Was ists, das hinter diesem Schleier sich verbirgt? Zur Debatte um Mein Kampf und weshalb man Wirkungszuschreibungen vermeiden sollte.

Ende 2015, 70 Jahre nach Adolf Hitlers Tod, werden die Nutzungsrechte an Mein Kampf, die nach Kriegsende auf den Freistaat Bayern übergingen, auslaufen. Dann steht jedem eine Veröffentlichung von Hitlers Programmschrift, auch unkommentiert, frei. Deshalb hatte das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) 2009 in Eigeninitiative ein Editions-Projekt ins Leben gerufen, das durch eingehende Kommentierung „Hitlers Quellen Schritt für Schritt offenzulegen, den politik-, militär-, ideen-, kultur- und sozialgeschichtlichen Entstehungskontext seiner Weltanschauung nachzuzeichnen“ sucht, um „[...] jedem ideologisch-propagandistischen oder kommerziellen Missbrauch von Mein Kampf entgegenzuwirken.”1 Das Projekt wurde vom bayrischen Landtag gebilligt und schließlich mit einer halben Million Euro durch das bayrische Kultusministerium unterstützt, bis die Staatsregierung unter Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) vergangenen Dienstag, den 10. Dezember 2013, überraschend beschloss, eine Veröffentlichung unter bayrischem Staatswappen nun doch zu verhindern. Das IfZ will jedoch weiterhin in Eigeninitiative an der wissenschaftlich kommentierten Ausgabe arbeiten.

Ein Gesetz: Kein Sterblicher rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

Der Anstoß, den man an der Haltung der bayrischen Staatsregierung gegenüber einer wissenschaftlich qualifizierten Edition von Mein Kampf nehmen könnte, wirkt unter diesen Voraussetzungen freilich nicht so groß, denn es sieht so aus, als stände außer dem Rückzug der Förderung durch den Freistaat nichts einer Veröffentlichung 2015 entgegen. Die Staatskanzlei kündigte indes unlängst an, dass gegen Verlage, die Mein Kampf veröffentlichen wollen, zukünftig pauschal Strafanzeige wegen Volksverhetzung im Sinne von § 130 StGB erstattet werde2: Die Staatsregierung bezog in den vergangenen Jahren bereits so Position, eine Veröffentlichung der Hetzschrift sei „strafbar als Verbreitung von verfassungsfeindlicher Propaganda sowie als Volksverhetzung”3; selbst wenn sich diese Haltung 2012 besonders auch auf Initiative des bayrischen Landtages zu lockern schien, wurde sie nun noch einmal durch den Ministerrat deutlich zementiert.

Ich bin sicher nicht juristisch qualifiziert genug, um den Vorwurf der Verbreitung von verfassungsfeindlicher Propaganda und der Volksverhetzung zu widerlegen. Verweisen kann ich auf den Wortlaut von § 86 StGB, insb. Abs. 2 und 3, und auf ein darauf bezogenes Urteil des BGH vom 25. Juli 19794, in dem unter anderem begründet wird, dass Mein Kampf (genauer: jede vorkonstitutionelle Schrift im Allgemeinen) nicht dazu geeignet ist als Propagandamittel im Sinne von § 86 StGB zu gelten, wenn diese nicht durch zum Beispiel ein Vorwort oder Textzusätze/-ergänzungen „in der Weise aktualisiert wird, dass nunmehr aus ihrem Inhalt selbst die Zielrichtung gegen die Verfassung der Bundesrepublik hervorgeht.”5 In Bezug auf den Vorwurf der Volksverhetzung im Sinne von § 130 StGB, insb. Abs. 2, ist Abs. 6 desselben Paragraphen zu beachten, der Abs. 2 unter die Ausnahme von § 86 Abs. 3 stellt, also eine Ahndung ausschließt, wenn eine entsprechende Handlung „der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.”

Ich sehe deshalb, wie gesagt ohne ausreichend juristische Qualifikation zu genießen, um derlei Rechtsfragen stichhaltig bewerten zu können, keinen Anhalt für ein rechtliches Vorgehen gegen mindestens eine wissenschaftlich einwandfrei kommentierte Ausgabe von Mein Kampf. 2008 ließ das Communiqué des bayrischen Finanzministeriums zudem erkennen, dass es auch nicht direkt darum ginge, der Verfassung gerecht zu werden, sondern man sich „mit einer restriktiven Haltung sehr viel Anerkennung erworben” habe und da man das Werk deshalb nun für per se verfassungsfeindlich halte, sei auch „nicht zu erwarten, dass nach dem Erlöschen des Urheberrechts das Werk wild veröffentlicht werde.”6 Zumindest wenn man die zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten dazu nutzen kann, jeglichen Veröffentlichungsversuch zu unterbinden. An der Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit eines solchen Vorgehens bleiben m.E. berechtigte Zweifel offen.

Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott.

Und dabei könnte nun gerade eine womöglich sogar mitbetreute wissenschaftlich kommentierte Ausgabe der bereits jetzt bestehenden „wilden” und unkontextualisierten Verbreitung besonders im Internet7 eine wertvolle, da entsprechend kontextualisierte Alternative entgegenstellen. Mein Kampf hat darüber hinaus in den letzten Jahrzehnten eine massive Verbreitung gerade (aber bei Weitem nicht ausschließlich) im arabischen Raum erfahren und dort sein Übriges getan antisemitistische Argumentationsweisen zu befeuern. Wer – zumal mit rechtsstaatlichen Mitteln – versucht, entsprechend kontextualisierende und aufklärerische Ausgaben im deutschsprachigen Raum zu verhindern, versagt unserer Gesellschaft die Möglichkeit, die Gefahrenpotentiale von Hitlers Hetzschrift zum Beispiel auch im interkulturellen Diskurs aktiv zu entschärfen.

