Erinnerungsorte, Eintracht Braunschweig und der Geschichtsunterricht

 

Es gibt ein Datum in der Historie, das im niedersächsischen Braunschweig fast jeder zuordnen kann: das Jahr 1967. Es ist das Jahr, als die Fußballer des Braunschweiger Turn- und Sportvereins von 1895 (BTSV), kurz „Eintracht Braunschweig“, deutscher Fußballmeister wurden – mit sensationell wenig Punkten. Verbunden ist dieses Wissen bei den Braunschweigern mit dem Gefühl, diese Meisterschaft sei historisch irgendwie gerechtfertigt gewesen. Nun ist die Eintracht in dieser Saison nach 28 Jahren Abstinenz wieder in die 1. Bundesliga aufgestiegen und die Braunschweiger feiern die aufopferungsvoll, aber wenig erfolgreich kämpfenden Kicker samt ihrem Trainer Torsten Lieberknecht („Herzog Torsten“) hingebungsvoll dafür, dass sie – gleichgültig wie die Spiele ausgehen – der Stadt den Glanz und den Rang wiedergegeben hätten, der ihr gebühre.

 

Metropole Braunschweig

Woher kommen solche vom Rest Deutschlands wohl nicht zwingend geteilten Anwandlungen? Da argumentiert man unter Umständen so: Der Braunschweiger Herzog Heinrich der Löwe sei ein großer mittelalterlicher Herrscher gewesen und fast König geworden. Er habe Braunschweig und München gegründet (so gesehen ist Bayern München nur eine Unterabteilung des BTSV). Den sichtbaren Beweis für diese Größe könne man heute noch an vielen Gebäuden in der Stadt bewundern. Die Stadt Braunschweig sei eine der größten des Mittelalters und eine berühmte Hanse-Stadt gewesen. Einige Kundige können noch hinzufügen: Braunschweig sei eigentlich immer, jedenfalls bis zur Gründung des Landes Niedersachsen im Jahr 1946, ein selbstständiges Land gewesen. Wer die Schuld daran trägt, dass man diese einstmalige Größe eingebüßt habe, ist in Braunschweig ebenfalls Allgemeingut: Hannover.

Alles begann mit den Welfen …

Das Eintracht-Braunschweig-Narrativ handelt also von der Wiedererringung vergangener Größe. Die Erzählung fällt in der Stadt auf fruchtbaren Boden: weil sie gleichzeitig diffus und konkret ist, man sich nur halb gewusster historischer Versatzstücke bedienen muss, aber eben auch weil es ein Grundmuster historischer Erfahrung gibt, das durch verschiedene Inhalte aktualisiert werden kann. In der Tat, der Welfe Heinrich der Löwe (ca. 1130-1195) war einer der Großen des Reichs. Seine Niederlage gegen Barbarossa und die darauf folgende Verbannung nach England (1180) wird in der aktualisierten Form als Verlust von Größe gedeutet und bildet das Grundschema des Narrativs. Das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg entstand dann 1235 auf den Eigengütern der Welfen, sein Territorium umfasste nur noch eine Bruchteil von Bayern und Sachsen, über die Heinrich der Löwe einstmals herrschte. Aber das Drama ging weiter. Aufgrund von Erbteilungen entstanden im neuen Herzogtum erst mehrere, am Ende zwei Linien der Welfen, die in Hannover beziehungsweise in Braunschweig residierten. In das narrative Schema passt, dass nur die hannoversche Linie im 17. Jahrhundert die Kurwürde erringen konnte, also wieder auf die Stufe von Heinrich dem Löwen zurückkehrte.

Eine Geschichte des Abstiegs?

Die Erfahrung des 19. Jahrhunderts wird ganz ähnlich gedeutet. Das 1815 gegründete Königreich Hannover “ging” 1866 “unter” und wurde eine preußische Provinz. Das Herzogtum Braunschweig kämpfte erfolgreich um seine Selbstständigkeit, aber nun war es der industrielle Aufschwung, der die preußische Stadt Hannover an Braunschweig vorbeiziehen ließ. Am Anfang des Jahrhunderts hatte Hannover halb so viele Einwohner wie Braunschweig, am Ende doppelt so viele. Braunschweig lag wieder im Hintertreffen. Getoppt wurde diese Entwicklung 1946 mit der Gründung des Landes Niedersachsen. Das bis dato (vom gleichgeschalteten Nazi-Staat einmal abgesehen) selbstständige Land Braunschweig wurde dem neu gegründeten Land Niedersachsen zugeschlagen – mit der Landeshauptstadt: Hannover. Und im Sport? In Braunschweig wurde 1874 das erste Fußballspiel in Deutschland gespielt. Doch für die Erinnerung noch wichtiger: Braunschweig war 1963 Gründungsmitglied der Bundesliga, Hannover musste draußen bleiben. Endlich einmal hatte man den Rivalen abgehängt. Doch schon ein Jahr später stieg Hannover auf. In der Meistersaison 1966/67 gingen beide Spiele gegen Hannover verloren. Beide Mannschaften erlebten dann ein Auf und Ab zwischen verschiedenen Ligen, aber Hannover kickt seit 2002 wieder erstklassig, Braunschweig erst seit dieser Saison.

