LMU: „Gegen Prüfungsangst kann man viel machen“. Ursachen und Lernstrategien
Psychologie als SozialWissenschaft – wie Psychologen Erkenntnisse gewinnen
Jedes Fach hat seine Stereotype. Und auch wenn ich als Psychologe versucht bin darauf hinzuweisen, dass die Unterschiedlichkeit innerhalb von Gruppen im Vergleich zur Unterschiedlichkeit zwischen Gruppen in vielen Fällen größer ist als man meint, so ist es doch kaum bestreitbar, dass sich mir beim Betreten der Juristen-Mensa ein anderes Bild darbietet als beim Betreten der Philosophen-Mensa. Jedoch werden mir wohl viele PsychologInnen darin zustimmen, dass es kaum einen anderen (angestrebten) Berufsstand gibt, dessen Nennung von Anderen als derart intrusiv, als so unter die Haut gehend empfunden wird wie unserer. Der Satz “Ich bin Psychologe” scheint oft eine Art mentaler Nacktheit hervorzurufen; Menschen fühlen sich bis ins Innerste durchschaut und fangen an, ihr Verhalten doppelt und dreifach zu hinterfragen. Es hilft dabei nicht, wenn in Filmen eine gründliche psychologische Untersuchung ausreicht, um das Verhalten eines Menschen in belastenden Situationen punktgenau vorherzusagen (wie z. B. in ‘The Game’).
Psychologie ist die Lehre vom Erleben und Verhalten. Sie beschäftigt sich mit innerpsychischen Vorgängen. Dazu gehören körperliche, geistige und emotionale Prozesse. Sie untersucht Unterschiede zwischen Menschen auf jeder dieser Ebenen. Und sie erforscht die Wechselwirkungen von Individuum und Umgebung – Beziehungen, Gruppenprozesse, Mensch-Maschine-Interaktion und vieles mehr. Die zeitliche und räumliche Auflösung rangiert dabei von internationalen Langzeitstudien über die gesamte Lebensspanne bis hin zu im Labor dokumentierten biologischen Ereignissen, die nur winzige Sekundenbruchteile in Anspruch nehmen. So breitgefächert das Fach ist, so vielfältig sind auch die psychologischen Berufe. Psychologen sind in Beratungsstellen und Kliniken, in der Uni und im Labor, vor dem PC mit einem Statistikproblem, in der Schule als Fortbildungsleiter, in der Wirtschaft als Personalmanager, in der Marktforschung und als Werbefachmann, im Gerichtssaal und im Maßregelvollzug sowie als Testentwickler und -anwender tätig. Gemeinsam ist all diesen Menschen nur eins: das Studium der Psychologie.
Und durch diese akademische Ausbildung zieht sich der rote Faden der Wissenschaftlichkeit. Mit derselben rigorosen Methodik, die Physiker auf die Erforschung von Naturphänomenen anwenden, erkunden Psychologen alles Menschliche. Ob der Forschungsgegenstand die Liebe ist, das lebenslange Lernen oder der Wertewandel nach der Einführung von Smartphones – grundlegend ist die Fähigkeit, auf interessante Fragen sinnvolle Antworten zu finden. Da die Welt voller wundersamer Komplexität ist und wir Menschen vor Neugier nur so überquellen, gibt es interessante Fragen wie Sand am Meer. Bei der Entscheidung, welche Antworten sinnvoll sind und welche nicht, legen Psychologen die Kriterien an, die in der wissenschaftlichen Methode beschrieben sind. Diese Kriterien unterscheiden sich kaum von denen, die wir auch im Alltag verwenden, wenn wir etwas herausfinden wollen, mit einer Ausnahme: Im Alltag sind wir nicht nur darauf bedacht, die Welt so gut wie möglich zu verstehen, sondern wir wollen uns auch gut fühlen und unser Selbstbild bewahren. Und manchmal triumphiert unser Bedürfnis nach Selbstwert über unsere Neugier und wir behalten auch im Angesicht guter Hinweise für eine schlüssigere Alternative eine überholte, aber bequemere Sicht der Dinge bei. Wissenschaft lässt sich verstehen als der gesellschaftliche Zweig, der sich der Neugier verschrieben hat und ‘um jeden Preis’ rauskriegen will, wie die Welt tatsächlich beschaffen ist.
