Haben Sie schon einmal jemanden von Ihrem neuen Vorhaben erzählt und Ihr Gesprächspartner hat abgewunken und gleich mehrere Einwände gehabt? Vorher waren Sie euphorisch, danach völlig ernüchtert? Folge: Sie werden mit diesem Menschen so schnell nicht wieder über neue Pläne sprechen. Möglicherweise werden Sie in Zukunft eher versuchen, ihn zu meiden.
Können Sie sich noch an die Rückgabe der Klausuren in der Schule erinnern? Als sie in absteigender Reihenfolge zurückgegeben wurden? Die guten zu erst und dann die immer schlechteren. Haben Sie auch einmal als einer der letzten Ihre Klausur zurückerhalten? Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Folge: Schlechte Noten verursachen Angst. Mit Angst kann man nicht lernen, das hat die Neuropsychologie festgestellt. Aber leider wird hieraus schnell eine Spirale, die sich schnell nach unten dreht: Schlechte Noten, Beschämung in der Schule durch den Lehrer (beispielsweise die o.g. Prozedur der Rückgabe), Eltern schimpfen. Wollen das Beste. Streichen den nachmittäglichen Sport:“ Ab jetzt gibt es kein Fußball mehr: Du gehst jetzt zur Nachhilfe.“ Mehr Stress. Es wird immer enger. Mehr Angst. Die Wahrscheinlichkeit, in Zukunft bessere Noten zu schreiben, sinkt. Einsatz von Psychopharmaka. Selbstwert im Keller. Eine mögliche Strategie des schlechten Schülers: Zusammenschluss mit anderen schlechten Schülern. In der Clique wird der größte Schmarrn gemacht. Eltern und Lehrer schimpfen (weiterer Selbstwertverlust), aber innerhalb der Gruppe der Schlechten geben sie sich dafür Anerkennung (Selbstwerterhöhung).
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie mit der Bedienung eines Gerätes oder einer Software nicht zurechtkommen. Alle anderen scheinen es zu können, nur Sie nicht. Komisch oder? Folge: Sie benutzen die Software nicht mehr. Sie bitten jemand anderen, es für sich zu tun:“ Ich kann das nicht. Ich bin viel zu ungeschickt dazu“. Falls es sich um Hardware handelt: Sie kaufen sich ein anderes Gerät.
Sozialpsychologisch kann das mit dem Attributionsfehler erklärt werden: Im Hinblick einer den Selbstwert schützenden Funktion neigen wir dazu, eigene Erfolge uns selbst, Misserfolge externen Ereignissen zuzuschreiben. Fatalerweise suchen wir aber gerade im Umgang mit dem Computer Fehler in der Bedienung bei uns selbst. Don Norman beschreibt das Phänomen wie folgt: „Ich beobachte oft, wie Menschen im Umgang mit mechanischen Geräten, Lichtschaltern und Sicherungen, Computer-Betriebssystemen und Textverarbeitungsanlagen, sogar Flugzeugen und Kernkraftwerken Fehler machen – manchmal gravierende. Unweigerlich haben die Leute ein schlechtes Gewissen und versuchen entweder, den Fehler zu vertuschen, oder sie klagen sich selbst an wegen „Dummheit“ oder Tolpatschigkeit“. Ich habe es oft schwer, die Erlaubnis zum Zuschauen zu erhalten. Niemand läßt gern einen anderen zusehen, wie er sich „dumm“ anstellt. Ich weise darauf hin, daß es sich um ein fehlerhaftes Design handelt und daß andere denselben Fehler machen. Aber wenn die Aufgabe einfach oder trivial erscheint, dann suchen die Leute die Schuld bei sich! Es ist, als ob sie auf perverse Weise stolz darauf wären, sich selbst für mechanisch inkompetent zu halten.“
Beispiel Arbeitsplatz
Belohnung ist etwas Positives und stärkt den Selbstwert. Wie werden Mitarbeiter in Unternehmen belohnt? – Mit Gehaltserhöhungen, Prämien oder Boni. Man weiß heute, dass die positive Wirkung einer zusätzlichen Geldleistung durch den Arbeitgeber nur kurz anhält und sich der Angestellte sehr schnell daran gewöhnt. Der Normalzustand ist bald wieder erreicht. Dabei gibt es eine Möglichkeit, Mitarbeiter zu guter Leistung anzuspornen, die gratis ist: Wertschätzung. Das ist sogar Beraterfirmen wie McKinsey bekannt. Die drei besten „noncash motivators“ sind demnach: Lob und Anerkennung durch den direkten Vorgesetzten, Aufmerksamkeit, sowie die Möglichkeit, Projekte in Eigenverantwortung ausführen zu können.