Ein Konzept für den Geschichtsunterricht

Was hat das alles mit Geschichtsunterricht zu tun? Wir finden in diesem (Eintracht-)Braunschweig-Narrativ einen Erinnerungsort. Erinnerungsorte sind mit Bedeutung aufgeladene Bezugspunkte einer Gruppe mit einem Überschuss an symbolischer und emotionaler Dimension. Wobei „Ort“ metaphorisch gemeint ist. Das Konzept des Erinnerungsortes ist mehr als die Beschreibung, was an oder mit einem Ort vorgefallen ist. Es geht auch um seine Rezeption, Inanspruchnahme, Vereinnahmung und Interpretation, also um die Frage, durch wen, durch welche Gruppe, er im Laufe der Geschichte in Anspruch genommen wurde, unter Umständen auch von verschiedenen Gruppen und/oder immer wieder anders. An Erinnerungsorten treffen Geschichts-, Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen, Sachüberreste, Text- und Bildquellen sowie populäre und wissenschaftliche Darstellungen, manifestiert in vergangenen und gegenwärtigen Erzählungen wie in einem Brennglas aufeinander. Sind Erinnerungsorte dann nicht Agenturen des Geschichtsbewusstseins? Wäre es nicht lohnend, ihnen im Geschichtsunterricht einen größeren Stellenwert einzuräumen? Könnte die Befassung mit Erinnerungsorten nicht der Curriculumdiskussion neue Impulse geben, die erst vereinzelt wieder aufgenommen wird? Ich glaube, ja. Ich bin der Auffassung, wir finden in Erinnerungsorten, wenn sie auf lokale, regionale, nationale, europäische, außereuropäische (und globale?) Kollektive angewandt werden, ein heuristisches Mittel, um zu sagen, welche historischen Themen ein Kollektiv für relevant hält. Denn sie bilden die Basis für die Identitätskonstruktionen von Kollektiven. Für den Geschichtsunterricht hätte die Analyse von Erinnerungsorten den Vorteil, nicht einer normativen Identitätsvermittlung zu verfallen, sondern Identitätsbildung(en) selbst zum Gegenstand des Unterrichts zu machen.

 

Literatur

  • Bergmann, Klaus: Geschichtsunterricht und Identität, in: ders.: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2008, S. 90-99.
  • Cobet, Justus: Das europäische Narrativ. Ein Althistoriker blickt auf die Ordnung der Zeiten. In: Berg, Nicolas u.a. (Hrsg.): Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis, Göttingen 2011, S. 191-211.
  • François, Etienne: Auf der Suche nach den europäischen Erinnerungsorten, in: König, Helmut / Schmidt, Julia / Sicking, Manfred (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, S. 85-103.

Externer Link

 

Abbildungsnachweis
Fankurve der Eintracht Braunschweig im letzten Spiel der Saison 2012/13 gegen den FSV Frankfurt (2:2). © Chivista, Abbildung gemeinfrei.

Empfohlene Zitierweise
Bernhardt, Markus: Erinnerungsorte, Eintracht Braunschweig und der Geschichtsunterricht. In: Public History Weekly 1 (2013) 12, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-751.

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Scheinpluralismus. Oder: Wie ich mir einen Schulbuchbeitrag bastle

 

Das Herzstück deutscher Bildungspolitik ist der Pluralismus. Für das Fach Geschichte gibt es deshalb nicht ein Schulbuch, sondern 41.1 Ideale Voraussetzung für geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität – sollte man meinen. Doch weit gefehlt: bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Vielfalt als Scheinpluralismus.

 

Kuba-Krise oder Cuba Libre?

