Zum vorangegangen Beitrag Wie Historizität von Medien und ihre Medialität in Konzepte zur Quellenanalyse einbinden? hier ein kurzes Beispiel, das die Unterschiede zu einer Quellenanalyse ohne die Reflexion auf die Kategorie “Historische Quelle als Medium” verdeutlichen soll. Das Foto Mobilmachung Truppentransport mit der Bahn, August 1914 (CC BY SA) steht prototypisch für zahlreiche Fotos begeisterter Soldaten, die in den Krieg ziehen:
In einer am Bildinhalt orientierten Analyse würde das Bild wohl vor allem dahingehend interpretiert werden, dass es zum Beginn des Ersten Weltkriegs verbreitete Kriegsbegeisterung gab, verknüpft mit der Erwartung eines schnellen Sieges über Frankreich.
Die – schülerverständliche – Analyse des Fotos als Medium soll in vier Schritten verdeutlichen, wie die Einbeziehung mediengeschichtlicher Aspekte zu einer anderen Interpretation führen kann. Die ersten beiden Schritte beschreiben die mediengeschichtlich bedingten Entstehungs- und Verbreitungsmöglichkeiten des Fotos.
Wesentlich zum Verstehen der Entstehungsmöglichkeiten ist, dass Fotografie 1914 technisch noch wesentlich komplizierter war als heute. Die Fototechnik erlaubte keine Schnappschüsse. Fotomotive mussten sorgfältig ausgewählt und in Szene gesetzt werden. Das Foto macht dies auf verschiedene Weise deutlich: Alle Soldaten schauen in die Kamera. Es sind auch keine anderen Menschen zu sehen, denen sie zujubeln. Die Gesten wirken zudem statisch. Schnelle Bewegungen hätten eventuell zu verwackelten Bildern geführt. Wahrscheinlich steht der Zug, obwohl das Bild suggerieren könnte, der Waggon wäre in Bewegung. Vor diesem Hintergrund lässt sich leichter erschließen, dass es sich um ein gestelltes Foto handelt, was durch (die mittels Wikipedia leicht zu recherchierende) Information, dass es sich bei Oscar Tellgmann um einen offiziellen Militärfotografen handelte, noch unterstützt wird.
Fotos konnten zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereits massenhaft verbreitet werden – allerdings noch gar nicht so lange. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Fotos in Illustrierten vervielfältigt, die damals sehr popuäre Massenmedien waren. Außerdem wurden während des Ersten Weltkriegs Fotos oft als Bildpostkarten gedruckt. Andere Möglichkeiten, sich solche aktuellen Bilder anzusehen, hatten die Menschen nicht. Tageszeitungen bestanden meist nur aus Texten. Vermutlich hatten einzelne Bilder deshalb eine viel größere Bedeutung und konnten viel größere Wirkung entfachen als heute.
Die beiden folgenden Analysekategorien zielen auf die Frage: “Machen” Medien (hier Fotos) Geschichte? Eine kurze Internetrecherche zum Stichwort “Illustierte 1914″ bringt zwar keine Verwendung des konkreten Fotos, allerdings zeigt das Beispiel Hamburger Fremdenblatt, dass das Motiv Begeisterte Soldaten im Zug 1914 in Illustrierten verbreitet wurde. Die Bildunterschrift “Nun wollen wir sie dreschen” verdeutlicht die propagandistische Absicht, die mit solchen Fotos erzielt werden sollte. Ob und wie diese Wirkung erreicht wurde, ließe sich nur mittels anderer Quellen erschließen. Erstens aber die bisherigen getroffenen Feststellungen der mediengeschichtlich bedingten Entstehungs- und Verbreitungsmöglichkeiten, dass es sich um “offizielle”, gestellte und inszenierte Fotos handelt, zweitens dass solche Fotos seinerzeit vermutlich große Wirkung entfachen konnten, legen auch ohne solche Zusatzquellen diesen Schluss nahe.
Fotos mit dem Motiv Begeisterte Soldaten im Zug sind im Zusammenhang Erster Weltkrieg und Augusterlebnis weithin bekannt. Sie werden oft – wie hier auf einer aktuellen Seite der bpb – zur Illustration der These verwendet: “Der Kriegsbeginn im August 1914 riss weite Teile der deutschen Bevölkerung mit”. Auch in Schulbüchern oder anderen populären, geschichtskulturell bedeutsamen historischen Darstellungen finden sich dieses oder ähnliche Fotos in ähnlichen Zusammenhängen.
Die Analyskategorie “Historische Quelle als Medium” führt also – anders als eine nur am Bildinhalt orientierte Analyse – erstens zu dem Schluss, dass das Foto vor allem ein verbreitetes, vermutlich wirksames Propagandamittel war – und kein unvermitteltes Abbild von Kriegsbegeisterung. Dies führt zweitens zu einer Kritik an seiner Verwendung in vielen historischen Darstellungen zum Augusterlebnis bis heute. Zugespitzt sitzen solche Darstellungen der Propagandaabsicht des Fotos noch heute auf.