der einstigen Geschichtsphilosophie längst ihren Weg in den Alltag gefunden hat – oder war es umgekehrt? Gerade deswegen erscheint Žižeks Auffassung von Geschichte zunächst so selbstverständlich und völlig unproblematisch, weil sie so alltäglich ist. Natürlich hat das nicht erst Hegel erfunden, da war der liebe Gott dann doch ein bisschen schneller. Die heilsgeschichtliche Basis dieses aufgeblähten Geschichtsmonstrums ist nicht zu übersehen. Und ich bin mir fast sicher, dass auch Žižek nur der vorletzte Vertreter Hegelscher Geschichtsphilosophie sein wird. Denn immer wenn man denkt, es gäbe keine Hegelinaer mehr, kommt von irgendwo ein neuer her.

Das ist es, was mich ernsthaft zur Verzweiflung bringen kann, dass wir Heilsgeschichte und Hegels „Geschichte“ einfach nicht loswerden, dass wir es uns in dieser geschichtsphilosophischen Hängematte bequem gemacht haben, um uns aus der historischen Verantwortung stehlen zu können. Damit will ich noch nicht einmal die aufklärerische Perspektive angesprochen haben, dass der Mensch für sein historisches Handeln selbst verantwortlich sei. Denn unter einem solchen Blickwinkel kommt immer noch das Drama mit dem Titel „Die Geschichte“ zur Aufführung – nur der Regisseur hat gewechselt. Nein, es geht nicht nur darum, dass wir „Die Geschichte“ selbst machen, sondern dass wir aus diesem Gemachten wiederum eine Erzählung formen, der wir den Namen „Die Geschichte“ geben. Und diese Erzählung macht sich irgendwann selbstständig, tritt ihren Schöpfern entgegen, die ob dieses hochkomplexen Wunderwerks in basses Erstaunen verfallen und sich (wie Žižek) fragen: Wohin soll das alles noch führen? Aber vergessen wir nicht: Dieses Star-Wars-Superraumschiff, auf dem in riesigen Lettern „Die Geschichte“ steht und das sich mit dumpfem Grollen wie eine gigantomanische Gewitterwolke in die Leinwand unsers Lebens hineinzuschieben scheint, ist nicht nur das Ergebnis menschlicher (und nicht extraterrestrischer) Anstrengungen – es ist vor allem Bestandteil eines Films.

[Slavoj Žižek/Jan Füchtjohann: „Dies ist eine gute Zeit für Philosophen“, in: Süddeutsche Zeitung, 6. März 2013, S. 12


Einsortiert unter:Geschichtstheorie Tagged: Geschichtsphilosophie, Hegelianismus, Slavoj Žižek

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/05/19/07-zizek-und-die-geschichte-mit-bestimmtem-artikel/

Weiterlesen

01. Nietzsche und die historische Gretchenfrage

Aus nicht ganz aktuellem Anlass ein paar Worte zu einem alten Freund und Kupferstecher: Nietzsche ist ein notorisch aufregender Diskussionspartner, schließlich gibt es im Dialog mit seinen Büchern kaum Wohltemperiertheit. Die mittlere Stimmung ist nicht seine Stärke, die heftige Polemik, die thesenhafte Zuspitzung, die Verschmähung von Gegnern, das opulent formulierte eigene Anliegen hingegen schon. So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder zwischen jubelnder Zustimmung und grunzender Ablehnung.

Da mich das Historische in seiner allgemeinen wie auch besonderen Präsenz in unser aller Alltag interessiert, soll es hier um Nietzsches famose zweite unzeitgemäße Betrachtung gehen. Dieser Text hat unübersehbaren Einfluss ausgeübt auf die Behandlung der geschichtstheoretischen Gretchenfrage, wie wir es nämlich mit der Bedeutung der Geschichte in unserem Leben halten wollen. Bei Nietzsches Lebensbegriff mag das verzweifelte Stöhnen der Leserschaft bereits anheben. Denn sein Verständnis von „Leben“ ist emphatisch aufgeladen und kommt – Arm in Arm untergehakt – mit der „Gesundheit eines Volkes“ und der Bedeutung der „Tat“ daher, die allesamt in mehr als einer Hinsicht Schwierigkeiten machen können.