Wer darüber hinaus unterstellt, eine solche Schrift gefährde per se noch heute den öffentlichen Frieden und gereiche per se zur Ächtung eines Teils der Bevölkerung, der gesteht ihr eine gewissermaßen recht privilegierte Macht zu. Das ist eine aktive Mystifizierung im ursprünglichen Wortsinn; hüllt man ein Werk, eine Person, ein Symbol in ein solches Mysterium ein, erhält das so geschaffene Mysterienkonstrukt eine transzendente Stellung gegenüber der eigentlich recht banalen materiellen Verfasstheit des so Verhüllten: Die Unterstellung, Mein Kampf wäre schon an sich in jedem beliebigen heutigen Kontext volksverhetzend, völlig unabhängig von Herausgabeintention und Umgang damit, gibt dem Konstrukt eine Überzeitlichkeit, die der Schrift beim besten Willen nicht zusteht.

Das wirkt vergleichbar mit der noch immer praktizierten Mystifizierung Hitlers als das ultimative Monstrum, das nicht etwa nur durch Zuschreibung, sondern durch bewusste Transzendentmachung in seiner Monströsität potenziert wird. Das Dokumentationsdrama Speer und Er (2005, Heinrich Breloer) beispielsweise trägt die Monströsität schon im Titel: Eigentlich geht es im Film gar nicht so sehr um Hitler, sondern – der Titel möchte es eigentlich verraten – um den Kriegsverbrecher Albert Speer. Brisanz wird aber, zumindest ad hoc im Titel, nicht mit dessen Verwicklungen in die Machenschaften der Nationalsozialisten und seiner zweifelhaften Selbstinszenierung erzeugt, sondern viel eher durch den phorischen Verweis auf Ihn, dessen Nicht-Nennung dem geneigten Publikum genug Raum lässt sich zu überlegen, dass Speer ohne Ihn als transzendentes Prinzip womöglich kein Kriegsverbrecher gewesen wäre.8 Es handelt sich dabei m.E. noch um eine vergleichsweise seichte und einigermaßen unaufdringliche Vorgehensweise; der plakativ das „Monstrum Hitler” herausstellenden Beispiele gibt es allerdings so viele, dass ich dem geneigten Leser sicher den Gefallen tun kann, es bei diesem einen zu belassen und schlicht darauf zu verweisen, dass gerade populärwissenschaftliche Dokumentationsreihen die Zentralsetzung Hitlers in Bezug auf das Dritte Reich als zweckmäßige Strategie erkannt haben; scheinbar ohne dass die Macher sich darüber im Klaren sind, dass sie damit ein essentielles Prinzip des Führerkults reproduzieren.

Aber auch auf mehr Sachlichkeit bedachte Darstellungsformen beackern oftmals ein Bildwissen, das die nationalsozialistische Propaganda selbst ausgefurcht hat. Es gibt eine handvoll Bilder Adolf Hitlers, die permanent immer und immer wieder auftauchen müssen, darunter die beiden Schulterstück-Aufnahmen, die die 1943er-Auflage von Mein Kampf auf der Vorderseite und in der Titelei zieren9; als die typischsten heutzutage gezeigten Filmaufnahmen würde ich die Abschlussrede Hitlers im Riefenstahl-Film Triumph des Willens von 1935 oder ähnliche Rede-Aufnahmen sowie Ausschnitte aus den Privataufnahmen mit Eva Braun am Obersalzberg ausweisen wollen. Bis auf letztere greift man dabei auf eindeutiges Propaganda-Material zurück. Durch die Rekontextualisierung werden sie zwar eindeutig von ihrer propagandistischen Einbettung enthoben, besonders der Riefenstahl-Ausschnitt wird nicht selten in den Dienst einer satirischen Doublage gestellt oder dient der bloßen stummgeschalteten Bebilderung von Ausführungen aus dem Off, für die sonst kein spezifisches Material zur Verfügung steht. Die Wirkweise der Bilder verliert sich allerdings nicht, sie wird verändernd weitergenutzt oder – was schlimmer wiegt – in ihrer Wirkungskraft im Sinne des Führerkults nicht ernstgenommen.

Wenn von der Wahrheit nur diese dünne Scheidewand mich trennte – und ein Gesetz

Unsere Gesellschaft ist es gewohnt, das „Monstrum Hitler” heraufzubeschwören und dabei immer weiter an diesem überweltlichen Konstrukt zu bauen, das mit einem unwirklichen Macht-Privileg ausgestattet wird und die Gesellschaft so wiederum in Ohnmacht davor versetzt. Das kann als Abwehrmechanismus durchaus seine Funktionalität besitzen und fügt sich recht passgenau in eine Darstellungstradition ein, die von ‘Machtergreifung’ und ‘Tag der Befreiung’ spricht, die den ‘Verführer der Massen’ kennt; es fügt sich passgenau in eine Sprach- und Identitätskrise nach dem Krieg, die sich ihrer eigenen Ausdrucksformen ob nationalsozialistischer Instrumentalisierung oder Ächtung nicht mehr sicher sein konnte und zwangsläufig dem ausgesprochen realen Grauen mit mehr oder minder adäquaten Konstrukten des Grauens begegnet. Es ist eine absolut logische Reaktion, dem nationalsozialistischen Führer-Konstrukt das entmenschte Konstrukt des Monster-Hitlers entgegenzustellen, um den ideologischen Ballast der faschistischen Propaganda abzufassen und möglichst auszuexorzieren.