Als sinnvoll betrachten Wissenschaftler solche Aussagen über die Welt, die Ergebnis eines Prozesses sind, der auf den Prinzipien der Logik, der Systematik und der Falsifikation beruht. Kurze Randnotiz: Ungeachtet der Prinzipien und ihrer Bedeutung ist es allein schon eine kulturelle Errungenschaft, sich bei der Beurteilung von Aussagen den dahinterstehenden Prozess anzusehen. Der Schritt von der Frage “Wer hat das gesagt?” hin zu der Frage “Wie kommt dieser Jemand dazu, das zu sagen?” ist ein Schritt weg von Autoritätshörigkeit und hin zu einer differenzierteren Weltsicht. Dieser Perspektivwechsel hat in der Aussagepsychologie bspw. dazu geführt, dass heute nicht mehr wie früher die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit einzelner Aussagen untersucht wird. Die Worte eines Arztes oder Polizisten haben somit vor Gericht nicht von vornherein ein größeres Gewicht als die Worte eines heroinabhängigen Obdachlosen.
Logik
Logik beschäftigt sich mit Schlussfolgerungen. Beispiel:
Wenn es regnet, ist die Straße nass.
Die Straße ist nass.
Kann ich daraus schließen, dass es regnet?
Nein, denn es kann ja auch sein, dass die Kinder von nebenan mit dem Gartenschlauch spielen oder dass es gestern geschneit hat und heute wieder wärmer ist oder dass eine Kuhherde sich auf der Straße erleichtert hat. Aber was ist mit der nächsten Schlussfolgerung:
Nur dann, wenn es regnet, ist die Straße nass.
Die Straße ist nass.
Kann ich nun schließen, dass es regnet?
Ja. Ich weiß zwar immer noch, dass Straßennässe auch andere Ursachen haben kann als Regen, aber für die Beurteilung der Schlossfolgerung brauche ich ausschließlich die beiden Sätze und kein inhaltliches Hintergrundwissen zu Regen, Nässe und Straßen. Tatsächlich ist es ebendieses Hintergrundwissen, diese assoziative Fülle von Begrifflichkeiten, die eine Beschäftigung mit der formalen Logik erst notwendig macht. Hier noch ein drittes Beispiel, das die Entkoppelung vom Inhalt noch deutlicher macht:
Einige Frauen sind Männer.
Einige Männer haben Milchdrüsen.
Kann ich schlussfolgern, dass einige Frauen Milchdrüsen haben?
Die Antwort ist nein. Und der springende Punkt ist, dass wir es gewohnt sind, neben einem gewissen Maß an logischer Stimmigkeit auch unser alltägliches Hintergrundwissen bei der Beurteilung von Aussagen mit hineinspielen zu lassen. Und dieses Hintergrundwissen besteht nicht nur aus gut begründeten, empirisch prüfbaren Fakten, sondern auch aus unreflektierten dogmatischen Weltanschauungen. Dies trifft in besonderem Maße auf die Psychologie zu, weil jeder Mensch eine über das Leben gewachsene Meinung dazu hat, wie seine eigene Psyche funktioniert, welche Gesetzmäßigkeiten das soziale Miteinander ausmachen und wie andere Menschen ticken. Als Forscher darf ich jedoch nur den Teil meines Hintergrundwissens verwenden, den jeder Interessierte überprüfen kann. Somit erfordert der wissenschaftliche Erkenntnisgewinnungsprozess bei jedem gedanklichen Schritt erneut eine Überwindung meiner egozentrischen Perspektive und eine Rückbesinnung darauf, was die Realität tatsächlich hergibt und was ich daraus mit Sicherheit schließen kann.