Wollen Sie die letzten zwanzig Jahre noch einmal leben?

Seien wir jedoch für einen Moment großzügig und lassen die eine oder andere Unstimmigkeit beiseite. Ich befleißige mich eher als geschichtstheoretischer Parasit und befrage Nietzsches „Unzeitgemäße“ (welche Anmaßung schon hier: bestimmen zu wollen, was „die Zeit“ ausmacht, um sich von ihr mit einem hochnäsigen Avantgardismus abzusondern) daraufhin, was sie uns heute noch zu sagen hat. Weniger erkenntnisfördernd finde ich dabei die ansonsten häufig behandelte Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung. Es ist vielmehr eine andere, eher unscheinbare, weil theoretisch auf den ersten Blick nicht sonderlich interessante Frage, die meines Erachtens Aufmerksamkeit verdient. Was nämlich, so fragt Nietzsche, wenn man seine Bekannten (oder auch die gänzlich Unbekannten) fragen würde, ob sie die letzten zehn bis zwanzig Jahre noch einmal durchleben wollten (S. 255)? An dieser Form historischer Problematisierung – wie hältst du es mit der Bedeutung der Vergangenheit für deine Gegenwart? – könnten sich unterschiedliche Formen der Geschichtskultur festmachen lassen, ließen sich diverse historische Typen identifizieren (von denen Nietzsche schon einige benennt) und damit auch gänzlich unterschiedliche Arten und Weisen bestimmen, Geschichte zu haben und zu machen. Aus diesen diversen Formen der Geschichte ergäben sich wiederum Möglichkeiten der geschichtstheoretischen Reflexion.

Man kann den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ also in der vermeintlich banalen Beobachtung sehen, dass wir in einer Kultur leben, die sich ohne große Gegenrede seit Langem darauf verständigt hat, „der Geschichte“ eine zentrale Rolle zuzuweisen. Wir leben mithin in einer soziokulturellen Wirklichkeit, die sich der Beobachtung der eigenen Historisierung verschrieben hat, die also ihrer eigenen Geschichte konstitutiven Wert beimisst, gegenwärtige Geschehnisse beständig auf ihren historischen Wert hin taxiert, permanent mit der Produktion von „eigener“ Geschichte beschäftigt ist und nicht zuletzt deswegen sämtliche Phänomene mit einem Datum versieht. Das ist in (historisch und global) vergleichender Perspektive keineswegs notwendig. Man könnte auch sehr gut ohne ein solches Verständnis von „Geschichte“ leben. Europa und dem Westen kann das aber kaum noch gelingen. Warum nicht? Welche Vor- und Nachteile hat eine solche Form der permanenten Historisierung?

Sie verführt zumindest dazu, „Geschichte“ als einen neutralen, alles umhüllenden Container zu begreifen, der die objektive Chronologie vorgibt, in den sich menschliche Tätigkeiten, gesellschaftliche Begebenheiten und kulturelles Geschehen einsortieren lassen. „Geschichte“ wird damit zum säkularen Religionsersatz. Was jedoch außer Acht bleibt, ist die Historizität der Historie – mit fatalen Folgen. [1]

Die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anpassen

Nietzsche warnt beispielsweise vor einer naiven, ja ich würde sagen: arroganten Art und Weise des Umgangs mit dem Historischen, die nicht erst zu seinen Zeiten ein Problem darstellte, sondern seither nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es ist eine Position, die untrennbar mit einer diffusen Fortschrittsgläubigkeit verbunden ist und sich unbesehen selbst an die Spitze der historischen Entwicklung setzt, um majestätischen Blicks auf die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit herabzublicken. „Jene naiven Historiker nennen ‚Objectivität‘ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“ (S. 289)