Daher rührt m.E. auch die restriktive Haltung gegenüber Mein Kampf. Es ist nicht etwa der Inhalt der Schrift und ihr etwaiges hetzerisches Potential, das sich ja per se in der heutigen Gesellschaft überhaupt nicht mehr entfalten könnte10, sondern die Aufrechterhaltung der mindestens ursprünglich ausgesprochen gerechtfertigten Schutzhaltung. Indem man nun aber fortfährt, der Schrift ein hohes Hetzpotential zuzuschreiben, weil es ein essentieller Zuschreibungsbestandteil des Hitler-Konstrukts ist, erkennt man der nationalsozialistischen Ideologie unter der Macht eines hitlerschen Monstrums implizit eine überzeitliche Fähigkeit zur Einflussnahme an und macht Mein Kampf zu einem vermeintlich priviligierten Erkenntnismedium, vor dessen ‘Wahrheiten’ Sais-Schleier und Gesetz den Bürger schützen müssen, der seinerseits zum Zwecke seiner Meinungsbildung auf den Wahrheitsanspruch eines offiziellen Narrativs zu vertrauen habe, dem ja dann ein Wissen innewohnt, das ihm selbst verwehrt bleibt. In solche Unbestimmtheit gesetzt aktualisiert man stetig die Wirkmächtigkeit des Werkes, indem man ihm im Zirkelschluss stetig Wirkmächtigkeit zuspricht. Man darf es wohl als fatal bezeichnen, dass damit „die Faszination einer Macht, die ihren einzigen Grund in ihrer Ermächtigung hat und sich aus dem Nichts selbst erschafft”11, zwar stark umgewertet, aber eben dennoch aufrechterhalten wird.

Und wer mit ungeweihter schuldger Hand den heiligen, verbotnen früher hebt

Der so um Mein Kampf und Hitlers Gestalt gehüllte Schleier befeuert dann nicht nur den Führerkult, dem man eigentlich Herr werden möchte, teilweise sogar noch in Resten seiner demagogischen Einbettung, sondern sie verwehrt aktive Einflussmöglichkeiten auf das Geschichtsbild, das ja ohnehin ständig von revisionistischer Seite dem hanebüchenen Vorwurf der verzerrenden Wirklichkeitsselektion ausgesetzt ist. Eine wissenschaftlich fundierte Dekonstruktion und damit auch Entmystifizierung der Schrift und des Hitler-Konstrukts versetzte die Gesellschaft in die Lage, sich gegenüber faschistischen Argumentationsweisen und ihren Ablegern in Bezug zu setzen und der Breite der Öffentlichkeit aufklärerisch Zugang zu gewähren. Meiner sehr persönlichen Ansicht nach gesundet gerade die deutsche Kultur auch nur in der Aufgabe des Hitler-Konstrukts, dessen Alleinanspruch auf Abscheulichkeit und Demokratiefeindlichkeit den Führerkult – wie ausgeführt und absurderweise! – in seiner Wirksamkeit nachträglich befördert und dazu geeignet ist, zeitgenössische Tendenzen mit ähnlich verheerenden Konsequenzen weichzuzeichnen bzw. die Anfälligkeiten demokratischer Systeme auszublenden. Die Gesellschaft hingegen in ihrer Breite an die theoretischen Grundlagen der nationalsozialistischen Demagogie – und dazu ist Mein Kampf m.E. sehr gut geeignet – heranzuführen, den Schleier so zu lüften, erscheint mir als eine ehrlichere und weitaus wirksamere Position.

Das muss nicht unter dem bayrischen Staatswappen passieren; es müssen indes Möglichkeiten offen bleiben Mein Kampf und Adolf Hitler in ihrer Historizität wahrnehmbar zu machen. Das hilft auch bei der Entschärfung der propagandistischen Potentiale, die gedrungenermaßen weitertradiert und so teilweise reaktualisiert werden: Die Faszination am „Monstrum Hitler”, aus der sich beispielsweise eine große Menge populärwissenschaftlicher Formate brisanzsteigernd speißt, würde an Gefahrenpotentialen und nicht zuletzt vielleicht auch an ihrer fragwürdigen Wirksamkeit einbüßen, legte man ihren Kern offen und zeigte auf, mit welchen Mitteln sie überhaupt hervorgerufen wurde.

Allein schon die zugängliche Rekonstruktion von Hitlers Quellen und Gedankengebern gäbe womöglich weitreichende Aufschlüsse und entzauberte ein Stück weit den Führerkult. Eine solche Rekonstruktion darf jedoch nicht auch noch zukünftig in einen Elfenbeinturm voller Mysten gesperrt werden, schon gar nicht, weil zeitgenössische Führerkulte und Ideologisierungsstrategien dezidiert außerhalb von wissenschaftlich geschulten Kreisen ansetzen. Ich will keineswegs unterstellen, dass eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe von Mein Kampf dazu in der Lage wäre, vor jeglicher Hetze und demokratiefeindlich-ideologischer Einflussnahme zu schützen; das stellte die Schrift ebenfalls auf das Podest des privilegierten Erkenntnismediums, das sie nicht ist. Es wäre allerdings zu erwarten, dass das zielstrebige und in unseren Wertekanon eingebettete Offenlegen der Grundlagen von Hitlers Demagogie, deren verheerende Konsequenzen uns durch die in den letzten Jahrzehnten geschehene Aufarbeitung sehr bekannt sind, das Auge schult für ganz ähnliche oder mindestens entfernt vergleichbare Weisen. Luise Rinser, um nur ein Beispiel anzuführen, zeigt in ihrem Nordkoreanischen Reisetagebuch12 sehr eindrucksvoll, wie blauäugig man auch als eine der großen literarischen Stimmen nach dem Niedergang des Dritten Reiches, wenngleich noch in den 1980er-Jahren, dem nordkoreanischen Modell des Führerkultes und der propagandistisch überinszenierten Verheißungserfüllung13 hemmungslos auf den Leim gehen kann.

