Rezensieren als Prozess – Vom Ende des Einautorprinzips. Oder: Lobo und recensio.net

  In seiner jüngsten Kolumne führt Sascha Lobo das mit der Insolvenz der FR soeben manifest gewordene Zeitungssterben auf einen generellen Rezeptionswandel zurück. Seine Theorie ist spannend und leuchtet unmittelbar ein (wobei ebendies immer die Ahnung nährt, dass eine Sache ganz so einfach denn doch nicht zu fassen sein wird, aber wohl das berühmte Körnchen Wahrheit transportiert). Laut Lobo befinden wir uns mitten in einer „sich selbst prozessualisierenden“ Gesellschaft. An die Stelle von Ergebnissen, etwa in Form von Artikeln, Büchern o.ä. tritt der öffentlich gemachte Entscheidungs- und Entwicklungsprozess. Informationen verflüssigen sich, weil sie vor ihrer Publikation in keine Form mehr gegossen werden und fragmenthaft bleiben. Mikroblogging wird zum flexibelsten aller Nachrichtenkanäle: Wenn es politisch ernst wird, verlässt man sich auf Twitter. Dabei ist der Trend zur Prozessualisierung nicht neu: Früher sorgte das Aufkommen der Tageszeitungen für einen Quantensprung; Artikel konnten binnen 24 Stunden vor aller Augen beantwortet werden. Das Tempo digitaler Medien aber ist schlichtweg nicht mehr steigerbar – also stellt sich das System um. Nachrichten und Diskussionen werden zum Puzzle – und alle puzzeln mit. Veränderte Produktionsgewohnheiten ändern Rezeptionsgewohnheiten und vice versa – am Ende der Kette stehen die Kaufgewohnheiten. Soweit Lobos Kolumne, sehr frei zusammengefasst. Ich würde anfügen wollen, dass die beschriebene Entwicklung durch schwindendes Vertrauen in den „Experten“ beschleunigt wird. In den einen also, der ein Thema in einem dramaturgisch runden Artikel zur Gänze erfasst und zu objektivieren versteht. „Das Ende der Momentaufnahme“ stehe bevor, schreibt Lobo, und es lässt sich eventuell ergänzen, dass sich das nicht nur auf die zeitliche Dimension und das eben nicht mehr steigerbare Tempo bezieht, sondern auch auf die zwangsläufige Ausschnitthaftigkeit und Subjektivität des Einautorprinzips, dessen Akzeptanz schleichend zu Ende geht. Vorausgesetzt ist eine erhöhte Partizipationsbereitschaft beim Einzelnen, denn eine Synthese zu bilden aus all den verfügbaren Fragmenten, liegt anders als früher bei ihm, und je mehr das so ist, desto mehr wächst die Skepsis vor apodiktischen Aussagen (von Politikern, von Wissenschaftlern, vom Nachbarn). Spannend finde ich für unseren Zusammenhang – die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die RKB-Tagung im Speziellen – die Übertragbarkeit auf das Konzept von recensio.net. Fast kam in mir das Gefühl auf, endlich eine Erklärung für unsere vor Jahren gefällte Entscheidung zu haben. Die Entscheidung nämlich, die bislang meistenteils eindimensionale (geschichts-)wissenschaftliche Buchrezension aufzubrechen: Das Web 2.0-Konzept von recensio.net versucht, ergänzend zur klassischen Rezension ein kommentarbasiertes, „lebendiges“ Rezensionsverfahren in die Wissenschaft zu tragen. Das ist nichts anderes als die Prozessualisierung eines bislang statischen Textgenres, dem seine Statik von der Alternativlosigkeit des Papiers in die Wiege gelegt wurde, denn methodisch betrachtet ist wohl kaum ein anderes wissenschaftliches Textgenre so gut geeignet für Fragmentisierung und Prozessualisierung wie die Rezension: Ziel ist Meinungsbildung und  -austausch über Fachliteratur. Kommentare sind in diesem Fall nicht ergänzender Teil des Bewertungsverfahrens, sie SIND das Bewertungsverfahren, ganz in Lobos Sinne, der eben nicht die Kommentarspalte unter dem weiterhin klassischen Artikel als Ausdruck von Prozessualisierung sieht, sondern den Live-Ticker, der den Artikel ersetzt. Und noch viel weniger als bei Blogs scheint mir dabei die Kommentarfrequenz entscheidend, die hier zuletzt angeregt diskutiert wurde – als Qualität und Intention des Kommentars.  Geht es doch weniger darum, per Kommentar das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen, als die eigene Meinung in ein im besten Sinne demokratisches Kaleidoskop einander ergänzender Meinungen einzufügen. Und das Ganze reiht sich dann ein in die gesamtgesellschaftliche Neigung zur Prozessualisierung… Wieder Diskussionsstoff für Panel 3 der RKB-Tagung. Anmeldung läuft!    

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/349

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