Das schließt für Nietzsche eine weitere Position im Umgang mit der Vergangenheit aus, nämlich die richtende. Wenn man sich schon nicht anmaßen kann, die Klimax historischer Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen – Nietzsches Lieblingshaudrauf ist hier natürlich Hegel –, wie sollte man sich dann ein Urteil über frühere Zustände erlauben? „Als Richter müsstet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid. Die Gäste, die zuletzt zur Tafel kommen, sollen mit recht die letzten Plätze erhalten: und ihr wollt die ersten haben?“ (S. 293)

Aber halt: Würde ein solcher Verzicht denn nicht bedeuten, sich der Beurteilung offensichtlichen Unrechts zu entheben? Man muss dabei nicht erst auf den Holocaust verweisen, denn das Problem würde sich auch in zahlreichen anderen Fällen stellen. Hier ginge es aber wohl darum, die Ebenen auseinander zu halten, denn ein Geschehen historisch einzuordnen und für eine Gegenwart anschlussfähig zu machen, ist etwas anderes, als daraus die moralischen Konsequenzen zu ziehen. Beide Schritte bleiben zwar aufeinander bezogen, betreffen aber tatsächlich grundlegend andere Zeitebenen. Einmal wird in der Gegenwart über die Vergangenheit gesprochen, das andere Mal werden aus der Vergangenheit Konsequenzen für die Gegenwart gezogen. Ob die Vergangenheit diese Konsequenzen auch schon hätte ziehen können, wäre wiederum eine historische Frage.

Kein Baum vor lauter Wald

Welche Fragen könnte man also im Anschluss an Nietzsche stellen? Welche anderen Umgangsformen mit dem Geschichtlichen kann man identifizieren? Wo ließe sich das Historische in unserem Alltag und unserem „Leben“ ausfindig machen? Die Schwierigkeit ist wahrscheinlich eher, den Baum im Waldesdickicht erkennbar zu machen. Denn, wie nicht großartig bewiesen werden muss, das Historische ist überall – nur möglicherweise nicht immer ganz offensichtlich. Und es ist nicht immer leicht zu sagen, in welcher Form es sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bemerkbar macht.

Beispiele für Historisierungen, für den Gebrauch und Missbrauch von Geschichte gibt es nun wahrlich zuhauf. Wir werden geradezu überflutet mit der beständigen Rede von angeblich historischen Ereignissen, die sich im Minutentakt ereignen, von einem alles erinnernden Memorialkult, vom Geschichtsfernsehen, von Zeitschriften und Büchern historischen Inhalts, von Mittelaltermessen – und von unserem eigenen permanenten Verfilmen und Verfotografieren unseren banalen Alltags, wodurch wir längst zu unseren eigenen Ego-Historikern und Ego-Archivaren geworden sind. Man kann zuweilen Nietzsches Verzweiflung angesichts einer allgegenwärtigen Überhistorisierung verstehen. „By the time you look at something it’s already history“, sang Bruce Cockburn einst. Auch wenn er damit eher die Flüchtigkeit von Werten beklagte, kann man diesen Satz auch als Anklage gegen eine übermäßige Vergeschichtlichung verstehen.

Wie weitermachen? Wie soll man sich in einer solchen Situation noch ernsthaft mit Geschichte beschäftigen können? Nietzsche weiß Rat: mit der unumgänglichen Anwendung der Historie auf sich selbst. Eine Selbstoperation ohne Narkose, gewissermaßen. Es geht also nicht um eine disziplinäre Selbstversicherung, nicht um eine Geschichte der Geschichtsschreibung, sondern um eine geschichtstheoretische Selbstverunsicherung. Der „Ursprung [der historischen Bildung] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren […].“ (S. 306) Daher: Sucht „die Geschichte“ und spießt sie auf, wo immer ihr sie trefft. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, wir hätten mit dieser Arbeit kaum begonnen.

[1] Elizabeth Deeds Ermarth, History in the discursive condition. Reconsidering the tools of thought, London/New York 2011, 98.

[Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Sämtliche Werke. Krirtische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 9. Aufl. München 2012, 243-334]


Einsortiert unter:Geschichtstheorie Tagged: Friedrich Nietzsche, Geschichtskultur, Geschichtstheorie

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/03/30/nietzsche-und-die-historische-gretchenfrage/

Weiterlesen