Gedenktafel für Stalinismusopfer am Haus der Parteizentrale DIE LINKE

Erklärung von Inge Münz-Koenen und Wladislaw Hedeler zum Beschluss des Bundesvorstandes der LINKEN über die Gedenktafel für Stalinismus-Opfer am Karl-Liebknecht-Haus:

Am Freitag, dem 18. Oktober 2013 beschloss der Parteivorstand der LINKEN, dem seit 13. Dezember 2010 vorliegenden Antrag des “Arbeitskreises zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten Antifaschisten” unter dem Dach der Berliner VVN-BdA für eine Gedenktafel an der Fassade des Karl-Liebknecht-Hauses zuzustimmen. In den Jahren zuvor hatte dieser Vorschlag immer wieder zu Kontroversen innerhalb der Linkspartei geführt. Die Tafel soll die Inschrift tragen:

„Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden”

Mitglieder des Arbeitskreises, der seit 2008 besteht, sind ehemalige Sowjetemigranten und deren Nachkommen sowie international ausgewiesene HistorikerInnen mit dem Schwerpunkt Kommunismusforschung.
Eltern, Geschwister und Großeltern der Initiatoren gehörten zu den Tausenden deutschen Antifaschisten, die seit 1933 in die Sowjetunion emigrierten oder schon vorher dem Ruf der Komintern bzw. der sowjetischen Regierung gefolgt waren, ihre Kräfte in den Dienst der kommunistischen Bewegung und des sozialistischen Aufbaus zu stellen. Sie entgingen der Verhaftung durch die Gestapo, gerieten aber ab Mitte der 1930er Jahre völlig unverschuldet in die Fänge des NKWD. Die Ergebnisse historischer Forschung über diese doppelte Verfolgung belegen, dass unter den Millionen Opfern, die der Große Terror in der Sowjetunion forderte, mehrere Tausend Deutsche waren, vor allem Mitglieder der KPD.
In einer ersten Erhebung aus dem Jahre 1991 war von über 1.000 Erschossenen die Rede, die dem Großen Terror zum Opfer gefallen sind. Im Zuge der Öffnung der sowjetischen bzw. russischen Archive konnten diese, bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossenen Recherchen, weitergeführt werden. Wir kennen gegenwärtig die Namen, Lebens- und Sterbedaten von exakt 7.858 Deutschen, die sich in den 1930er Jahren in der Sowjetunion aufgehalten haben. Die mit Archivdokumenten belegte Anzahl der Zurückgekehrten beläuft sich auf rund 1.400 Remigranten, die in der Sowjetunion geborenen Kinder eingeschlossen.
Der Antrag auf eine Ehrentafel am Karl-Liebknecht-Haus war im Ergebnis der vom Arbeitskreis initiierten Tagung „Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil“ (Berlin 2010) entstanden. Ergebnis der zweiten Tagung „Nach dem Schweigen. Erinnerungsorte, Gedenkbücher, Opferlisten des sowjetischen Exils “ (Berlin 2011) mit Beteiligung russischer Forscher war die Konzeption einer zweisprachigen Ausstellung (deutsch und russisch) mit dem Titel „’Ich kam als Gast in euer Land gereist …’ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933-1956Link zur Buchpublikation). Sie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gefördert und im Frühjahr 2013 in Moskau und Berlin eröffnet. Im Juli 2012, zum 75 Jahrestag der “Deutschen Operation des NKWD“ haben wir auf einer öffentlichen Namenlesung der 1937 in der Sowjetunion erschossenen deutschen Emigranten gedacht. Die Ausstellung ist auf ihrer Wanderschaft durch Deutschland zur Zeit in Meiningen zu sehen. Ihr russisches Double wird am 30. Oktober, aus Kasachstan kommend, in Novosibirsk eröffnet. Nächste Stationen im Ausland sind das Europa-Parlament in Brüssel und das Heinrich-Heine-Haus in Paris.