Systematik
Systematik meint im Gegensatz zu wildem Rumstochern das gezielte Beobachten. Wenn ich bspw. mein Handy verloren habe, suche ich nicht wahllos die ganze Stadt ab, sondern überlege, wann ich es zuletzt in der Hand hatte und wo ich seitdem gewesen bin. Ich grenze die Suche stark ein, so dass ich am Ende ganz gezielt zuerst einen Freund anrufe und frage, ob er mal auf der rechten Hälfte seiner Wohnzimmercouch nachsehen kann und, falls er nichts entdeckt, das Fundbüro der Bibliothek kontaktiere. Systematisch vorzugehen bedeutet außerdem, alle Alternativerklärungen im Blick zu haben. Eine Zeugenaussage z. B. kann nicht nur entweder wahr oder gelogen sein. Sie kann auch durch Autosuggestion (sich selbst etwas einreden) oder Fremdsuggestion (z. B. Suggestivfragen) entstanden sein.
Falsifikation
Falsifikation ist dasjenige der drei Prinzipien, das einen stetigen Kontakt zur Realität gebietet. Es kann auch solche Gedankengebilde/Theorien geben, die in sich logisch und systematisch aufgebaut sind und die gleichzeitig jedoch keinerlei Bezug zu einer Wirklichkeit haben, an der mehrere Menschen teilhaben können. Solchen Luftschlössern wohnt eine Eigenschaft inne, die allen Theorien fehlt, mit denen Wissenschaftler sich beschäftigen: Sie können nicht widerlegt werden. Die Abbildung unten zeigt ein erfundenes Beispiel für eine schlechte Theorie, in der jede Kindheitserfahrung zu einer Neurose führen kann, die sich wiederum in ganz unterschiedlichen Formen manifestieren kann. Wenn alles mit allem erklärt werden kann, hat man nichts gewonnen. Gute Theorien unterstellen (“Hypothese” wörtlich) der Wirklichkeit konkrete Funktionsweisen oder Zusammenhänge. Je präziser die Vorhersagen sind, die sich aus ihr ableiten lassen, umso brauchbarer ist die Theorie, denn präzise Prognosen lassen sich leicht überprüfen.
Falsifikation bedeutet nun, dass Wissenschaftler stets auf der Suche nach Hinweisen sind, die Modelle von der Welt als falsch entlarven. Sie schauen sich eine Theorie genau an und sagen dann: “Ok. Wenn es stimmt, dass Raben schwarz sind, dann müsste ich ja, wenn ich in der Stadt einem Raben begegne, sehen können, dass er schwarz ist.” Wenn eine theoriegeleitete, gezielte Beobachtung nicht mit der Vorhersage übereinstimmt, wird die Theorie verworfen. Wenn das Vorhergesagte sich tatsächlich beobachten lässt, ist die Theorie jedoch noch immer nicht ‘wahr’. Wahr wäre die Raben-sind-schwarz-Hypothese nur dann, wenn wir alle Raben im gesamten Universum beobachten würden und sie allesamt schwarz wären. Das ist leider wenig praktikabel. Statt dessen führt die Suche nach Beweisen dafür, dass Theorien falsch sind, zu einem Prozess des Aussiebens, in dem schlechte Theorien ausgesondert werden und in dem diejenigen Modelle übrig bleiben, die zwar auch nicht ‘richtig’, aber dennoch so nah an der Realität sind wie heute möglich. Diese der Überprüfung standhaltenden Modelle beschreiben die Welt dann in der Regel so zutreffend, dass wir sie benutzen können, um uns das Leben zu erleichtern, z. B. in Form neuer Technologien oder effizienterer Heilmethoden.
Fazit
Psychologen – fernab jeder gedankenlesenden oder sonstigen übernatürlichen menschenkennenden Unternehmung – beschäftigen sich mit dem Erleben und Verhalten von Lebewesen. Neue Erkenntnisse über die psychische Welt erlangen sie auf wissenschaftliche Art und Weise, d. h. sie stellen schlüssige Vermutungen über Gesetzmäßigkeiten an und unterziehen diese dann einer Reihe von systematischen Realitäts-Checks.