Vielfach geflügelt ist das Wort, das meint, man lerne aus Geschichte. Was sie für Geschichte hält, muss eine Gesellschaft, zumal eine, die das nationalsozialistische Regime zu beerben hatte, für sich selbst festmachen. Mein Kampf in seiner Historizität als vorkonstitionelles Machwerk Adolf Hitlers und nicht als eine hetzerische Geißel der Sozialdemokratie zu begreifen und so damit umzugehen, gewährte womöglich das Privileg es irgendwann Geschichte ohne aktuelle Gefahrenpotentiale werden zu lassen und jenen Stimmen, die unsere Gesellschaft tatsächlich in hohem Maße mit ganz ähnlichen Verfahren gefährden, die Resonanzkraft zu rauben.

  1. Zielvorstellungen des IfZ auf der dem Projekt gewidmeten Präsentationsseite (→Link, letzter Zugriff am 15. Dezember 2013), Titel kursiviert BD.
  2. vgl. Christine Haderthauer (CSU) in einem Nachrichten-Beitrag des Bayrischen Rundfunks. Online-Abruf via BR-Mediathek (Ministerrat: Mein Kampf bleibt weiter verboten, vom 10. Dezember 2013, →Link).
  3. So zum Beispiel zitierte Tim Farin 2008 für stern.de (Hitlers “Mein Kampf”. Zwischen Kritik und Propaganda, vom 25. April 2013, Ressort POLITIK > Geschichte, →Link) ein Communiqué des bayrischen Finanzministeriums.
  4. Az.: 3 StR 182/79, Strafbarkeit des öffentlichen Verkaufs von Adolf Hitlers Mein Kampf. Online-Abruf auf technolex.de (→Link, letzter Zugriff am 15. Dezember 2013).
  5. ebd., vgl. Urteil des BGH vom 24. August 1977, Az.: 3 StR 229/77.
  6. zitiert nach dem stern.de-Artikel von 2008; s. Anm. 3 d. vorl. Beitr.
  7. Eine Google-Suche führt schon unter den ersten Ergebnisnennungen zu kopier- und downloadfähigen Komplettdigitalisaten u.a. einer deutschen und einer englischen Fassung der Schrift. Amazon.com führt die deutschsprachige Fassung in mehreren verschiedenen Ausführungen, darunter auch als Kindle-Edition.
  8. Den sich doch aufdrängenden Verweis auf den locus classicus der transzendentmachenden Nicht-Nennung verhelfs ER wage ich an dieser Stelle nicht explizit zu machen.
  9. Ich habe bis heute keine stichhaltigen Informationen über die beiden Aufnahmen ausfindig machen können, außer dass freilich Heinrich Hoffmann sie gemacht hat.
  10. Ginge man von einem solchen per-se-Wirkpotential aus, müsste man von der Herausgabe von Goebbels Reden bis hin zum dokumentarisch aufbereitet Bildmaterial noch einiges in Frage stellen, das unlängst seinen Weg in die öffentliche Zugänglichkeit gefunden hat.
  11. So Albrecht Koschorke im SZ-Gastbeitrag zur Wirkung von Mein Kampf. Online-Abruf via Süddeutsche.de (Die Wirkung von Hitlers “Mein Kampf”, vom 13. Dezember 2013, Ressort KULTUR, →Link). Eine längere Version des gesamten Beitrags wird nach Angaben von Süddeutsche.de demnächst als E-Book bei Matthes & Seitz erscheinen.
  12. Rinser beschreibt darin die Eindrücke und Erfahrungen während ihrer Reisen nach Nordkorea 1980 und 1981/82, während derer sie auch auf Kim Il-sung traf. U.a. 1986 in einer aktualisierten Auflage bei Fischer erschienen.
  13. Und zum Beispiel Charles K. Armstrong stellt die nordkoreanische Ideologie mit ihrem charismatischen Führer und der Mobilisation der Massen in direkte Nähe des europäischen Faschismus’. Vgl. Armstrong, Charles K.: Trends in the Study of North Korea. In: The Journal of Asian Studies 70 (2/2011), S. 357–371.

Quelle: http://enkidu.hypotheses.org/293

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Über das Kommentieren in Wissenschaftsblogs