In den lebhaften Reaktionen auf die Ausstellung kommt immer wieder die Praxis des jahrzehntelangen Verschweigens und Verdrängens stalinistischer Verbrechen zur Sprache, die auch nach dem Sieg über Hitlerdeutschland ihre Fortsetzung fand. Als besonders eindringlich wird die kaum vorstellbare Tragik dieser Familienschicksale empfunden. Eine große Anzahl von Politemigranten wurde von Sondertribunalen willkürlich zu Konterrevolutionären und Spionen erklärt, gefoltert und erschossen. Die Toten wurden in Massengräbern verscharrt, von denen viele unauffindbar sind. Ihre Angehörigen haben bis auf den heutigen Tag keinen Ort, an dem sie ihrer Verwandten gedenken können. Andere Emigranten wurden zu hohen, teilweise mehrfachen Strafen in Gulags verurteilt. Viele starben dort an Entkräftung infolge von Mangelernährung bei grotesk überhöhten Arbeitsnormen. Für Überlebende folgte auf die Haft in Gefängnissen und Lagern die Verbannung „auf ewig”, d. h. ohne Aussicht, jemals zu ihren Familien zurückkehren zu können. Wieder andere wurden an die Gestapo ausgeliefert und kamen in deutsche Konzentrationslager.
Tausende deutsche Emigranten und ihre Angehörigen erlitten in der Sowjetunion das gleiche Schicksal wie Millionen Staatsbürger russischer und anderer Nationalität. Viele der Deutschen überlebten den staatlich sanktionierten Terror, Haft und Verbannung nur Dank der Solidarität ihrer sowjetischen Leidensgefährten. In den sowjetischen Lagern trafen sie auch auf Landsleute – politische Gefangene, die nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland verhaftet und verurteilt worden waren. Allein in Russland (auf dem Territorium der ehemaligen RSFSR) gibt es heute 256 solcher Gedenkorte.
Nach 1945 verwehrten die sowjetischen und die DDR-Behörden überlebenden Emigranten die Rückkehr in die Heimat. Viele von ihnen konnten erst in den Jahren 1955 bis 1959 in die DDR kommen. Den Zurückgekehrten wurde von der SED-Führung auferlegt, über die Repressionen zu schweigen. Eine Rehabilitierung erfolgte oft nur halbherzig, verklausuliert oder gar nicht. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR wurde das wahre Ausmaß der damals begangenen Verbrechen öffentlich.
Der Arbeitskreis ist der Meinung, dass das Karl-Liebknecht-Haus, in dem von 1926 bis 1933 das Zentralkomitee der KPD seinen Sitz hatte, der angemessene Ort für eine solche längst überfällige Würdigung ist. Dort haben Kommunisten gearbeitet, die im Auftrag der Parteiführung nach Moskau gegangen sind und in der Sowjetunion ermordet wurden. Das Haus war die Arbeitsstätte jener Mitglieder der KPD-Spitze, die dem Stalinterror entgangen sind und die nach 1945 als führende SED-Funktionäre das Verschweigen und Vergessen mit zu verantworten haben.