Quelle: http://psych.hypotheses.org/96
Anlage-Umwelt-Debatte
“Du hast die Nase Deines Vaters.” Ein ganz normaler Satz, dessen Inhalt heute ebenso wie in vorwissenschaftlichen Zeiten einen Einfluss der Eltern auf ihre Kinder anerkennt, der nicht auf den Erziehungsstil zurückgeführt werden kann. Wir wissen seit langem, dass wir mit den Karten, die bereits vor unserer Geburt ausgeteilt werden, unser Leben lang spielen werden. Es würde die meisten doch sehr überraschen, wenn ein buddhistischer Koch und eine christliche Vermessungstechnikerin einen Koalabären zur Welt bringen würden. Und gleichzeitig ist uns klar, dass wir mehr oder weniger aus diesem Blatt machen können. Es würde uns wahrscheinlich Kopfschmerzen bereiten, wenn ein brutaler Mörder einen Freispruch erhielte mit Verweis auf den Genort Xq11-12 des X-Chromosoms, der irgendwie mit Testosteron zusammenhängt, welches wiederum irgendwas mit Aggression zu tun hat.
Weniger (selbst)verständlich werden die Antworten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit weg von den Extremen – der einzelnen Handlung auf der einen und der über die gesamte Lebensspanne hinweg stabilen Eigenschaft auf der anderen Seite – hin zu einem mittleren Niveau lenken und hier die gleichen Fragen stellen: Meine Freundin ist besser als ich in Mathe; mein Kollege redet viel, fühlt sich auf Parties pudelwohl und hat zu Hause immer den Fernseher im Hintergrund laufen, ich gehe gern allein im Wald spazieren; Du trinkst Kaffee, ich trinke Tee – wie kommt das? Sind da die Gene am Werk in der Art eines Bauplans, in dem ich mit meinem einzigartigen Eigenschaftenmix von Anfang an vorprogrammiert war? Oder ist es meine Umwelt (Freunde und Familie, Sportverein, die Luft, die ich atme), die seit dem Moment meiner Entstehung meinem anfangs formlosen Selbst mit Lebenserfahrungen Konturen verleiht? Oder – und hier verlassen wir den Bereich des Simplistischen – ist es ein Zusammenspiel von beidem?
Mit solchen Fragen beschäftigen sich unter anderem Psychologen, genauer gesagt gehören sie in die biologische Psychologie oder in die Persönlichkeitspsychologie. Und es mangelt auch nicht an Antworten. Viele Studien finden Zusammenhänge zwischen bestimmten Genausprägungen und komplexen Konstrukten wie Extraversion oder Suchtrisiko. Aber bei dem Versuch, diese Antworten zu deuten, stößt das Alltagsdenken oft an seine Grenzen. “Wenn Intelligenz zu 50% erblich ist, dann muss das doch heißen, dass ich nur auf eine Hälfte meiner kognitiven Fähigkeiten Einfluss nehmen kann. Oder?” Und auf der anderen Seite hadern Wissenschaftler damit, dass ihre wertvolle Forschung so wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt. Experten sind oft geplagt vom ‘Fluch des Wissens’, d. h. sie können sich nur schwer vorstellen, wie es jemandem geht, der sich auf ihrem Fachgebiet nicht gut auskennt.
Was bedeutet es nun tatsächlich, dass Intelligenz eine Erblichkeit von 50% hat, und was bedeutet es nicht? Und was ist der praktische Wert der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Gen CRHR1 und dem Suchtverhalten von Menschen, was lässt sich mit sowas in der ‘echten Welt’ anfangen?