  Gastbeitrag von Mareike König Es wird viel lamentiert, wenn es um Kommentare bei geisteswissenschaftlichen Blogs geht: Meistens bleiben sie aus, so heißt es, und wenn doch mal jemand kommentiert, dann ist der Inhalt oder der Ton oder beides nicht recht. Entweder Regen oder Traufe, Schweigen im Walde oder umzingelt von Trollen, so scheinen sich die Alternativen gegenwärtig resümieren zu lassen. Das wird deswegen tragisch genommen, weil die Interaktion auf dem Blog mit der Leserschaft in Form von Kommentaren einen neuralgischen Punkt betreffen: Denn Bloggen ist nicht nur Publikation, Bloggen ist auch Kommunikation, genau wie Wissenschaft Publikation und Kommunikation ist. Daher, so eine These, die ich selbst teile, passen Blogs und Wissenschaft eigentlich so gut zueinander. Bleiben dann allerdings Kommentare aus, scheint den Wissenschaftsblogs eine ihrer Grundlegitimationen entzogen. Grund genug, sich dem Thema „Kommentare“ anzunehmen, auch wenn es derzeit mehr Fragen als Antworten gibt: Warum wird so wenig kommentiert? Liegt es an unserer deutschen Forschungskultur? Ist es in anderen Ländern anders? Liegt es an der Zurückhaltung, ja am Misstrauen der Geisteswissenschaftler gegenüber den neuen Medien während in anderen Disziplinen munter diskutiert wird? Wie kann man mehr Interaktivität auf den Blogs generieren? Können provokante Thesen zu Kommentaren anregen, so wie es hier vor kurzem durch den Beitrag von Lilian Landes „Versuchen Sie es doch erstmal mit einem Blog…“ der Fall war? Diese und weitere Fragen werden auf Tagungen und in Blogs gestellt und diskutiert, und auch im Januar 2013 auf der Tagung „Rezensieren – Kommentieren – Bloggen“ wird man sicherlich darüber sprechen. Man könnte aber auch zunächst fragen: Werden Kommentare nicht generell überschätzt? Und: Wird überhaupt so wenig kommentiert? In meinem Beitrag zum Open Peer Review-Buch „historyblogosphere“ von Eva Pfanzelter und Peter Haber habe ich die Anzahl der Blogpostings und die der Kommentare auf der französischen Blogplattform hypotheses.org gegenübergestellt: Das Ergebnis ist gar nicht so niederschmetternd: „Im Jahr 2008 erhielt jeder vierte Beitrag durchschnittlich einen Kommentar, im Jahr 2009 wurde jeder dritte Beitrag kommentiert, 2010 dann jeder zweite Beitrag.“ (Quelle) 2011 gibt es einen “Einbruch”, und nur noch jeder vierte Beitrag erhält statistisch gesehen einen Kommentar. Woran liegt das? Die Diskussion könnte sich in die sozialen Netze verlagert haben (Kommentar von Sebastian Gießmann bei historyblogosphere); das wäre dann ein Teil der „stillen Konversation“, über die ich im Beitrag ebenfalls schreibe: Denn nicht jede Kommunikation über einen Blog oder ein Blogposting findet auf dem Blog selbst statt. Oftmals wird auf Tagungen, in Mails, am Telefon oder in der realen Kaffeeküche über Blogbeiträge gesprochen. Manchmal sogar, selten, in Tageszeitungen [1]. Ein weiterer Grund für die Halbierung der Kommentarzahlen bei hypotheses.org im Jahr 2011 könnte sein, dass die Zahl der Postings zugenommen hat, die nur einen Veranstaltungskalender enthalten, womit Kommentare nicht herausgefordert werden (Vorschlag von Benoît Majerus bei historyblogosphere). Vielleicht wurden aber auch viele ältere Blogbeiträge ohne Kommentare von bereits bestehenden Blogs auf die Plattform migriert. Über die vier Jahre gerechnet ist jedenfalls der Schnitt mit einem Kommentar für ca. jedes dritte Posting gar nicht so schlecht. Interessant wären vergleichbare Zahlen aus anderen Ländern und Disziplinen. Wie dem auch sei: Dies sind Zahlen, die nichts über die Qualität der Kommentare aussagen. Dazu hat vor kurzem John Scalzi ein Blogpost veröffentlicht mit dem Titel: „How to be a good commenter“. Sein Beitrag hat bisher 176 Kommentare provoziert, was am Thema, am ohnehin gut eingeführten Blog (seit 1998!), wie auch an der Formulierung der Thesen liegen kann. Ein Luxusproblem, mag man denken, wenn sich jemand nicht mehr um die Anzahl, sondern um die Qualität der Kommentare auf seinem Blog sorgt. Vermutlich ist man da in den USA einfach weiter. Zehn Fragen soll man sich stellen, so Scalzi, bevor man ein Blogpost kommentiert. Tatsächlich sind es nicht zehn Fragen, sondern allenfalls sieben, einige Gedanken wiederholen sich. Regel Nummer 1 besagt, dass man nur kommentieren soll, wenn man auch etwas zu sagen hat. Schon da bin ich anderer Meinung und würde differenzieren. Ein schlichtes: “Danke für den Beitrag, den ich sehr gern gelesen habe”, ist aus meiner Sicht als Kommentar absolut gerechtfertigt. Daraus entspannt sich dann zwar keine inhaltliche Diskussion, aber ein Feedback ist es allemal, zumal eines, das erfreut. Die weiteren Fragen, die man sich vor dem Posten eines Kommentars stellen soll, lauten: Ist mein Kommentar zum Thema? Kann ich richtig argumentieren? Kann ich meine Meinung belegen? Schreibe ich in anständigem Ton? Will ich wirklich in eine Diskussion eintreten oder will ich diese nur gewinnen? Weiß ich, wann ich aufhören muss? Das ist sicherlich alles wünschenswert und in großen Teilen auch richtig, aber eben unrealistisch. Die Leser/innen von Scalzis Blog haben seine Vorschläge dann auch nicht berücksichtigt: „I have nothing to say and will defend to the death my right not to say it!”, lautet der dritte Kommentar, der zu einem Beitrag über (fehlenden) Humor in deutschen Wissenschaftsblogs überleiten könnte. Letztlich ist es mit den schriftlichen Kommentaren bei Blogbeiträgen nicht anders als mit mündlichen Diskussionsbeiträgen auf Tagungen: Einige sind sehr gut, andere off-topic; einige Diskutanten hören sich gerne selbst reden und wieder andere behaupten einfach irgendwas. Und manchmal herrscht einfach nur Schweigen. Das ist dann nicht das Schlechteste. [1] Twitter für Historiker, in: FAZ, 17.10.2012, S. N4.    

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/290

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Hierarchie meets Netz meets Wissenschaft

Web 2.0-Formate in der Wissenschaft leiden an einem chronischen Mangel an Kommentaren, das ist ein offenes Geheimnis. Alle fragen sich, wann wohl die Generation Y – oder nennen wir sie Generation Facebook – in der Sphäre höherer wissenschaftlicher Weihen angekommen sein und sich somit berechtigt fühlen wird, etwa an Rezensionsprozessen im Kommentarformat teilzunehmen, wie sie recensio.net anbietet.