Das sind nur ein paar wenige Beispiele, aus denen hervorgehen dürfte, dass wir Menschen die Bestrebung haben, unseren Selbstwert zu erhöhen. Diese Situationen suchen wir. Situationen, in denen ein Selbstwertverlust droht, versuchen wir zu vermeiden. Und zwar immer, überall und jederzeit. Das kann man auch mit Crowdsourcing in Bezug setzen:
Crowdsourcing und der Selbstwert
Internetbasiertes Crowdsourcing ist technologiegestützt und basiert auf der freiwilligen Teilnahme der Nutzer. Zugegeben, die folgenden Features stützen häufig mehrere der vier genannten Bedürfnisse. Ich betrachte Sie aber hier hauptsächlich unter dem Aspekt des Selbstwertes. Die Aufzählung erhebt nicht den Anspruch, vollzählig zu sein; sie soll einen Denkanstoß und ein Gefühl dafür vermitteln, mit welchen Features der Selbstwert innerhalb einer Crowdsourcing-Anwendung angesprochen wird:
- Eine fehlerfrei funktionierende sowie intuitiv und leicht zu bedienende Anwendung. Das hört sich banal an. Wer aber keine bugfreie und einfache Anwendung hinkriegt, darf sich alle weiteren Überlegungen sparen, denn der Nutzer kann mit einem einzigen Klick jederzeit abspringen.
- Stellt die Plattform ein Diskussionsforum zur Verfügung, dann muss hier auf eine gute Netiquette und auf Fairness Wert gelegt werden.
- „Nonfinancial motivators“, also Anerkennung. Bei ARTigo wäre das die Einladung eines besonders fleißigen Taggers durch den Museumsdirektor.
- Feedback über den Betrag der Hilfeleistung des Nutzers.
- Aufmerksamkeit: Bei Problemstellungen vielleicht ein Interview mit dem Nutzer, der die Lösung entdeckt hat. Wie ist er darauf gekommen? Etc.
- Verteilungsgerechtigkeit: besonders bei Crowdsourcing-Initiativen, die von Unternehmen ausgehen, muss den Teilnehmern vermittelt werden, ob sie die Teilnahme als Ausbeutung oder faires Geschäft sehen.
- Prozessgerechtigkeit: Wie fühlen sich Teilnehmer behandelt? Fühlen sie sich wichtig genommen und wertgeschätzt? Oder eher bedeutungslos? Auch dieser Eindruck entscheidet über die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an einem Crowdsourcing-Projekt.
- Wieviel Sinn vermittelt die Tätigkeit? Nach Martin Seligmann geht man einer sinnhaften Beschäftigung um ihrer selbst willen nach. Da kann kommen was will, man bleibt dabei. Zudem trägt Sinn direkt zum Wohlbefinden bei. Das hat wiederum positive Auswirkungen, u.a. auf den Selbstwert.
Fazit:
Das Bestreben nach Erhöhung des Selbstwertes und Vermeidung von Selbstwertverlust begleitet uns auch bei der Arbeit am und mit dem Computer. Nutzer legen ihren Selbstwert nicht vor dem Schreibtisch nieder (und auch nicht die weiteren Bedürfnisse, um die es in dieser Artikelreihe geht). Programmierern ist das meist gar nicht erst bekannt. Es gibt an den Unis zwar den Bereich der Human Computer Interaction (HCI), der lehrt, wie man menschengerechte Software herstellt, aber die Masse der angehenden Software-Entwickler verfügt hier – wenn überhaupt – nur über rudimentäres Basiswissen, was eindeutig nicht ausreicht.
Mit HCI allein ist es aber nicht getan: Der Nutzer möchte ernst genommen werden, ein freundlicher, wertschätzender Umgangston in Foren ist ein absolutes Muss. Für eine Umgebung, in der sich der Nutzer wohl fühlt, damit er seine Kenntnisse und Fähigkeiten in das Crowdsourcing einbringen kann, braucht es Mitarbeiter, die mit Erfahrung und Fingerspitzengefühl eine solche Umgebung zu schaffen vermögen.
Weitere Artikel dieser Serie:
- Auftakt zur Artikelreihe: Was macht Crowdsourcing erfolgreich?
- Crowdsourcing: Definition und Prozessbeschreibung
- Die Auswirkung von Kontrolle und Orientierung auf Crowdsourcing
- Die Auswirkung von Gemeinschaft auf Crowdsourcing
- Die Auswirkung von Selbstwerterhöhung auf Crowdsourcing
- Die Auswirkung von Lustgewinn und Unlustvermeidung auf Crowdsourcing
- Crowdsourcing – was ist das und was macht das (15.3.2013)
- Crowdsourcing in der Renaissance? Aber Ja! (23.3.2013)
Bild: “Le rieur” von Ernest Meissonier, 1865, Compiègne/Musée National du Château de Compiègne et Musée du Second Empire. Digitale Quelle: www.artigo.org
Quelle: http://games.hypotheses.org/1539