Von Zwillingen und Adoptionen
Um bei dieser alten Frage, ob die Veranlagungen oder die Lebensumgebung schwerer wiegen, mitreden zu können, ist es hilfreich sich (zumindest gedanklich) auf mögliche Wege zu ihrer Beantwortung zu begeben. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die weite Verbreitung von Studien mit genetischen Markern und Knockout-Mäusen – dies sind relativ junge Entwicklungen, beruhend auf hochentwickelten Methoden, die auf tiefes Hintergrundwissen zurückgreifen. Untersuchungen zur Erblichkeit lassen sich jedoch auch mit herkömmlichen Mitteln und ganz wenigen Vorkenntnissen anstellen. Man braucht lediglich ein Messinstrument, z. B. einen IQ-Test, und den Wissensschnipsel, dass eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, also 100% ihres Genmaterials gemeinsam haben, während zweieiige Zwillinge (und auch sonstige Geschwister) genau 50% ihres Genmaterials teilen. Mit diesen zwei Bausteinen kann jeder, der Zeit und Lust hat, Studien zur Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften entwerfen und so der Frage nach Anlage und Umwelt nachgehen. Außerdem lässt sich auf dieser Basis viel von dem nachvollziehen, was Psychologen in den letzten hundert Jahren so getrieben haben:
Nehmen wir an, Lisa und Betti sind eineiige Zwillinge. Durch eine Verkettung teils unglücklicher und teils seltsamer Umstände wurden sie bald nach ihrer Geburt getrennt. Lisa landete in Schottland, wo sie nahe der Ostküste als einziges Kind eines Künstlerpaares aufwuchs. Betti hingegen verschlug es in die Ukraine, wo sie zusammen mit ihren fünf Adoptivgeschwistern oft im Restaurant ihrer Adoptiveltern aushalf. Im Alter von fünfzehn Jahren werden beide von einer Forschergruppe kontaktiert und füllen einen Intelligenztest aus. Die Forscher gehen vielen solcher Fällen nach und vergleichen jedesmal die IQ-Werte der getrennt lebenden Zwillingsgeschwister. Sie stellen fest, dass die Werte nicht immer, aber doch sehr oft nah beieinander liegen, obwohl das familiäre, schulische und landschaftliche Umfeld der Zwillinge sich mitunter stark unterscheidet. Die Wissenschaftler erklären sich dieses Phänomen mit dem genetischen Einfluss, denn sie finden keinen anderen Grund dafür, dass die kognitiven Leistungen der Zwillinge sich ähnlich entwickeln sollten. Aber um sicher zu gehen, fangen sie das ganze Prozedere nochmal von vorne an. Diesmal jedoch knöpfen sie sich zweieiige Zwillinge vor, die bei der Geburt getrennt wurden. Denn wenn da wirklich die Gene am Werke sind, dann sollten die IQ-Werte der zweieiigen Zwillinge sich genau halb so ähnlich sein wie die der eineiigen Zwillinge, weil die genetische Gleichheit ja auch genau halb so groß ist. Und tatsächlich bestätigt sich diese Vermutung: Die zu 50% genetisch gleichen Geschwister sind im Durchschnitt ähnlich klug, aber der Effekt ist nur ungefähr halb so stark wie bei den zu 100% genetisch gleichen Geschwistern.
Nicht alle Schicksale sind so auseinandertreibend wie die von Betti und Lisa. Die meisten Kinder werden von ihren biologischen Eltern großgezogen. In diesem Falle teilen sie nicht nur ihr Genmaterial, sondern auch einen Großteil ihrer Umwelt. Das ist übrigens eine der Grundannahmen der Zwillings- und Adoptionsforschung: dass die Familie einen großen Teil der Umgebung von Kindern und Jugendlichen ausmacht. Darum nehmen die Forscher auch lieber zweieiige Zwillinge als Vergleichsgruppe. Denn obwohl normale Geschwister ebenso 50% ihrer Gene gemeinsam haben, sind sie zu verschiedenen Zeiten geboren und das familiäre Umfeld, in das das zweite Kind hineingeboren wird, unterscheidet sich von dem, in das das erste Kind hineingeboren wurde (nicht zuletzt dadurch, dass es bereits ein großes Geschwisterkind gibt). Bei zweieiigen Zwillingen trifft aufgrund ihrer relativ synchronen Uterusentschlüpfung die Annahme der gleichen Umwelt eher zu.