Vielleicht aber gibt es noch ganz andere Hürden: Könnte ein wichtiger Grund für die Web 2.0-Skepsis in den Geisteswissenschaften nicht auch darin liegen, dass gerade im deutschsprachigen Bereich die Hierarchie im Wissenschaftsbetrieb, die sich an Titeln, Meriten und Positionen festmacht, eine traditionell viel wichtigere Rolle spielt als im europäischen Ausland, etwa in Frankreich? Dass in der Professorenschaft die Bereitschaft, sich ohne Würdigung ihrer Stellung gewissermaßen „auf Augenhöhe“ mit Studierenden, Nachwuchswissenschaftler oder Laien auszutauschen, eher gering ist? Und könnte es sogar sein, dass der Nachwuchs dieses Hierarchiebewusstsein frühzeitig erbt und damit die Offenheit im Meinungsaustausch, die wir auf privaten Plattformen boomen sehen, in der Welt der Wissenschaft unter sehr erschwerten Bedingungen und womöglich viel später einen Durchbruch erleben wird, als wir das ahnen?

Letzte Woche publizierte der Spiegel einen Artikel darüber, wie die Generation Y Unternehmenskulturen verändert:

Alles das, was eine hierarchische Organisation ausmacht, wird auf den Prüfstand kommen: Herrschaftswissen, Kontrolle, zentrale Steuerung, Machtspielchen. Stattdessen werden offenes Wissensmanagement, flache Organisationen, gelebte Work-Life-Balance, gute Fehlerkultur, hierarchielose Kommunikation und Vertrauen wichtiger – für Führungskräfte und für Mitarbeiter. Heute gibt es Mitarbeiterbeurteilungen – künftig wird es auch Chefbeurteilungen geben.

Vielleicht sollten wir uns alle darauf einstellen, dass ein fundamentaler Wandel begonnen hat hinsichtlich der Rolle des „Experten“, ob es nun der Chef, der Professor oder der Rezensent ist. Die Aura des „Unantastbaren“, die seine Meinungsäußerung umgibt, bröckelt zunehmend und wird schrittweise abgelöst durch dynamische Meinungsbildungsprozesse, die sich im Netz in der Regel in Kommentarspalten abspielen. Sicher wird dieser Wandel in der Wissenschaft stark verzögert vollzogen werden, aber sollten wir uns nicht darauf vorbereiten? Überlegen und erproben, wie unter den neuen Bedingungen wirksame wissenschaftliche Qualitätssicherung stattfinden kann?

Ob das Angebot von recensio.net als ein solcher Schritt betrachtet werden kann, wollen wir in Sektion 1 der RKB-Tagung besprechen, deren genaue Zusammensetzung in Kürze feststehen wird.

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/194

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Zur Tagung Web 2.0 und die Geschichtswissenschaft in Siegen

von Dr. Rüdiger Hohls, Humboldt-Universität zu Berlin

Ende letzter Woche (09.10.2009-10.10.2009)  fand auf Initiative von Angela Schwarz und Jürgen Beine an der Universität Siegen eine Tagung unter dem Titel «Web 2.0 und Geschichtswissenschaft. „Social Networking“ als Herausforderung und Paradigma» statt. Schon im Vorfeld der Veranstaltung wiesen die Organisatoren darauf hin, dass die mit dem Begriff Web 2.0 umrissenen Konzeptionen und Internetapplikationen nicht exakt festgelegt seien, jedoch meist eine Reihe interaktiver und kollaborativer Elemente des Internets damit assoziiert würden. Unter „Soziale Netzwerken“ werden hier indifferente Formen von netzbasierten Gemeinschaften angesehen, welche technisch durch Web-2.0-Anwendungen oder Portale gestiftet werden. Auf der technischen Ebene werden damit vor allem Wikis und Blogs verbunden, jedoch ging es den Organisatoren der Tagung weniger um technische Aspekte als vielmehr um Formen der sozialen und kulturellen Aneignungen und um die Veränderung geschichtswissenschaftlicher Diskurse und Methoden, wenn sich die bisherige eindeutige Beziehung zwischen Text und Autor durch Web 2.0-Anwendungen aufzulösen beginnt. Den beiden Organisatoren ist für ihre Initiative zu danken, denn bisher haben sich vor allem einzelne wissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen wie Bibliotheken oder Gedächtniseinrichtungen und Erinnerungsorte wie Museen des Themas angenommen. Einzelne Bibliotheken (u.a. BSB München) und Museen (u.a. Dresdener Gemäldegalerie) verfügen sogar über eine virtuelle Existenz in der Online-Welt von Second Life.

Peter Haber hat in Weblog histnet.ch schon eine erste Zusammenfassung und Einschätzung der spannenden Siegener Tagung geliefert, weshalb ich hier auf einen nochmaligen Bericht verzichten kann (s. a. Tagungsankündigung). Aus der Perspektive eines Historikers und Akteurs der Web 1.0-Generation sowie als Begleiter der sich über viele Jahre erstreckenden Informatisierung unserer Disziplin möchte ich jedoch einige Anmerkungen ergänzen, die allerdings nur zum Teil einen unmittelbaren Bezug zu Vorträgen und Diskussionen auf der Siegener Tagung haben.