Dr. Inge Münz-Koenen; Dr. Wladislaw Hedeler

Quelle: www.memoreal37.wordpress.com. Blog zum Gedenken an die während des Stalinismus verfolgten und ermordeten AntifaschistInnen.


Einsortiert unter:Arbeiterbewegung, Biographie, Ereignis, Erfahrungen, Erinnerung, Geschichte, Geschichtspolitik, Linke Debatte, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/10/21/gedenktafel-fur-stalinismusopfer-am-haus-der-parteizentrale-die-linke/

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Antisemitismus im 19. Jahrhundert in transnationaler Perspektive

Die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten hat in Deutschland zu einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Antisemitismus geführt. Die Literatur ist mittlerweile in einer Weise angewachsen, dass sie auch von Experten kaum noch übersehen werden kann. Trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen ist der Forschungsstand aber durch eine deutliche Fehlstelle gekennzeichnet, denn vergleichende oder transnationale Untersuchungen zum Antisemitismus sind bisher kaum vorgelegt worden.[1] Auch wenn dies angesichts des erheblichen organisatorischen Mehraufwands von Untersuchungen zur Transfer- und Verflechtungsgeschichte zwar nachvollzogen werden kann, so ist dies dennoch umso bedauerlicher, da der festzustellende nationale Tunnelblick zu Überzeichnungen und Ungenauigkeiten führt.[2]

Das Projekt wird an dieser Stelle ansetzen und ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert (Untersuchungszeitraum: 1830er-1890er Jahre) in einer transnationalen Perspektive als Transfer- und Verflechtungsgeschichte untersuchen. Da eine systematische Analyse des Antisemitismus in zwei oder mehr Ländern kaum geleistet werden kann, wird das Projekt am Beispiel des linken politischen Spektrums – und damit eines weiteren Forschungsdesiderats[3] – den Antisemitismus in Deutschland, Frankreich und Belgien in seiner transnationalen Dimension untersuchen.[4] In methodischer Hinsicht wird es sich um einen ideengeschichtlichen Zugang handeln, der um sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte wie den Kulturtransfer und die soziale Reichweite antisemitischer Ideen erweitert wird. Der quantitative und qualitative Stellenwert des linken im Vergleich zum rechten Antisemitismus wird dabei ebenso zu messen sein wie die mögliche gegenseitige Beeinflussung beider politischer Lager. Auch wenn der Antisemitismus in den Programmen linker Parteien und Organisationen bekämpft wurde, schließt das keineswegs aus, dass unter ihren Mitgliedern trotzdem antisemitische Ideen, Bilder und Stereotypen im Sinne eines „kulturellen Codes“ präsent waren.[5]

Charles Fourier 1772-1837

Charles Fourier (1772-1837)

Neben der Untersuchung der gegenseitigen Rezeption zwischen Deutschland und Frankreich (beispielsweise der Rezeption französischer Frühsozialisten in Deutschland), soll auch die Bedeutung von Emigranten in Westeuropa für die Verbreitung antisemitischer Stereotypen herausgearbeitet werden (herausragendes Beispiel hierfür ist sicherlich Michail Bakunin).[6] Belgien in seiner geographischen Mittellage zwischen Deutschland, Frankreich und den Britischen Inseln, als Zufluchtsstätte für politische Emigranten nicht nur aus Osteuropa und mit seiner Bedeutung für die Geschichte der politischen Linken in Europa wird die deutsch-französische Untersuchungsperspektive erweitern. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, welche Rolle Gruppen und Organisationen in Belgien für die Vermittlung antisemitischer Stereotypen zwischen den linken Milieus in Deutschland und Frankreich spielen konnten.[7] Ein weiterer Aspekt, der im Rahmen des Projekts angesprochen werden soll, betrifft die in der Frühzeit der Arbeiterbewegung noch festzustellenden Formen von Gewalt gegen Juden. Hier ist neben der Frage, warum diese Gewalt im Gegensatz zum rechten Antisemitismus verschwand, zu untersuchen, in welcher Weise in den Argumentationslinien und Legitimationsstrategien der Verantwortlichen eine transnationale Dimension nachgewiesen werden kann.[8]

Bakunin Portrait

Michail Bakunin (1814-1876)

Das Projekt wird auf einer breiten Quellenbasis aufbauen. Neben Publizistik aus dem linken Spektrum und Veröffentlichungen in Zeitungen entsprechender Parteien und Organisationen sollen Nachlässe sowie Behördenbestände (beispielsweise Zensur- und Polizeiakten) in Archiven in Frankreich, Deutschland und Belgien sowie im „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ in Amsterdam herangezogen werden. Außerdem werden Karikaturen und gegenständliche Überlieferung, die antisemitisch grundierte Kapitalismuskritik wie Darstellungen des „jüdischen Bankiers“ oder Rothschilds thematisieren, in die Analyse integriert, um eine breitere und vielfältigere Quellengrundlage für das Projekt zu erhalten.[9]

Abbildungen: Charles Fourier, Michail Bakunin, beide public domain

 

[1] Zum Forschungsdesiderat der international vergleichenden Antisemitismusforschung vgl. Thomas Gräfe, Antisemitismus in Deutschland 1815-1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt 22010, S. 217.