Die bunten Balken veranschaulichen mögliche Ergebnisse solcher ‚Zwillingsforschung mit geteilter Umwelt’. Die Höhe der Balken gibt Auskunft über die Ähnlichkeit von Zwillingspaaren. Wenn die IQ-Werte der Geschwister im Durchschnitt nah beieinander liegen, ist der Balken hoch. Wenn die Intelligenzquotienten der Geschwister nichts miteinander zu tun haben, ist er niedrig. So können wir schon mal ablesen, dass eineiige Zwillinge sich im Durchschnitt ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge, die sich wiederum ähnlicher sind als Adoptivgeschwister. Die Gene spielen also bei allen der drei abgebildeten Eigenschaften eine Rolle. Welcher Anteil der Balkenhöhe, also der Zwillingsähnlichkeit, ist nun erblich und wieviel davon lässt sich auf die Familie zurückführen? Eine Möglichkeit, den Umwelteinfluss zu bestimmen, ist, ihn von den blauen Balken abzulesen. Adoptivgeschwister teilen keinerlei Gene, darum muss jede Ähnlichkeit zwischen ihnen auf nichtgenetischen Faktoren beruhen. Eigenschaft A ist sehr stark durch die Umwelt beeinflusst. Die Eigenschaften B und C nicht so sehr. Die Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge setzt sich aus dem genetischen Einfluss + dem Familieneinfluss zusammen. Wenn wir jetzt den Familieneinfluss abziehen, bleibt der Anlageneffekt übrig. Roter Balken – blauer Balken = genetisch bedingte Ähnlichkeit. Die Eigenschaften A und C sind nur sehr wenig erblich. Eigenschaft C ist aber im Gegensatz zur Eigenschaft A auch kaum von der Familie beeinflusst. Hier müssen also andere Faktoren maßgeblich beteiligt sein, z. B. Schule, Freunde, Sportverein. Eigenschaft B ist wenig vom familiären Umfeld und stark von den Genen geprägt – so ungefähr würde sich das entsprechende Balkendiagramm für Intelligenz darstellen.
Nach einigen Monaten, viel Arbeit und mit der neu erlernten Fähigkeit, eineiige Zwillinge auseinanderhalten zu können, stehen die Forscher mit verschiedenen Messergebnissen für die Erblichkeit von Intelligenz da. Die Werte befinden sich alle in der Nähe von 50%. Und da die Wege zu den Antworten ganz unterschiedlich waren (es sieht aus wie Schokolade, es riecht wie Schokolade, es schmeckt wie Schokolade), können die Wissenschaftler auch mit gewisser Zuversicht sagen, dass dieser Wert stimmt. Toll!
Und jetzt?
Meta-Punkt 1: Wer ist eigentlich dieser Durchschnitt?
Wie so oft in der psychologischen Forschung haben wir es nun mit einer einzigen Zahl zu tun, die eine Gruppe beschreibt und die in der Anwendung letztlich dem Einzelnen zugute kommen soll. Genau gesagt bedeuten diese 50% Erblichkeit, dass wir höchstwahrscheinlich weniger Fehler machen, wenn wir die IQ-Werte eineiiger Zwillinge mit den IQ-Werten ihrer Zwillingsgeschwister schätzen, als wenn wir den allgemeinen Durchschnitt für die Schätzung verwenden. “Die Varianz der Intelligenz lässt sich zu 50% mit genetischen Unterschieden erklären” heißt das Ergebnis im Fachjargon. ‘Varianz’, ‘weniger Fehler’ – Ausdrücke, die umso weniger verlässlich sind, je kleiner die Gruppe ist, auf die sie angewendet werden. Und am einzelnen Fall zerschellen die Quantifizierungsversuche schließlich ganz.
Die blauen Punkte zeigen beispielhaft IQ-Werte von 22 eineiigen Zwillingspaaren. Links ist der IQ des einen, unten der des anderen Zwillings abgetragen. Die grüne Linie ist die Vorhersage der Psychologen. Man beachte, dass sie für keinen der eingetragenen Fälle zutrifft. Aussagen zur Erblichkeit sind nicht eins zu eins in die individuelle Sphäre übertragbar. Ich brauche also nicht alle Hoffnung auf geistige Höhenflüge fahren zu lassen, bloß weil ich meinen (biologischen) Eltern beim Kreuzworträtseln zugeguckt habe. Andererseits liegen die meisten Punkte ziemlich nah bei der Linie. Wenn ich meine Zukunft realistisch einzuschätzen versuche, ist es nicht unklug, meine Verwandten als Basis meiner Erwartungen mitzudenken. Der Apfel fällt nicht oft in Alaska.