Im Verlauf der Veranstaltung wurden viele Fragen aufgeworfen und nicht selten spekulative Szenarien entworfen. Letzteres vor allem wohl auch deshalb, weil es allen Teilnehmern mehr oder weniger noch an fundierten Erfahrungen im fachlichen Kontext mit echten Web 2.0-Anwendungen mangelt, die empirisch valide abgeklopft werden können, denn diese sind in den Geschichtswissenschaften bisher eher Mangelware. Viele der im Verlauf der Tagung angeführten und diskutierten Beispiele hatten zwar etwas mit „Geschichte“ und „historischen Quellen“ zu tun, aber wenig mit den gängigen Fragestellungen, mit virulenten Konzepten und konkreten Forschungsvorhaben der professionell an Hochschulen und Forschungseinrichtungen betriebenen „Geschichtswissenschaften“. Deshalb wäre es passender gewesen, wenn im Veranstaltungstitel entweder vereinfachend „Geschichte“ wegen der unübersehbaren Nähe zum laienhistorischen Engagement oder der Plural „Geschichtswissenschaften“ angesichts der epochalen, regionalen und thematischen Spezialisierung gestanden hätte. Es macht nämlich einen großen Unterschied, über welche Zielgruppe, welche Kohorten und über welchen Erfahrungs- und Referenzraum der Akteure und Rezipienten diskutiert wird. Die kommunikativen Prozesse innerhalb einer spezialisierten und vergleichsweise homogenen Expertenkultur folgen anderen Erwartungen und Regeln als die in einer Lehr- und Vermittlungssituation von Seminaren und wiederum anderen, wenn es um Teilhabe und Integration eines historisch interessierten Laienpublikums geht. Web 2.0 scheint mir derzeit vor allem Anwendungen bereitzustellen, die für eine Wiederbelebung von Geschichtswerkstätten im globalen Dorf des Internets besonders geeignet sind, also für eine neue Art partizipatorischer „Geschichte von unten“. Für dieses Phänomen liefert dann der divergente systemtheoretische „Netzwerk“-Begriff aus der Soziologie geeignete Anknüpfungspunkte. Diese kritische Einschätzung schließt nicht aus, dass es sinnvolle und hoffentlich auch erfolgreiche Web 2.0-Anwendungen unter „kontrollierten“ Bedingungen, wie es Manfred Thaller ausdrückte, in den Geschichtswissenschaften geben wird. Mit Docupedia-Zeitgeschichte bemühen wir uns, eine solche Anwendung zu etablieren. Und diese Lösung darf dann auch gerne, wie Peter Haber es tat, mit dem Label „Web 1.5“ charakterisiert werden.

Aktuelle Debatten um Web 2.0-Anwendungen in den Wissenschaften erinnern mich auf vielen Ebenen (u.a. habituelle Formen, Selbstreferenzialität, Inklusions-/Exklusionsschemata, generatives Muster) an die Diskussionen zwischen Enthusiasten und Traditionalisten bei der Einführung und Etablierung von Web 1.0-Diensten und ‑Publikationsverfahren in unserem Fach und in den zugehörigen Infrastruktureinrichtungen (Bibliotheken) vor mehr als zehn Jahren. Entlang einer imaginären (generativen) Grenze scheint ein Graben zwischen experimentierfreudigen Enthusiasten und zurückhaltenden Praktikern der historischen Fachinformation zu verlaufen, wobei die große Mehrheit der Historikerinnen und Historiker noch gar nicht in die Debatte einbezogen wurde und sich vermutlich auch nicht einbeziehen lassen wird. Inspiriert von Wikipedia zeigt sich die eine Seite begeistert von der Vorstellung eines stetig anwachsenden „User Generated Content“ in den Geschichtswissenschaften und den damit einhergehenden „Community-Building“-Prozessen, an denen sich ein jeder fortwährend und überall beteiligen könne. Nur wenn diese Schlagworte eingelöst würden, könne überhaupt von Web 2.0-Anwendungen gesprochen werden, und alles andere ist mehr oder weniger vormodern und uninteressant. Diese selbstreferentielle Definitionshoheit funktioniert in Form einer affirmativen Aufladung, die ihre normative Kraft und Energie aus dem unbestreitbaren Erfolg von Wikipedia zieht. Ideologiekritische Einwände scheinen gegenwärtig noch schlicht abzuprallen. Gut möglich, dass es einer solchen selbstreferentiellen Begrenzung bedarf, um die selbstgesteckten Ziele zügig erreichen zu können und sich dabei nicht durch Eingehen auf Einwände und irgendwelche Ablenkungen aus dem Takt bringen zu lassen. Aus meiner Sicht handelt es sich bei den zahlreichen Artikeln, Beiträgen und Rezensionen, die fortlaufend in Fachzeitschriften oder elektronischen Foren veröffentlicht werden, selbstredend ebenfalls um „User Generated Content“, wenn auch überwiegend nur von einer Autorin oder einem Autor verfasst. Und angesichts der Tendenz zu neopositivistischen „Häppchen-Texten“ der originären Hyper-Text- und Web 2.0-Sphäre, die sich angeblich durch das komplementäre Engagement vieler laufend verbessern, sei hier kritisch nachgefragt, was denn einen publikationswürdigen geschichtswissenschaftlichen Text auszeichnet? Etwa der „neutral point of view“, wie ihn Wikipedia einfordert? Und ist bei getwitterten wissenschaftlichen Minitexten nicht längst die Grenze zum unzumutbaren Spam überschritten worden?

Eine letzte Anmerkung zu den neuen bzw. veränderten sozialen und kulturellen Kompetenzen, den sogenannten Soft Skills, die von den Enthusiasten der neuen „sozialen Medien“ häufig angemahnt werden. Studierenden und Absolventen der Universitäten fehle es an notwendigen Informationskompetenzen und weiteren Sekundärqualifikationen angesichts des aufscheinenden Web 2.0-Zeitalters. Passende Angebote sollten vermehrt in den universitären Lehrkanon aufgenommen werden, so die Forderung. Einerseits stimmt diese Feststellung so nicht, denn längst haben andere Schreibformen jenseits der traditionellen Haus- und Seminararbeit Einzug in die Universitäten gehalten, und unterschiedliche Lehrformate werden seit Jahren von vielen erprobt. Andererseits werden weitergehende Wünsche vor dem Hintergrund der laufenden Diskussion um die Studierfähigkeit vieler Bachelor- und Masterstudiengänge angesichts straffer Stundenpläne, die wenige Freiräume lassen, und mit fachwissenschaftlichen Inhalten vollgestopfte Curriculare, wohl weitgehend unbeachtet verhallen. Anders stellt sich dies im Rahmen spezialisierter Studiengänge wie „Public History“ oder „Fachjournalistik Geschichte” dar, deren Zahl zuletzt zugenommen hat, die jedoch ausdrücklich ergänzend zur Aufgabe der Vermittlung des eigentlichen Kerngeschäfts der Geschichtswissenschaft konzipiert sind.