[2] Ein besonders markantes Beispiel ist sicherlich die umstrittene These eines nahezu überzeitlichen „eliminatorischen Antisemitismus“ in Deutschland, die Daniel Jonah Goldhagen formuliert hat. Siehe Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s willing executioners: ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996. Zum Vergleich siehe einführend Ulrich Wyrwa, Aus der Werkstatt des Vergleichs: Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien, in: Werkstatt Geschichte 46 (2007), S. 65-73.

[3] Siehe jetzt aber Michel Dreyfus, L’antisémitisme à gauche. Histoire d’un paradoxe, de 1830 à nos jours, Paris 22011 [12009]. Siehe außerdem Michel Winock, La gauche et les juifs, in: Ders., Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 2004 [11982], S. 153-182. Michel Dreyfus spricht in seiner Studie zahlreiche Aspekte an, die für transnationale Fragen von Bedeutung sind, beispielsweise die Rezeption der französischen Frühsozialisten durch die deutsche Arbeiterbewegung.

[4] Vgl. Christoph Nonn, Antisemitismus. Darmstadt 2008, S. 114.

[5] Zum „kulturellen Code“ siehe Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in : Dies., Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000 [1. Auflage unter dem Titel: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990], S. 13-36; J. Friedrich Battenberg, Antisemitismus als kultureller Code in der deutschen Geschichte. Anmerkungen zu Elementen einer antijüdischen Denkweise, in: Der Aufklärung zum Trotz: Antisemitismus und politische Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1998, S. 15-52.

[6] Reinhard Rürup hat jüngst die Erforschung der Bedeutung französischer Autoren für die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland als wichtiges Desiderat ausgemacht. Vgl. Reinhard Rürup, Antisemitismus und moderne Gesellschaft: Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Christina von Braun/Eva-Maria Ziege (Hgg.), Das bewegliche Vorurteil: Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 81-100, hier S. 87-88.

[7] In seiner Studie verweist Michel Dreyfus auf den Antisemitismus in der belgischen Arbeiterbewegung und auf die hohe Relevanz dieses Untersuchungsgegenstands. Vgl. Dreyfus, S. 344-345.

[8] Siehe Arno Herzig, Judenhaß und Antisemitismus bei den Unterschichten und in der frühen Arbeiterbewegung, in: Ludger Heid/Arnold Paucker (Hgg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992, S. 1-18, zu den gegen Juden gerichteten Handwerkerunruhen in Wien 1848 vgl. ebda., S. 11.

[9] Hier ist darauf zu achten, ob diese Darstellungen tatsächlich linken Ursprungs waren oder im linken Milieu nur tradiert wurden. Zur bildlichen Überlieferung in der Emanzipationszeit siehe Peter Dittmar, Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, München/London/New York/Paris 1992. Dort ist auch eine der frühen Rothschild-Karikaturen unter dem Titel „Seyd umschlungen Millionen!“ zu finden, die im Übrigen eine naturgetreue Übernahme einer 1817 in England entstandenen Darstellung Nathan Rothschilds an der Londoner Börse darstellt. Vgl. ebda., Abb. 116, S. 211. Die englische Vorlage mit dem Titel „A View from the Royal Exchange“ befindet sich im British Museum in London (vgl. Inventar-Nr. AN00675449_001). Zu den Karikaturen siehe außerdem den Klassiker von Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, München 1921. Einen sehr guten Einstieg in die dreidimensionale Überlieferung bietet Falk Wiesemann, Antijüdischer Nippes und populäre „Judenbilder“. Die Sammlung Finkelstein, Essen 2005.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/798

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