Meta-Punkt 2: Das ‘gemäßigte-Breitengrade’-Paradigma
Die meiste sozialwissenschaftliche Forschung findet innerhalb desselben gesellschaftlichen Rahmens statt, den sie zu erhellen trachtet. Und je mehr dieser Rahmen sich verändert, umso mehr verlieren die alten Ergebnisse an Gehalt. Stellen wir uns z. B. vor, dass Lisa und Betti nicht nur bei ihrer Geburt getrennt wurden, sondern dass Betti darüberhinaus im Alter von sieben Jahren tödlich verunglückt ist. Tot zu sein wirkt sich meistens nicht vorteilhaft auf das Ausfüllen eines Intelligenztests aus. Müsste ihr Wert nicht eigentlich mit 0 in die Berechnungen eingehen und der IQ-Abfall als Umwelteinfluss gedeutet werden? Anderes Beispiel: Die Chorea Huntington ist eine fiese Krankheit, die von psychischen Beschwerden über Bewegungsstörungen bis hin zur Demenz heranwächst und im Durchschnitt 15 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome mit dem Tod des Betroffenen endet. Etwas Besonderes an dieser Krankheit ist, dass sie 100%ig erblich ist und durch ein einziges Gen verursacht wird. Wer das Gen hat, wird früher oder später krank. Wer es nicht hat, wird nicht krank. Heute gibt es keine Heilung. Aber denken wir hundert Jahre voraus und stellen uns vor, im Vereinigten Europa des frühen 22. Jahrhunderts ist sie heilbar. Was ist in der Zwischenzeit mit der 100%igen Erblichkeit der Symptome passiert?
Forschungsergebnisse sind nicht statisch. Es ist nicht so, dass wir nach unserem Ausflug in die Erblichkeit der Intelligenz den Wert 50% in eine Steintafel einritzen und im Keller aufbewahren können, um diese Weisheit für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Als dynamischer Teil der Gesellschaft sollten wissenschaftliche Erkenntnisse für das (Zusammen)Leben relevant sein. Wenn wir wissen, dass Menschen mit einer bestimmten Ausprägung auf dem Gen CRHR1 eher zu Suchtverhalten neigen, können wir z. B. Interventionsmaßnahmen für Jugendliche besser auf diejenigen ausrichten, denen sie von Nutzen sein können. Gleichzeitig darf Forschung nicht trivial sein, also etwas bereits Bekanntes thematisieren. Herauszufinden, dass die meisten Unterschiede zwischen Menschen und Koalabären auf genetische Faktoren zurückzuführen sind, bringt einfach nicht weiter. Und drittens können Studienergebnisse umso mehr Menschen zugute kommen, je weiter der Rahmen ist, in dem sie gelten. Die Grundmechanismen des Lernens sind bei allen lebenden Organismen gleich; ob das Antwortformat eines Logiktests einen Einfluss auf die Selbsteinschätzungen bzgl. der eigenen Leistung im Test hat, ist hingegen nur für wenige Menschen interessant.
Wenn wir uns mit Psychologie beschäftigen, ist es gut im Kopf zu behalten, dass ein Großteil der Erkenntnisse nur für psychisch ‘gemäßigte Breitengrade’ stimmen und dass in extremen Situationen, z. B. in Kriegsgebieten oder in Armut, ganz andere Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge wirksam sind als in unseren Wohlstandsgesellschaften.
Fazit
Gene und Lebensumgebung formen jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit. Und während unser Nichtkoalabärentum uns ein Leben lang erhalten bleibt, ist keine einzelne, spezifische Handlung genetisch determiniert. Interessant sind Fragen auf einem mittleren Abstraktionsniveau: Wie spielen Anlage und Umwelt bei Eigenschaften wie Extraversion, Intelligenz oder Suchtrisiko zusammen? Um solchen Fragen nachzugehen, bietet sich eine Kollaboration mit Zwillingen und Adoptionsfamilien an, weil sich so die gesamte Spannbreite von genetischen und Umgebungsfaktoren untersuchen lässt, von 0 zu 100%iger genetischer Gleichheit und von gleichen zu sehr unterschiedlichen familiären Settings.
Die sich ergebenden Erblichkeitsschätzungen sind jedoch keine statischen Größen. Statt dessen lassen sie sich als eine Art Gesellschaftsdiagnose verstehen, die helfen kann, Lebensumwelten besser an die Dispositionen ihrer Bewohner maßzuschneidern.
Quelle: http://psych.hypotheses.org/26