Es werden in den Büchern nicht nur die immer gleichen Bild- und Textquellen benutzt, sondern die Autorentexte folgen zumeist ein und demselben Narrativ, das im Grunde als „Meistererzählung“ charakterisiert werden kann. Die 60er Jahre feiern fröhliche Urständ. Ich will das an einem Beispiel zur Kuba-Krise erläutern. Bei einer Durchsicht der entsprechenden Schulbücher für beide Sekundarstufen des Landes Nordrhein-Westfalen sieht man, dass das Thema „Kuba-Krise“ üblicherweise in das Kapitel zum „Kalten Krieg“ eingegliedert wird und auf einer Schulbuchdoppelseite einen wenig komplexen Autorentext bietet, der die Kuba-Krise als Höhe- und Wendepunkt des Kalten Krieges verständlich macht. Die Auswahl der schriftlichen Quellen lässt sich fast ausschließlich auf die Fernsehansprache Kennedys und den Schriftwechsel zwischen Chruschtschow und Kennedy eingrenzen. Weiterhin befinden sich in fast allen Schulbüchern eine Karikatur mit Chruschtschow und Kennedy und eine Karte, welche die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba zeigt. In neueren Werken hat der Aspekt der Geschichtskultur über den Spielfilm „Thirteen Days“ (USA, 2000) Eingang in die Schulbuchkapitel gefunden.

Kennedys Heldenverehrung

Was machen die SchulbuchautorInnen aus diesen Zutaten? Sie verzichten auf die Vorgeschichte der sowjetischen Raketenstationierung und erzählen, wie Kennedy die Welt rettete. Kein Wort über den kubanischen Diktator Batista und seine Unterstützung durch die USA. Kein Wort über die kubanische Revolution und den folgenden Wirtschaftsboykott der Insel durch die USA. Keine Erwähnung der von der CIA gedeckten Invasion der Insel durch Exilkubaner in der Schweinebucht im Jahr 1961. Und – schlimmer noch – kein Wort über die bereits seit 1959 beginnende Stationierung von amerikanischen Atomraketen in Italien und in der Türkei, die Moskau locker erreichen konnten. Die Sowjetunion wird so zum unprovozierten Eindringling in den Vorgarten der USA, den Präsident Kennedy in einem wahren Heldenstück verteidigt und gleich die Demokratie und die westliche Welt mitrettet. Man muss die Politik von Fidel Castro – der übrigens in den Texten auch meistens nicht vorkommt – und des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow nicht bejubeln. Aber man kann versuchen, deren Intentionen und Handlungsoptionen zu verstehen. Stattdessen liefern die Bücher das Kalte-Krieg-Narrativ von den guten Amerikanern und den bösen Sowjets.

Quelle – passend gemacht

Die Quellen werden dazu passend gemacht: Kennedy siegt nach Punkten. Die Karikatur von Chruschtschow und Kennedy wird ausschließlich nach einem SPIEGEL-Artikel vom 7. November 1962 mit der Bildunterschrift „Einverstanden, Herr Präsident, wir wollen verhandeln …“, zitiert.2 Die Karikatur ist aber bereits am 29. Oktober 1962 in der englischen Tageszeitung Daily Mail erschienen, und zwar ohne Bildunterschrift.3 Chruschtschow hatte am 28. Oktober die amerikanischen Bedingungen zum Raketenabzug aus Kuba akzeptiert. Darauf nimmt die Karikatur Bezug, indem der Autor vielleicht sagen will, dass trotz des scheinbaren Endes der Kuba-Krise die nukleare Bedrohung andauern werde und die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit keineswegs ausgeschlossen sei.4 Die Bildunterschrift des SPIEGEL wird aber in den meisten Schulbüchern als „Originaluntertitel“ bezeichnet – weil das so gut zum Text über die Dramatik der Kuba-Krise passt! Das Ringen der beiden Kontrahenten auf der Karikatur wird in die „Thirteen Days“ (14.-28.10.1962) zurückverlegt. Hier findet nicht historische Rekonstruktion statt, sondern erinnerungskulturelle Remediation.

Wir wollen hören, was wir wissen

Bleibt die Frage: Warum ist das so? Oft wird behauptet, Schulbücher werden aus Schulbüchern abgeschrieben, die eine Geschichte wird perpetuiert. Das mag sein. Mir scheint aber eher, dass die Autorentexte ein geschichtspolitisch und erinnerungskulturell erwünschtes Narrativ produzieren, das von Politik, Gesellschaft und Verlagen getragen wird. Wahrscheinlich ist es genau diese Konstellation, der es bei Geschichte auf Genauigkeit und wissenschaftliche Redlichkeit nicht wirklich ankommt. Wir wissen ja schon aus dem Museum, dass sich die BesucherInnen gerne das bestätigen lassen, was sie ohnehin schon wissen. Das dürfte bei Schulbüchern nicht ganz anders sein.

 

 

Literatur
  • Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010.
  • Frankel, Max: High Noon in the Cold War. Kennedy, Khrushchev, and the Cuban Missile Crisis.
    New York 2004.
  • Kaufmann, Günter: Neue Bücher - alte Fehler. Zur Bildpräsentation in Schulgeschichtsbüchern.
    In: GWU 51 (2000), S. 68-87.
  • Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012.

Abbildungsnachweis

(c) L. G. Illingworth, Daily Mail v. 29. Oktober 1962, keine Bildunterschrift.

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