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Kommentar von Stefan Jordan zur Docupedia-Zeitgeschichte Präsentation auf der Konferenz “Zeitgeschichte schreiben”

Gern möchte ich noch ein paar Kommentare zu Ihrem Docupedia-Projekt abgeben. Zunächst bin ich der Ansicht, daß diese Sache gegenüber dem Workshop vom letzten Herbst sehr gewonnen hat. Die Festschreibung eines status quo bzw. einer Fassung der Artikel, die ggf. vom Autor und nur von ihm aktualisiert und verbessert werden kann, scheint mir sehr wichtig. Auch den Artikel mit Kommentarmöglichkeiten auszustatten, erscheint mir als glücklicher Weg. Die – zumindest anfängliche Eingrenzung – auf Sachbegriffe ist sicher aus pragmatischer Hinsicht ebenso sinnvoll wie der Beginn in rein deutscher Sprache mit der Option auf internationale Erweiterung. Was das auf dem Workshop angesprochene “Problem” einer “Kanonisierung” von Begriffen und Definitionen angeht, so würde ich hieraus eine Tugend machen: Zum einen sind Lexikonartikel immer Kanonisierungen, anders sind sie gar nicht denkbar, denn sie definieren ja etwas auf bestimte Weise. Zum anderen besteht in der Kanonisierung für Sie eine Chance, sich als Institution zu profilieren. In der Philosophie gibt es die Stanford Encyclopedia, ein online-Lexikon, das längst einschlägig geworden ist und Wege weist. Warum nicht Ähnliches für die Zeitgeschichte anstreben? Schließlich werden Sie leichter Autoren für Ihre Artikel gewinnen können, wenn Sie kanonisieren. Meine Erfahrung ist, daß Autoren auch ohne Honorar dann bereit sind, einen Artikel zu übernehmen, wenn Sie der Ansicht sind, damit eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und den Begriff quasi mit ihrem Namen zu “besetzen”.

Ein offenes Problem scheint mir die Definition Ihrer Community zu sein. Meines Erachtens reicht eine bloße Registrierung, die aber für die Öffentlichkeit unsichtbar bleibt, nicht aus. Ich bin nicht der Ansicht, daß ein Überblick über vorgenommene Änderungen in einem Artikel Plausibilität schafft. Was nützt es z.B. zu sehen, daß User Enemenemuh in einem Artikel ein Datum, einen Titel oder irgendeine andere Angabe fälschlich verändert hat? Man hat dann weder Einsicht in den Grund für diese Änderung noch kann man in ein diskursives Verhältnis mit einer realen Person treten, um den Sachverhalt zu klären. Meines Erachtens wäre es für ein Projekt mit wissenschaftlichem Anspruch der bessere Weg, auch auf Kosten einer somit wahrscheinlich deutlich kleineren Community, reale Identitäten offenzulegen. Kurzum: Was spricht dagegen, daß sich Leute bei Ihnen registrieren lassen können und unter ihrem tatsächlichen Namen Kommentare abgeben?

Ich würde Ihnen auch sehr raten, engen Kontakt zum Bibliothekssystem zu halten, indem Sie sich schon bei der Stichwortansetzung zu Ihrem Lexikon an der Schlagwortnormdatei (SWD) der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) orientieren. Sie können so quasi automatisch und ohne großen weiteren redaktionellen Aufwand stets aktuelle Bibliographien zu Ihren Stichworten garantieren. Lassen Sie sich von der DNB eine Redakteurstelle einrichten, das kann auch gut für anstehende Verlängerungen des Projekts gut sein, da Sie dann darauf verweisen können, daß Sie diese Kompetenz am ZZF haben. Die DNB ist sehr auf solche Zusammenarbeiten aus und bietet – soweit mir bekannt ist – kostenlose Schulungen für externe SND/PND-Redakteure an.

Damit verbunden würde ich an Ihrer Stelle nicht ganz auf das Biographische verzichten. Ich halte es für richtig, zunächst nicht mit ausführlichen Biographien anzufangen, aber ich würde von Beginn an ein biographisches Register mit zwei Teilen anlegen: a) bedeutende Personen der Zeitgeschichte (nicht zuletzt jene, die in Ihren Artikeln dann erwähnt werden), b) bedeutende Zeithistoriker. Wenn Sie eine reine Namenliste (auch lebender Personen) haben und diese Namen PND-identifizieren können, können Sie a) wiederum quasi-automatisch auf (stets aktualisierte) Literatur von und über diese Personen in der DNB verweisen und b) die Namen mit Links auf online-Biographien anderer wissenschaftlicher Unternehmen versehen, um deren biographische Arbeit im Rahmen ihres Projekts nutzbar zu machen. Schließlich böte sich die Gelegenheit, Docupedia über das biographische Register mit den Namenregistern anderer Projekte des ZZF zu verlinken und somit eine Knotenstelle zur Vernetzung Ihrer eigenen Projekte herzustellen.

Ein letztes ist der Name Ihres Projektes, den ich weiterhin für nicht ganz glücklich halte. Er ist mir zum einen zu nah an “Wikipedia”, gegenüber der Sie sich m.E. eher als Wissenschaftsprojekt profilieren sollten, und zum anderen insinuiert er eine Dokumentensammlung, die Sie ja höchstens in zweiter Linie zu sein beabsichtigen.

Dies nur als Anregungen. Ich wünsche Ihnen alles Gute!
Stefan Jordan

Dr. Stefan Jordan

http://www.stefanjordan.de

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